Neue Studie kritisiert die Praxis

Luzerner Polizei behält immer mehr Menschen im Auge – weil sie als gefährlich gelten

Algorithmen sollen den Polizeikorps helfen, gefährliche Menschen frühzeitig zu erkennen – doch wie sie funktionieren, ist ein Geheimnis. (Bild: Pixabay)

Das kantonale Bedrohungsmanagement soll dazu dienen, schwere Gewalttaten zu verhindern. Aus Sicht der Schweizer Polizeikorps bewähren sich die darin enthaltenen Massnahmen. Die Umsetzung ist aber rechtsstaatlich bedenklich, wie eine neue Studie zeigt.

Wie viel von dem, was sich die Macher von «Minority Report» vor zwanzig Jahren ausgedacht haben, ist inzwischen Wirklichkeit? Diese Frage stellt die «Republik» in einem aktuellen Artikel – und nimmt dabei Bezug auf eigene Recherchen sowie eine neue Studie der Universität St. Gallen.

In dem 2002 erschienenen Film leitet ein von Tom Cruise gespielter Polizist eine Abteilung, die auf die Festnahme zukünftiger Mörder spezialisiert ist. Ein intelligentes Computersystem ermöglicht einen Blick in die Zukunft – was der Polizei erlaubt, Morde zu verhindern.

Die Zahl der Überwachten steigt

Ganz so ausgeklügelt sind die Systeme heute noch nicht. Die Schweiz ist im deutsch­sprachigen Raum gemäss dem Artikel aber eine «Pionierin für Predictive Policing». Immer mehr sogenannte «Gefährder» würden in Daten­banken erfasst, in der eigenen Wohnung aufgesucht, angesprochen, beobachtet und überwacht.

Die Strafrechtsexpertin Monika Simmler, welche die erwähnte Studie geleitet hat, findet das problematisch. «Dass Algorithmen Bürger zu Gefährdern machen, ist bedenklich», wird sie in der «Republik» zitiert. Ihre Forschung zeige, dass die Programme das Risiko von Gefährderinnen systematisch überschätzten. Das heisst: Es werden auch Menschen unter Beobachtung gestellt, von denen gar keine Gefahr ausgeht.

Besonders hervorgehoben wird im Bericht der Kanton Luzern. Während in Solothurn – wo das erste Bedrohungsmanagement eingeführt wurde – Ende 2019 ganze 132 Personen als «Gefährder» registriert waren, waren es in Luzern diesen Sommer bereits 458.

Auf Nachfrage von zentralplus bestätigt die Luzerner Polizei, dass die Zahl der erfassten Personen seit der Einführung des kantonalen Bedrohungsmanagement stetig ansteigt.

Waren in der Gefährderdatenbank Ende 2017 noch 352 Personen verzeichnet, so waren es im August 2020 bereits 458. Welchen Grund hat das? «Die Disziplin des Bedrohungsmanagements ist bei der Luzerner Polizei noch eine junge», sagt dazu Polizeisprecher Christian Bertschi auf Anfrage. «Die Zunahme erklären wir uns dadurch, dass es zuerst eine Bekanntheit benötigte, um dem Bedrohungsmanagement der Luzerner Polizei auch die Fälle zu melden.»

Der grösste Anteil werde durch gewaltbetroffene Personen selbst gemeldet, gefolgt von Meldungen durch Institutionen oder Behörden. Die Betroffenen wissen aber oft gar nicht, welche heiklen Personendaten über sie gesammelt werden, wie eigene Recherchen zeigen.

Behörden geben sich verschwiegen

Zentralplus hat mit zwei Personen gesprochen, die mit dem kantonalen Bedrohungsmanagement in Berührung kamen. Beide stellten ein Gesuch um Einsichtnahme in die über sie geführten Akten ­– nachdem sie mehr oder weniger zufällig erfahren hatten, dass solche existieren könnten.

In einem Fall wurde dem Betroffenen lediglich bestätigt, dass eine Behörde beim kantonalen Bedrohungsmanagement eine Meldung über ihn gemacht habe. Weitere Auskünfte seien ihm aufgrund eines laufenden Verfahrens verweigert worden, wie er sagt.

Einem zweiten Betroffenen wurde nach mehrmaligem Nachfragen ebenfalls bestätigt, dass eine Behörde das Bedrohungsmanagement eingeschaltet habe. Man habe eine Gefährdungseinschätzung gemacht und die Behörde im Umgang mit ihm beraten. Weitere Auskünfte wurden auch hier nicht erteilt – mit dem Hinweis, dass der Kanton Luzern das Öffentlichkeitsprinzip nicht kenne.

Immerhin wurde dem Betroffenen im zweiten Fall attestiert, dass man nicht davon ausgehe, dass er ein Sicherheitsrisiko sei. Heisst das, er wurde von der Liste gestrichen? Oder war er gar nie drauf? Er hat es nie erfahren. Zurück blieb ein mulmiges Gefühl und ein Misstrauen gegenüber den Behörden.

Die Tools sind eine Blackbox

Die Luzerner Polizei setzt bei ihrer Risikoabwägung unter anderem auf das System Dyrias (Dynamische Risiko-Analyse-Systeme). Es berechnet das Gefährdungsrisiko aufgrund eines Fragen­katalogs, der verschiedene Bereiche wie Arbeits­platz, Schule, Partner umfasst.

Man stützte sich aber nicht allein darauf ab, betont Sprecher Christian Bertschi in der «Republik»: «Die Tools sind ein elektronisches Instrument, das uns eine gewisse Sicherheit gibt, eine Art ‹Fieber messen› und allenfalls Unter­stützung in gewissen Entscheidungen geben kann.»

Die Studie der Universität St. Gallen kritisiert, dass es keine öffentliche Debatte über die verwendeten Programme und auch keine Regulierungen gibt. Und nur wenige der Tools seien von unabhängiger Seite evaluiert worden. Für viele Polizistinnen sei gar nicht nachvollziehbar, wie die Programme funktionieren. Die Algorithmen seien Geschäfts­geheimnis der Anbieter und die Daten lägen teilweise auf Servern im Ausland.

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3 Kommentare
  • Profilfoto von john doe
    john doe, 13.12.2020, 11:31 Uhr

    Illegal ist nur das, was Private tun. (Grundlagen des öffentlichen Rechts, 1. Semester)

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  • Profilfoto von estermap
    estermap, 13.12.2020, 06:46 Uhr

    «…wurde er von der Liste gestrichen? Oder war er gar nie drauf? Er hat es nie erfahren.»
    Wer kritsch an einen Beamten mit dünner Haut gelangt, riskiert, dass dieser eine Anfrage platziert, von der der Betroffene nichts erfährt. Auch wenn diese negativ ist, ist er registriert; eben als «Potenzieller».
    «Zurück blieb ein mulmiges Gefühl und ein Misstrauen gegenüber den Behörden.»

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  • Profilfoto von Joseph de Mol
    Joseph de Mol, 12.12.2020, 20:46 Uhr

    Der Film «Minority Report» basiert auf dem gleichnamigen Buch von Philip K. Dick aus dem Jahr 1956!! Er hat sich die Geschichte also bereits vor 70 Jahren ausgedacht, nicht die Macher des Filmes!

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