Fälle könnten in Luzern zunehmen

Häusliche Gewalt: Seit Corona schaut die Gesellschaft genauer hin

Viele Fachstellen beobachten zwar einen Anstieg an Anfragen, dies schlägt sich in der Statistik jedoch nicht nieder. (Bild: Adobe Stock)

Die Pandemie birgt die Gefahr, dass Kinder und Jugendliche vermehrt häuslicher Gewalt ausgesetzt sind. Arbeitslosigkeit und Armut sowie Überforderung könnten das Problem zuspitzen, waren sich Expertinnen an einer Stadtluzerner Tagung einig.

Es passiert im Versteckten – und bleibt oftmals auch in den eigenen vier Wänden verborgen: häusliche Gewalt.

Während zu Beginn der Coronakrise viele Expertinnen vor einem Anstieg häuslicher Gewalt warnten, traf dies vielerorts nicht zu, auch nicht in Luzern (zentralplus berichtete). Viele Fachstellen beobachten zwar einen Anstieg an Anfragen, dies schlägt sich in der Statistik jedoch nicht nieder. Ein Blick in die polizeiliche Kriminalstatistik zeigt, dass es schweizweit «nur» zu einer Zunahme von rund 2 Prozent gekommen ist.

Doch ob und wie fest es zu einem Anstieg gekommen ist, ist schlussendlich gar nicht so relevant. Weil jeder Fall einer zu viel ist und man von einer hohen Dunkelziffer ausgeht. «Diese Zahlen können nie abbilden, was in der Realität stattfindet und vor allem können sie nicht aufzeigen, was es für Kinder bedeutet, häusliche Gewalt zu erleben», sagte Angela Marfurt, Präsidentin der Kesb Luzern an einer Podiumsdiskussion anlässlich einer Fachtagung, welche die Stadt Luzern am Mittwoch zum Thema «Der lange Schatten der Coronakrise» durchführte. «Häusliche Gewalt betrifft immer auch die Kinder und hat Einfluss auf ihre Entwicklung. Deshalb muss man in jedem Fall genau hinschauen.»

Massiv mehr Meldungen bei der Kesb

Bei der Kesb sind die Gefährdungsmeldungen im Coronajahr 2020 deutlich angestiegen – hingegen waren nur selten Massnahmen nötig (zentralplus berichtete). Einen Anstieg beobachtete die Kesb aber vor allem erst in der zweiten Jahreshälfte, als die Kinder wieder die Schule besuchten und Lehrer und Sozialarbeiterinnen die Kinder wieder zu Gesicht bekamen. «Auch momentan bekommen wir relativ viele Kindsschutzmeldungen», sagt Marfurt. Die Zunahme sei jedoch nicht auf einen Anstieg häuslicher Gewalt zurückführen. «Ich glaube, der Grund ist, dass man mehr hinschaut – Lehrer wie Nachbarinnen – und man mehr das Gefühl hat, dass es doch jetzt mehr Fälle geben müsste.»

Arbeitslosigkeit und Armut könnten zu mehr häuslicher Gewalt führen

In den nächsten ein, zwei Jahren kämen wohl noch einige Herausforderungen in Folge der Corona-Pandemie auf uns zu, meinte Dirk Baier, Leiter Institut für Delinquenz und Kriminalprävention der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.

«Armut und Arbeitslosigkeit erhöhen die Gewaltbetroffenheit.»

Andreas Jud, Lehrstuhl «Epidemiologie und Verlaufsforschung im Kinderschutz» Universitätsklinikum Ulm

Gemäss einer Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften von 2018 haben knapp zwei Drittel aller Jugendlichen bereits elterliche Gewalt erlebt. Von schwerer elterlicher Gewalt doppelt so häufig betroffen sind Jugendliche, die selbst oder deren Eltern Arbeitslosengeld beziehen. «Armut und Arbeitslosigkeit erhöhen die Gewaltbetroffenheit. Eine Verbesserung von Lebensumständen ist entsprechend auch Gewaltprävention», sagt auch Andreas Jud vom Lehrstuhl «Epidemiologie und Verlaufsforschung im Kinderschutz» am Universitätsklinikum Ulm. Andreas Jud ist zudem Dozent und Projektleiter an der Hochschule Luzern am Departement Soziale Arbeit.

In Folge der Coronapandemie haben viele ihren Job verloren, die Zahl der Arbeitslosen steigt. «Dann müsste man davon ausgehen, dass sich das auch den Zahlen häuslicher Gewalt niederschlagen wird», so Dirk Baier.

Gewalt, die aus der Überforderung entsteht

Auch laut der Kesb-Präsidentin ist es nicht unwahrscheinlich, dass Formen von häuslicher Gewalt zunehmen könnten. Sie unterscheidet zwischen zwei Formen: Gewalt, die als Kontrollmechanismus ausgeübt wird. Häufig Männer, die Macht ausüben, ihre Frauen mit Gewalt kontrollieren wollen. Und dann gibt es Gewalt, die aus Überforderung entstehe, wenn man keine besseren Ansätze habe, Konflikte zu lösen. «Gewalt, die aus der Überforderung entsteht, wird sich – davon gehe ich aus – verstärken. Sei dies durch wirtschaftliche Not, den Griff zur Flasche, oder dass man einfach nicht mehr weiterweiss.»

«Man muss das auch aushalten können.»

Angela Marfurt, Präsidentin Kesb Luzern

Gewalt als Kontrollmechanismus kommt laut Marfurt eher in sehr religiösen Familien vor. Nehme die Migration zu, könnte diese Form von häuslicher Gewalt zunehmen. Derzeit habe man rund 70 Ethnien, für welche die Kesb Mandate führe, mit denen man Gespräche führe und Übersetzerinnen brauche. «Wir müssen uns einarbeiten in andere Erlebnisse, andere Vorstellungen von Leben, andere Sprachen – das wird die Herausforderung in Zukunft für uns alle.»

Die Ohnmacht

Den Kesb-Mitarbeitenden mache insbesondere eines zu schaffen: Wenn sie Menschen helfen, aus Gewaltsituationen auszubrechen, sich diese aber nicht von der Person, die Gewalt ausübt, loslösen können.

Marfurt: «Man muss das auch aushalten können.» Manchmal hole man Frauen aus Gewaltsituationen, helfe ihnen, ergreife Massnahmen, die gewaltbetroffene Frau findet einen Platz im Frauenhaus. «Wir haben das Gefühl, dass wir auf dem Weg sind. Und dann gehen sie wieder nach Hause – nach Hause zum selben Mann, der sie geschlagen hat, und dann beginnt es nochmals von vorne. Das ist die Ohnmacht, die man aushalten muss, was unschön ist, womit man fast nicht umgehen kann.»

Kinder müssen gestärkt werden

Die Fachpersonen sind sich einig: Wichtig sei es, Kinder zu stärken. Ihnen zu vermitteln, dass Gewalt zuhause nicht in Ordnung ist, was Eltern mit ihnen machen dürfen – und was nicht. «Das hilft auch, frühzeitig Fehlentwicklungen sichtbar zu machen, wenn die Kinder einfacher darüber sprechen können», sagt Dirk Baier. «Ich bin aber klar der Meinung, dass wir da deutlich darüber hinausdenken müssen», sagt Andreas Jud.

Auch die Kesb-Präsidentin sagt: «Wir müssen alle miteinander das Problem lösen – nicht nur Fachpersonen, sondern auch Grosseltern und Nachbarn. Dass man einfach bereit ist, hinzuschauen.» Aus ihrem Alltag weiss sie: «Eltern können schlagen, sexuellen Missbrauch machen – Kinder lieben ihre Eltern immer. Immer. Etwas gegen aussen zu tragen, was in den Familien geschieht, ist für Kinder sehr schwierig.»

Auch Nachbarn und Spitäler können helfen

Auch Nachbarn könnten eine wichtige Rolle einnehmen. Dirk Baier spricht ein Projekt an, das es in Deutschland gibt. Dieses versucht, Nachbarschaften zu aktivieren für das Thema häusliche Gewalt. Sei dies durch Events oder runde Tische. «Auch wir haben da vielleicht eine Chance, uns im sozialen Nahraum mehr füreinander zu interessieren – und das nicht immer an die Profis abzuschieben.»

«Das Kind muss nicht blaugeschlagen in die Schule kommen, bis man eine Gefährdungsmeldung einreicht.»

Tina Furrer, Berufsbeiständin Kinder- und Jugendschutz Stadt Luzern

Ein spannender Zugang, führt Andreas Jud aus, werde jetzt im Kanton Zürich ausprobiert. So achtet man in Erwachsenenkliniken bei neuen Notfällen darauf, ob es sich um Väter und Mütter handelt und bei denen gewisse Risikofaktoren erkennbar sind, die typisch seien für Kindeswohlgefährdung. Das können schwere psychische Störungen sein, Suizidversuche oder schwerer Alkohol- und Drogenkonsum. In Holland werde das flächendeckend umgesetzt – was dazu führte, neue Fälle früh abgreifen zu können, die den Behörden so nicht bekannt gewesen seien. Laut Marfurt sei man in Luzern mit dem Kantonsspital dran, dieses Modell auch hier umzusetzen.

Ein Verdacht genügt

Auch Schulen nehmen eine wichtige Funktion ein. Tina Furrer ist Berufsbeiständin Kinder- und Jugendschutz Stadt Luzern – und arbeitete vorher als Primarlehrerin. Für Lehrerinnen sei es nicht immer einfach, in Familien einzugreifen, wenn man einen Bildungsauftrag habe und nicht den Auftrag, wie beispielsweise eine Sozialarbeiterin.

«Es ist wichtig, dass die Schulleitungen solche Gefährdungsmeldungen übernehmen, sodass die Lehrpersonen aus dem Schussfeld genommen werden», sagt Furrer. Es sei gut, dies zu trennen – weil Lehrpersonen das Interesse haben, mit den Eltern weiterzuarbeiten und dass das Kind weiterhin bei ihnen in den Unterricht geht. Zudem würden die Gefährungsmeldung von den Schulen häufig zu spät an die Kesb gelangen. Ein Verdacht genüge. «Das Kind muss nicht blaugeschlagen in die Schule kommen, bis man eine Gefährdungsmeldung einreicht.»

Marfurt ist es ein Anliegen, die Schwellenangst vor der Kesb zu nehmen. «Nur weil jemand eine Meldung macht, heisst das nicht, dass die jetzt mit fünf Polizisten aufkreuzen und das Kind holen.» Sondern es bedeute, dass man genauer hinschaue – und abwägt, was für das Kind möglich sei.

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1 Kommentar
  • Profilfoto von Peter Bitterli
    Peter Bitterli, 19.05.2021, 18:59 Uhr

    Wie kann man sagen, dass „die Gesellschaft seit Corona genauer hinschaut“, wenn es ja die durch die obersten Repräsentanten der Gesellschaft verschuldeten Massnahmen sind, die das Problem erst geschaffen haben?

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