Luzerner Arzt über Piks-Effekte und Skeptiker-Mythen

«Long-Covid-Patienten gehts nach Impfung meistens besser»

Philip Kaiser, Oberarzt Infektiologie am Luzerner Kantonsspital, beobachtet die Wirkung der Impfung auf Patienten mit Long Covid. (Bild: zvg, Unsplash)

Philip Kaiser ist Oberarzt Infektiologie am Luzerner Kantonsspital. zentralplus hat mit ihm über Marcos Geschichte, Long Covid und das Phänomen der Verbesserung von Langzeitsymptomen nach der Zweitimpfung gesprochen.

Das Thema «Long Covid» taucht mit fortdauernder Pandemie immer häufiger in den Medien auf. Viele Betroffene könnten Marcos Geschichte auf zentralplus in ganz ähnlicher Weise erzählen oder haben sie bereits erzählt. Dr. med. Philip Kaiser kennt ihren Leidensweg. Er ist Oberarzt für Infektiologie und Spitalhygiene am Luzerner Kantonsspital (LUKS) und betreut in seiner Sprechstunde Long-Covid-Patienten. Zu diesen zählt Marco, den er nicht persönlich kennt. Für zentralplus versucht er dennoch, dessen Schilderungen medizinisch einzuordnen und zu erläutern.

zentralplus: Nach seiner Covid-Erkrankung litt Marco wochenlang an Müdigkeit und übermässigen Erschöpfungszuständen nach sportlicher Betätigung, wie er sagt. Dazu kamen Geschmacks- bzw. Geruchsverlust sowie Konzentrationsstörungen. Klingt das nach Long Covid?

Philip Kaiser: Ja, das ist eigentlich typisch. Vor allem, dass er nach mässiger körperlicher Aktivität, die vorher selbstverständlich war, in eine viel zu lange Phase der Erschöpfung gefallen ist. Ebenfalls typisch sind neuropsychologische Symptome wie Konzentrationsstörungen und der über mehrere Wochen anhaltende Geschmacks- und Geruchsverlust.

zentralplus: Können Sie beziffern, wie häufig solche Langzeitfolgen nach eher leichten Covid-Fällen auftreten?

Kaiser: Das ist eine der Fragen, die wir noch nicht wirklich klären können. In den Medien liest man immer wieder, 30–40 Prozent aller Covid-Infizierten würden nach mehreren Monaten noch unter Symptomen leiden. Meine Erfahrungen sagen mir, dass diese Schätzungen in Bezug auf Long Covid zu hoch sind.

zentralplus: Wie erklären Sie sich die zu hohen Angaben?

Kaiser: Oft werden verschiedene Langzeitfolgen der Krankheit miteinander vermischt. Bei einer Lungenschädigung nach einem schweren Verlauf kommt es häufig vor, dass die Betroffenen nach ihrer Genesung mehrere Wochen weniger Leistung erbringen können oder auch anhaltende organische Schäden aufweisen.

Long Covid im engeren Sinn ist dagegen ein medizinisch relativ eindeutig beschriebenes Syndrom. Es umfasst in etwa die Symptome, die auch Marco bei sich festgestellt zu haben scheint, nämlich übermässige Erschöpfung (Fatigue) und Probleme mit Konzentration, Gedächtnis und kognitiver Leistungsfähigkeit. Dazu kommen Störungen des autonomen Nervensystems wie Schwindel, Herzrasen oder Atemnot in dafür untypischen Situationen – etwa beim gemütlichen Fernsehabend. 

Viele von Long Covid Betroffene leiden an Erschöpfung. (Symbolbild) (Bild: Pexels)

zentralplus: Wie viele Covid-Patienten leiden an Long Covid?

Kaiser: Wir gehen davon aus, dass bis maximal 10 Prozent aller Covid-19-Patienten von Long Covid im engeren Sinn betroffen sind. Am LUKS bekommen wir nur die allerkränksten Long-Covid-Patienten zugewiesen, sozusagen die Spitze des Eisbergs. Bei diesen Patienten geht manchmal gar nichts mehr, ein geregeltes Arbeitsleben ist für sie unmöglich. Ihnen gegenüber stehen diejenigen, die zwar nicht an invalisierender Müdigkeit leiden, aber sich trotzdem in ihrer Lebensqualität eingeschränkt fühlen.

zentralplus: Wie viele Long-Covid-Patienten behandeln Sie derzeit am LUKS?

Kaiser: Zurzeit sind knapp 50 Patienten mit Diagnose Long Covid in Behandlung. Eigentlich sind wir froh, dass wir noch nicht 1'000 Patienten gesehen haben. Die Betreuung dieser Patienten ist je nach Symptomen sehr aufwendig.

zentralplus: Kritische Stimmen sagen, ähnliche Langzeitfolgen würden auch durch andere Viren ausgelöst.

Kaiser: Das stimmt, ist aber nur die halbe Wahrheit. Auch nach anderen viralen Infektionen können lange andauernde Fatigue-Zustände auftreten. Der Klassiker ist das Epstein-Barr-Virus, welches das Pfeiffersche Drüsenfieber auslöst. Die bleibenden Symptome gleichen denjenigen von Long Covid, treten aber wesentlich seltener auf. Mir scheint, dass das SARS-CoV-2-Virus solche Zustände häufiger auslöst als andere Viren. Vielleicht ist es aber auch nur die ungleich höhere Anzahl an Covid-Infizierten in den letzten Monaten. Gerade der Umstand, dass verschiedene Erreger ein ähnliches Krankheitsbild nach sich ziehen können, deutet auf einen Mechanismus hin, der mit dem Immunsystem zusammenhängt, den wir gegenwärtig aber noch nicht verstehen.

zentralplus: Erwarten Sie, dass die Long-Covid-Fälle aufgrund der Delta-Variante zunehmen werden?

Kaiser: Das können wir noch nicht beurteilen. Ich nehme aber an, dass die Lage etwa ähnlich bleiben wird. Bis Betroffene nach einer Covid-19-Erkrankung mit Symptomen von Long Covid zu uns gelangen, geht es in der Regel drei Monate und länger. Die meisten unserer derzeitigen Patienten haben sich im letzten Winter und Frühling während der zweiten Welle mit dem Virus angesteckt. In der ersten Welle wurde Long Covid weniger thematisiert. Es gibt aber auch Patienten aus jener Zeit, die immer noch Symptome haben.

«Die Aussage, die Krankheit Long Covid gebe es nicht oder sei nur eingebildet, nützt weder denjenigen, die nicht mehr arbeitsfähig sind, noch der restlichen Bevölkerung.»

Philip Kaiser, Oberarzt Infektiologie und Spitalhygiene am Luzerner Kantonsspital

zentralplus: Am LUKS wurde für Betroffene eine Long-Covid-Sprechstunde eingerichtet. Was erwartet sie dort?

Kaiser: Am Anfang einer Konsultation steht die Diagnose. Sie basiert im Wesentlichen auf der Anamnese, den exakten Schilderungen der Erlebnisse des Patienten, und den notwendigen Untersuchungen. Im Gespräch mit dem Arzt geht es zudem darum, den Betroffenen zu vermitteln, dass ihre Beschwerden zwar mehrere Monate andauern können, aber nach heutigem Wissensstand meist eine gute Prognose haben. Optimismus ist keineswegs fehl am Platz.

zentralplus: Bei Marco wurde ausser einem Vitamin-D-Mangel nichts gefunden.

Kaiser: Dass bei Long Covid mit Labor und technischen Untersuchungsmethoden keine Auffälligkeiten entdeckt werden, ist nicht aussergewöhnlich. Eine geschädigte Lunge oder einen auffälligen Herzultraschall treffen die Ärzte meist nicht an.

zentralplus: Wieso führen Sie dann all die Untersuchungen durch?

Kaiser: Als Arzt bekommt man nach einigen Patienten zwar ein Gespür für das Syndrom Long Covid und merkt bald, ob die geschilderten Symptome zu einer Long-Covid-Erkrankung passen. Die eigentliche Diagnose erfolgt aber per Ausschlussdiagnostik. Untersuchungen wie ein Blutbild oder ein Lungenfunktionstest dienen dazu, andere Erkrankungen auszuschliessen. Weitere Untersuchungen wie spezialisierte neuropsychologische Testverfahren dienen dazu, die vom Patienten geschilderte Symptomatik zu objektivieren und eventuell auch deren Schweregrad besser einzuordnen.

zentralplus: Von Skeptikern hört man hie und da, dass Long Covid auf die Einschränkungen in der Pandemie zurückzuführen oder gar erfunden sei.

Kaiser: Die Aussage, die Krankheit Long Covid gebe es nicht oder sei nur eingebildet, nützt weder denjenigen, die nicht mehr arbeitsfähig sind, noch der restlichen Bevölkerung. Mein Eindruck ist, dass die Patienten einen bunten Querschnitt durch die Gesellschaft darstellen. Es ist nicht so, dass biografische Auffälligkeiten oder Leute mit psychischen Problemen übervertreten wären. Ende 30, sportlich und beruflich erfolgreich, das passt auch sehr gut zu den Betroffenen.

zentralplus: Wie werden die Betroffenen therapiert?

Kaiser: Den Königsweg zum Erfolg gibt es nicht. Wir haben keine Therapie, die das Übel an der Wurzel packt. Dafür wissen wir noch zu wenig darüber, wie das Phänomen Long Covid zustande kommt. Die vielen Einzelsymptome versuchen wir im Austausch gemeinsam mit anderen Fachrichtungen mit der jeweils geeigneten Therapieform zu lindern. Zudem entwickeln wir mit den Patienten Strategien, um besser mit Long Covid zu leben. Wichtig ist es, die eigenen Grenzen kennenzulernen und nicht mit dem Kopf durch die Wand zu gehen. Zum Tragen kommen etwa Methoden aus der Physio- oder der Ergotherapie.

«Aufgrund von Umfragen hat sich aber gezeigt, dass es einer Mehrheit von Patienten nach dem Piks besser geht.»

Philip Kaiser, Oberarzt Infektiologie und Spitalhygiene am Luzerner Kantonsspital

zentralplus: Im Falle von Marco hat nach eigenen Aussagen die zweite Impfung zu einer Verbesserung des Zustands geführt. Halten sie diese Schilderung für nachvollziehbar?

Kaiser: Meines Wissens gibt es noch keine Studien, die wasserdicht zeigen, dass Impfen gegen Long Covid hilft. Aufgrund von Umfragen hat sich aber gezeigt, dass es einer Mehrheit von Patienten nach dem Piks besser geht. Ausserdem gibt es sowohl für das Krankheitsbild als auch für das Phänomen der Symptomlinderung nach der Impfung plausible wissenschaftliche Hypothesen. Mit Sicherheit kann ich aber nur sagen, dass sich die Beschwerden durch die Impfung nicht verschlechtern.

zentralplus: Wie ist es möglich, dass noch keine aussagekräftige Studien verfügbar sind?

Kaiser: An und für sich wäre eine entsprechende Studie einfach zu konzipieren. Es bräuchte zwei Gruppen von Long-Covid-Patienten. Die einen würden geimpft, die anderen erhielten eine Salzwasserlösung gespritzt. Wer was verabreicht bekäme, wüssten weder die Ärzte noch die Probanden. Nicht ganz so einfach wäre jedoch die Realisierung einer solchen Studie.

zentralplus: Warum?

Kaiser: Ich sehe im Wesentlichen zwei Probleme: Erstens muss man die Patienten identifizieren. Sie sind weit in der Gesellschaft verstreut und melden sich mit der Thematisierung von Long Covid erst nach und nach. Vor allem aber gibt es zweitens ethische Bedenken: Die Hälfte der Probanden würden aufgrund der Studie nicht geimpft und wüssten nicht einmal davon.

zentralplus: Sind Ihnen aus Ihrer Tätigkeit als Infektiologe am LUKS Fälle bekannt, die nach der Impfung eine Symptomlinderung erfuhren?

Kaiser: Persönlich habe ich keinen Patienten betreut, bei dem die Langzeitsymptome nach der Zweitimpfung plötzlich vollständig verschwunden sind. Für viele geht es über Monate langsam, aber stetig aufwärts. Einige Patienten haben nach der Impfung aber eine merkliche Besserung erfahren. Solange es keine wissenschaftlich fundierte Studien gibt, können wir deshalb nicht ausschliessen, dass es einfach die Zeit ist, welche die Wunden langsam heilen lässt.

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