Das traurige Ende von Anita's Kiosk

Luzerner Kioskfrau muss nach 18 Jahren aufgeben

Nach beinahe 20 Jahren ist aus gesundheitlichen Gründen Schluss mit dem Kiosk an der Bleicherstrasse.

(Bild: gwa)

In der Bleicherstrasse geht eine Ära zu Ende: Anita Bitschin gibt nach 18 Jahren ihr verrauchtes Universum auf. Seit sie ihren Kiosk in der Neustadt betreibt, ist sie weder in die Ferien gegangen noch verliess sie regelmässig ihr kleines Reich. Diesen bedingungslosen Einsatz bezahlt die 60-Jährige nun mit ihrer Gesundheit.

«Ich kann nicht einmal mehr diesen Zeitungsbündel tragen. Stattdessen warte ich auf meinen Partner, bis er mir helfen kommt», erklärt Anita Bitschin mit konsterniertem Blick. Einige Tränen kullern ihr über das Gesicht – der schmerzvolle Gedanke, dass sie in weniger als vier Wochen ihren geliebten Arbeitsplatz räumen muss, vermischt sich mit der Angst um ihre Zukunft.

Bitschin hat Glas-Knochen

Bitschin raucht eine, manchmal zwei Packungen Zigaretten pro Tag – die rauchgeschwängerte Luft im Lokal zeugt davon. Doch die sind nicht die Ursache, weshalb sie nach 18 Jahren ihren Kiosk schliessen muss. Grund für den schmerzvollen Entscheid ist ihre schwere Osteoporose. Sie kann kaum noch Lieferungen entgegennehmen oder Regale auffüllen. Sie wird von Schmerzen geplagt.

«Sie glauben mir nicht, was die Menschen alles für Geschichten erzählen.»

Anita Bitschin, Kioskbesitzerin

Verantwortlich für den schweren Verlauf sei das wenige Sonnenlicht – denn Bitschin lebt und arbeitet von früh bis spät in ihrem Kiosk. «16 Jahre lang bin ich 6 Mal die Woche um 4 Uhr aufgestanden und habe zwischen sechs Uhr morgens und halb sieben am Abend hier gearbeitet.» Nach einem persönlichen Schicksalsschlag vor zwei Jahren hat sie sich etwas zurückgenommen. Seither öffne sie den Kiosk später und schliesse über Mittag.

Der Beichtstuhl der Bleicherstrasse

Bitschin schätzt den Austausch mit ihren Kunden, viele sind Stammgäste. Und die erzählen ihr auch Sorgen und Nöte: «Wenn die Wände Ohren hätten. Ich bin so etwas wie der Beichtstuhl der Bleicherstrasse.» Diese persönlichen Kontakte sind Bitschin sehr wichtig. «Sie glauben mir nicht, was die Menschen alles für Geschichten erzählen.» – Bitschin hat sich ein inoffizielles Schweigegelübde auferlegt und will keine persönlichen Klatschgeschichten auftischen.

«Im Gegensatz zu den grossen Kiosk-Ketten wird man von Anita erkannt und mit Namen begrüsst.»

Kunde

Während sie bereits eine halbe Stunde erzählt, werden wir von keinem Besucher unterbrochen. Wird es da nicht langweilig? Bitschi zündet sich gelassen eine Zigarette an: «Auf keinen Fall.» Sie habe immer etwas zu tun in ihrem Kiosk. Administrative Dinge, putzen oder die Regale auffüllen. Wenn die ausgebildete Detailhändlerin freie Zeit hat, liest sie zwischendurch gerne. Besonders mag Sie den «Spiegel». Vor deren Neugestaltung habe sie täglich die «Luzerner Zeitung» gelesen, doch die veränderte Schrift und die sechs Spalten überfordern ihre Augen.

Aussterbende Dinosaurier

Angefangen hat sie als Aushilfe im Kiosk, später übernahm sie selbst. Zu Beginn missfiel ihr die Aussicht, tagein und tagaus in dem kleinen Raum zu sitzen: «Mit der Zeit hab ich mein kleines Reich und insbesondere meine Kundschaft ins Herz geschlossen.» Während Bitschin ihre Geschichte erzählt, hält ein vorbeigehender Passant mit Hund an der Leine vor dem Kiosk. Sie klatscht freudig in die Hände und lässt sowohl den zwei- als auch den vierbeinigen Stammkunden herein.

Während Bitschin mit einem breiten Lächeln eine Runde Hundekekse ausgibt, nimmt sein Herrchen Notiz davon, dass der Kiosk Ende Mai die Lichter löscht: «Das ist sehr schade. Im Gegensatz zu den grossen Kiosk-Ketten wird man von Anita erkannt und mit Namen begrüsst.» Er sei jedoch nicht überrascht: «Einzelkämpfer sind in diesem Geschäft aussterbende Dinosaurier.»

Ferien und Familie liegen nicht drin

Nickend pflichtet Bitschin bei: «Kioske, wie ich ihn betreibe, kann man in Luzern an einer Hand abzählen.» Der Valora-Konzern hat den Markt fest im Griff. Als Kunde werde man bei avec, k-kiosk und Co. nicht mehr persönlich angesprochen: «Die Mitarbeiter haben gar keine Zeit dafür.» Auf ihr Geschäft habe die Konkurrenz jedoch kaum einen Einfluss, weil sie kaum auf Laufkundschaft angewiesen sei. Viel Geld habe man nie verdient mit dem Kiosk-Geschäft: «Es reicht gerade einmal für mich selbst. Eine Familie kann man damit nicht durchbringen.» Und Ferien liegen sowieso nicht drin.

Früher sei zwischen sechs und acht Uhr morgens am meisten los gewesen, als die Leute Zeitungen und Zigaretten vor der Arbeit einkaufen gingen. Doch das Konsum- und Leseverhalten änderte sich mit Smartphones, Tablets und Co. Doch ihre treuen Kunden seien eher gesetzteren Alters. An deren Kaufverhalten habe sich relativ wenig geändert – diese würden weiterhin sehr gerne Tageszeitungen sowie hintergründige Magazine kaufen. Das hohe Durchschnittsalter der Kundschaft geht nicht spurlos an ihr vorbei: «Ich könnte jeden Tag an eine Beerdigung gehen.»

Seit 18 Jahren arbeitet Anita Bitschin im Kiosk an der Bleicherstrasse.

Seit 18 Jahren arbeitet Anita Bitschin im Kiosk an der Bleicherstrasse.

(Bild: gwa)

Stalder nimmt Kioskfläche in Beschlag

Wenn Anita Bitschin am 27. Mai aufhört, verliert die Bleicherstrasse damit auch ihren einzigen Kiosk. Denn das anliegende Stalder Kaffee-Maschinen-Center wird die Wand durchbrechen, um die eigene Ladenfläche zu erweitern. Ihr tut es vor allem auch für ihre Kunden leid, die bei ihr immer ein offenes Ohr fänden. Die Neustadt verliert einen Kiosk mit einer sehr geduldigen Zuhörerin: «Wenn ich könnte, würde ich noch viel länger hier arbeiten.» Weg ist die Neustädterin nicht: «Ich werde weiterhin im Quartier leben.» Ausserdem wisse sie sich schon zu beschäftigen.

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1 Kommentar
  • Profilfoto von Daniel Grund
    Daniel Grund, 17.05.2017, 23:33 Uhr

    Sehr schöner Artikel, über eine leider weniger schöne Geschichte.

    Als selbst betroffener mit der sog. «Glasknochenkrankheit» möchte ich jedoch unbedingt richtig stellen, dass Glasknochen und Osteoporose zwei grundlegend verschiedene Dinge sind. Glasknochen lat. «Osteogenesis Imperfecta» ist ein Geburtsgebrechen, ein sog. Gendefekt der die Knochen brüchig macht. Osteoporose ist die zunehmende Brüchigkeit der Knochen im Alter und tritt in den meisten Fällen erst bei älteren Menschen auf. Beides hat zwar mit Knochen zu tun, ist jedoch in der Entstehung etwas anderes.

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