Adoptierte Luzernerin auf Spurensuche in Indien

Livia Lalita goes to Mumbai

Lalita Livia Zgraggen steht vor dem Eingangstor zum Waisenheim, in dem sie geboren wurde. (Bild: chw)

Als Kleinkind wird Lalita von einer Luzerner Familie adoptiert. Als 39-Jährige reist sie zum ersten Mal nach Indien. Die Reportage begleitet die Spurensuche von Livia Lalita Zgraggen.

Ein alter Mann mit weissem Haar sitzt hinter einem altmodischen Empfangstisch. Er hebt den Kopf, seine Augen hinter der randlosen Brille streifen uns flüchtig. Wir sagen, wer wir sind und was wir wollen. Er schaut etwas mürrisch, wackelt dann auf die unbestimmte indische Art mit dem Kopf und greift zum Telefonhörer. Mit einer Handbewegung bedeutet er uns, Platz zu nehmen. Wir setzen uns auf eine harte Holzbank mit Stoffüberzug und warten.

Im kleinen Raum ist es still, vor den Fenstern mit Fliegengittern flimmert die Hitze. Irgendwo krächzt ein Vogel, über uns dreht sich die heisse Luft des Ventilators. Der Wand entlang stehen Säcke mit Spielzeug, Kartons mit Waschpulver und anderen Sachen; vermutlich Spenden für die Kinder hier: Es ist 14 Uhr, Juni 2018, und wir sind im St. Catherine’s Home, einem Waisenheim in einem ärmlichen Stadtteil von Mumbai (früher Bombay).

Die indischen Schwestern wissen von nichts. Oder doch?

Nach ein paar Minuten bauscht sich der Vorhang zum Korridor, herein kommt eine Schwester. Sie trägt ein einfaches Kleid aus senffarbenem Stoff und hat ihre grauen Haare zu einem Knoten hochgesteckt. Meine Kollegin Livia Lalita steht auf. «Guten Tag», sagt sie und ergreift die ausgestreckte Hand der Schwester, die sich als Ananda vorstellt. «Ich lebte die ersten Monate in diesem Heim, dann wurde ich in die Schweiz adoptiert, nach Luzern. Jetzt bin ich gekommen, um zu wissen, woher ich komme», sagt Lalita.

Schwester Ananda mustert sie. Nicht unfreundlich, aber distanziert, und fragt: Wann war das? Vor 37 Jahren! «Das ist lange her, das ist sehr lange her. Darüber wissen wir nichts», sagt sie und schüttelt bekümmert den Kopf.

Lalita ist hartnäckig. Sie nimmt Schwester Ananda in die Zange, lässt sich nicht abspeisen wie damals mit dem Brief, den sie als 18-Jährige nach Mumbai geschickt hat und in krakeliger Schrift nachfragte: Wer sind meine Eltern und was wisst ihr von ihnen? Die Antwort kam postwendend in einem freundlichen, aber unverbindlich verfassten Schreiben: Liebe Lalita, wir wissen nichts Konkretes über deine Herkunft und deine Eltern. Aber sei versichert: Sie liebten dich und wollten das Beste für dich; eine sichere Obhut, ein liebevolles Daheim. Gott ist mit dir und wir beten für dich, liebe Lalita, vergiss das nie.

Doch im gleichen Brief tauchten noch andere Namen auf. Liebe Caroline. Liebe Jasmina. Liebe Regula. Lalita ist anscheinend eine von vielen, die nach ihrer Herkunft fragen – ein Fall für Copy/Paste. Aber jetzt hat sie die lange Reise aus der Kleinstadt Luzern nach Mumbai gemacht, schaut Schwester Ananda in die Augen und glaubt nicht, dass keine Dokumente mehr da sind über ihre Herkunft. Dass sie keine Chance hat, ihre leiblichen Eltern zu finden, ist ihr längst bewusst und das war auch gar nicht die Idee ihrer Reise. Aber eine winzige Spur aus ihrer frühsten Kindheit, ein entferntes Erinnern oder flüchtiges Wiedererkennen, das möchte sie finden.

«Wer hat mich hergebracht?», fragt sie eindringlich. Wurde ich als Baby in die kleine Hängematte vor das Eingangstor gelegt, die über dem schmutzigen Boden schaukelt? Oder hat mich meine Mutter hier geboren und mich noch in den Armen gehalten, bevor ich in eines der Gitterbettchen gelegt wurde? Und vor allem: Ist es meine Mutter, die mir meinen Namen gegeben hat: Lalita!? «Ich weiss es nicht», sagt die Schwester.

Manchmal werden die Babys von den Müttern oder der Polizei in diese Hängematte gelegt. (Bild: chw)

Lalita besteht auf einen zweiten Termin und darauf, dass die Schwester bis dann im Archiv nachschauen soll, ob nicht doch noch irgendwo ein Hinweis, ein Zettel oder ein Dokument über das 18 Monate alte Mädchen vorhanden ist, das im Sommer 1981 per Flugzeug in die Schweiz zur Familie Zgraggen gebracht worden ist: 47,5 Zentimeter gross, 2,9 Kilo schwer, geboren vermutlich am 9. Dezember 1979.

So steht es auf einem der wenigen indischen Dokumente, die es über das Kind gibt und die in der Schweiz in einem grünen Ordner von der Familie Zgraggen aufbewahrt werden. Darin liegt auch der vergilbte, vor 28 Jahren abgelaufene Pass, in dem das einzige Foto klebt, das es aus diesen ersten Monaten gibt: Ein kleines Mädchen mit grossen, dunklen Augen und ernstem Blick. «Nicht ernst, traurig schauen diese Augen», sagt Lalita, die nach ihrer Ankunft in der Schweiz zu Livia geworden ist.

Baby an Bord: Flughafen Genf, Sommer 1981

Was seit ein paar Jahren nur noch in Ausnahmefällen erlaubt ist, war jahrzehntelang gang und gäbe: Tausende Kleinkinder wurden aus ganz Indien und auch aus dem St. Catherine’s Home in Mumbai in alle Welt adoptiert. Nach Italien und Deutschland, nach Australien, Schweden, Kanada und überall dorthin, wo sich Ehepaare Kinder wünschten und keine eigenen bekommen konnten.

So wie Peter und Lotti Zgraggen in der Schweiz. Frisch verheiratet, eine hübsche Wohnung; mit gemeinsamen Hobbys, einem zuverlässigen Freundeskreis und voller Zuversicht für die familiäre Zukunft. Der Mann in einer guten Anstellung, die Frau Teilzeitverkäuferin – jedenfalls bis ein Kind kommt. Dann will sie Mutter sein und zwar ein gute, die sich kümmert und bedingungslos und jederzeit da ist für ihr Baby. «Ich freue mich, meine ganze Zeit und Aufmerksamkeit unserem Kind widmen zu können, und beabsichtige nicht, wieder zu arbeiten», gibt Lotti Zgraggen ein paar Jahre später in den umfangreichen Unterlagen zu Protokoll, die bei einer Adoption angefordert werden.

«Wir hoffen, dass Sie Ihre kleine Tochter Livia Lalita bald in die Arme schliessen können.»

Die indischen Schwestern, 1981

Sechs Jahre nach der Hochzeit ist das Ehepaar noch immer kinderlos: Kein Baby kommt. Bekannte von Zgraggens in einer ähnlichen Situation haben ein Kind aus Mumbai adoptiert und gute Erfahrungen gemacht. Peter und Lotti Zgraggen entscheiden sich, ebenfalls, ein Kind von dort zu adoptieren. «Wir würden uns sehr freuen, ein kleines Kind aus dem Waisenheim St. Catherine’s Home bei uns in der Schweiz aufnehmen zu können», schreiben sie in einem ersten Brief an die Schwestern, in deren Obhut um die 500 Kinder leben. Ausnahmslos alle kommen aus armen Familien, viele sind unehelich geboren, manche krank oder behindert und bis auf wenige Ausnahmen sind es Mädchen.

Rosarote Bettchen für die Mädchen, blaue für die Jungs: Schlafsaal im St. Catherine’s Home. (Bild: chw)

Nach monatelangem Briefwechsel, dem Ausfüllen unzähliger Dokumente, dem Beantworten massenhafter Fragen seitens indischer und schweizerischer Behörden, bekommt das Ehepaar grünes Licht: «Liebe Familie Zgraggen, Sie werden bestimmt überglücklich sein, diesen Brief zu lesen! Es ist so weit: Das indische Gericht hat die Adoption bewilligt und wir hoffen, dass Sie Ihre kleine Tochter Livia Lalita bald in die Arme schliessen können», teilen die Schwestern aus Mumbai im Brief mit, der im Frühling 1981 in Zgraggens Briefkasten flattert. Bereits ein paar Wochen später ist es so weit: An einem Sommerabend stehen Lotti und Peter Zgraggen am Flughafen Genf und warten auf ihre lang ersehnte Tochter Livia.

37 Jahre später sitzt das Ehepaar Zgraggen in seiner Wohnung im dritten Stock eines Blocks in einem ruhigen Quartier von Luzern. «Es war ein heisser Sommertag, als wir Livia am Flughafen abholten», erinnern sie sich. Lotti Zgraggen steht auf, holt ein Heft aus der Schublade und schlägt es auf. Die Seiten sind dicht gefüllt mit Einträgen, die ihr Mann über diese erste Zeit mit Livia geschrieben hat.

Sie blättert die Seiten um, bis sie den gesuchten Eintrag findet und liest vor: «Mittwoch, 26. August 1981, Ankunft von Livia. (...) Vom Flugfeld wird unsere Tochter in einem Bus zu uns gebracht. Säuberlich etikettiert, mit einer Tasche voller Kleider, Geschenken und Ausweisen wird sie uns überreicht. Wir schliessen sie sofort ins Herz – dieses erkältete, ‹verschnuderte Hämpflein› Mensch.» Die Mutter klappt das Heft wieder zu und sagt, es sei ein unglaublich gutes Gefühl gewesen, das Mädchen nach den monatelangen Vorbereitungen endlich in die Arme zu nehmen und sagen zu können: «Sali du! Jetzt bist du hier und gehörst zu uns!»

Livia sei anfangs schüchtern und zurückhaltend gewesen. Doch schon nach ein paar Wochen habe sie den Knopf aufgemacht, sei mit ihrer fröhlichen Art gut angekommen und habe es genossen, im Mittelpunkt zu stehen – und das sei oft der Fall gewesen: In den 80er- Jahren gab es in Luzern kaum dunkelhäutige Leute, geschweige denn Kinder. «Natürlich war das exotisch und die Leute reagierten sehr positiv. Fast zu positiv!», sagen die Zgraggens und erzählen, wie wildfremde Leute im Café an ihren Tisch gekommen, dem Mädchen durchs Haar gefahren seien und gesagt hätten: «So härzig, dieses Kind! Woher kommt es?». Aus Indien. Und das sei eher ein Zufall, sagen Zgraggens: Ein Kind aus der Schweiz zu adoptieren, war damals fast ausgeschlossen – zu lange die Wartefrist nach der Hochzeit, zu lange die anschliessenden Wartelisten von anderen kinderlosen Pärchen.

«Die Schwestern haben für uns eine Tochter ausgewählt und das ist gut so.»

Peter Zgraggen

Also sahen sie sich woanders um und kamen über Bekannte in Kontakt mit dem Heim in Mumbai. Es sei ihnen wichtig gewesen, von Behörden und Bekannten gute Referenzen über das Waisenheim zu bekommen. «Geschichten wie jene aus Sri Lanka geben einem natürlich zu denken. Wir sind froh, dass bei uns alles sehr seriös gelaufen ist», sagen sie in Anspielung auf die teils missbräuchlichen Adoptionen, die zwischen Sri Lanka und der Schweiz ebenfalls in den 80er-Jahren stattgefunden haben. Selber nach Mumbai zu gehen und sich vor Ort ein Bild zu machen, war für das Ehepaar nie eine Option: Lotti hat Flugangst. Und Peter hätte das gar nicht gewollt: «Die Schwestern haben für uns eine Tochter ausgewählt und das ist gut so.»

Livia Lalita Zgraggen geht durch den Garten des Waisenheims St. Catherine’s Home. (Bild: chw)

Geboren im Moloch Mumbai

Die Hitze am Flughafen Mumbai haut einen um die Ohren wie ein feuchtes Frottiertuch, das nicht ausgewrungen wurde. Es ist Juni 2018, die Temperaturen klettern auf 41 Grad, gefühlt sind es 47. Livia Zgraggen schiebt einen Gepäckwagen mit mehreren Koffern vor sich her. In der Menge der Ankommenden ist sie kaum auszumachen: Sie trägt eine hüftlange Bluse im indischen Stil, darunter farbige Leggins, die knapp über den Knöcheln enden und sieht mit ihren schwarzen Haaren und der dunklen Haut aus wie alle anderen Inderinnen, die gemeinsam mit ihr aus der Ankunftshalle gespült werden. «Endlich Mainstream! Endlich nicht auffallen! Endlich eine von vielen sein!», sagt sie später und geniesst es, dass keiner sie schräg anschaut und fragt: «Woher kommst du?»

Eine Frage, die ihr in der Schweiz seit Jahrzehnten gestellt wird, der sie bis heute ausgesetzt und manchmal ohnmächtig ausgeliefert ist: Auf der Strasse wird sie auf Hochdeutsch oder Englisch angesprochen, auf der Post muss sie ihre Schweizer Identität am Schalter vor allen anderen Leuten beweisen, Verwaltungen und Behörden taxieren sie auf den ersten Blick als Asylbewerberin oder Ausländerin, neue Bekannte oder Kunden staunen über ihr fremdländisches Aussehen und sagen: Aber sie heissen doch Zgraggen, Livia Zgraggen?!

Für die Einheimischen klar: Lalita ist Inderin

In Mumbai ist es umgekehrt, das freut und amüsiert Livia: Der Rikschafahrer schwatzt frischfröhlich auf Hindi weiter, obschon sie sagt, dass sie ihn nicht versteht; an den Ticketschaltern bei Sehenswürdigkeiten bezahlt sie ungefragt den Eintrittspreis für Einheimische, der ein Vielfaches günstiger ist als für Ausländerinnen. Bei den Strassenverkäufern wird sie nicht übers Ohr gehauen und von den Männern nicht angestarrt, sondern mit Respekt behandelt oder schlicht ignoriert.

Das Waisenheim steht in einem ärmlichen Quartier mitten im Moloch Mumbai. (Bild: chw)

Im Hotel wird sie nach ihrem Namen gefragt und zum ersten Mal höre ich sie antworten: Lalita. «Das ist einfacher so, es stimmt für mich in Indien», sagt Livia, die eben aus Kerala angekommen ist, wo sie vier Wochen ein Yogaseminar besuchte, bevor sie sich jetzt in Mumbai auf Spurensuche nach ihrer frühsten Kindheit machen will. «Endlich. Aber vorher war ich nicht parat», sagt sie. Livia Zgraggen ist heute 39 Jahre alt, hat selber eine Tochter, arbeitet als freiberufliche Gesundheitsfachfrau und ist grundsätzlich gut eingerichtet im Leben. Jetzt ist sie zum ersten Mal in Indien, dem Land, in dem sie geboren wurde. «Ich will gewisse Identitätslücken schliessen, die mich seit meiner Kindheit beschäftigen», hatte sie vor der Abreise gesagt.

Die Beziehung zu ihren Adoptiveltern war nicht immer einfach, heute hat Lalita sporadisch Kontakt mit ihnen. Haben sie etwas falsch gemacht? Livia wiegelt ab. «Möglicherweise hätten wir genau die gleichen Auseinandersetzungen und Probleme miteinander, wenn ich ihre richtige Tochter gewesen wäre – wer weiss das schon? Ich weiss es eben nicht!», sagt sie rückblickend auf ihre Kindheit und die anschliessenden pubertären Krisen.

Im Gegenzug habe sie immer ein Fenster offen gehabt, wenn es Streit gegeben und sie die Eltern unmöglich gefunden habe. «Ihre Gene sind nicht in mir! Sie haben nichts mit mir zu tun! Ich bin eine ganz andere!», sagte sie sich dann, schaute in den Spiegel und wusste nicht, wer diese andere denn sein sollte. Woher ihre eigenen Gene kommen, was vielleicht ihren Charakter und ihr Temperament geprägt hat, blieb im Dunkeln. Oder vielleicht in Indien. Das Kind Livia wusste zwar, dass es von dort kommt. Aber damit hatte es sich. «Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Eltern jemals mit mir eine Weltkarte angeschaut haben oder mir ein Bilderbuch über Indien zeigten», sagt sie und nimmt es übel, dass ihr keine Brücke zu ihrem Herkunftsland gebaut wurde.

Zeichen des Dankes von Müttern, die ihr Kinder in die Obhut der Schwestern gegeben haben. (Bild: chw)

Das Ehepaar Zgraggen weiss nichts von diesem Moloch Mumbai, in dem gegen 20 Millionen Menschen leben und der unter einer der weltweit grössten Bevölkerungsdichten ächzt und röchelt und erstaunlicherweise doch nicht gänzlich zusammenkracht. Es ist Livia Lalita, die jetzt als längst erwachsene Frau durch diese chaotischen Strassen geht, die verstopft sind von Motorrikschas und Lastwagen, von Karren und Motorrädern, von Menschen und Kühen. Ein Moloch, über dem sich ein Höllenlärm zusammenbraut, der sich mit der unsäglichen Hitze und dem Smog über die Stadt legt und sie gnadenlos unter sich erstickt.

Dichtgedrängt stehen schäbige Hütten aus Holzresten, Wellblech und Plastik, die auf- und ineinander gebaut sind, jeden freien Millimeter nutzend, damit die armen Leute zumindest ein Dach über dem Kopf haben. Davor und dazwischen Müll und dümpelndes Wasser, das in der Hitze und wenn es während des Monsuns aus Kübeln schüttet, zur Kloake wird, deren Gestank in den Strassen hängenbleibt.

Als wäre das nicht schon genug, sorgt die Luftfeuchtigkeit dafür, dass einem die Kleider angeklatscht am Rücken kleben, wenn es schon vormittags so heiss ist, dass man am Strassenrand Eier kochen kann. Lalita lässt sich nichtsdestotrotz in den Bann ziehen vom geschäftigen Treiben der Millionen Frauen und Männer, die dichtgedrängt in ihren farbigen Kleidern durch die Strassen wuseln und ihre Waren an Marktständen verkaufen, in einer Werkstatt Holzmöbel schnitzen, den durstigen Passanten an einer Strassenecke Kokosnüsse anbieten oder sich seelenruhig durch den Höllenverkehr schlängeln.

Der süsse Duft von Jasminblüten steigt in ihre Nase, der sich wie ein kleines Wunder in all dem Gestank durchsetzen kann, und die scharfen Gerichte schmecken ihr köstlich, die es bei den kleinen Garküchen um die Ecke genauso gibt wie in klimatisierten Restaurants. Stundenlang kurvt sie in den Motorrikschas durch die Strassen und kann sich nicht sattsehen an diesem quirligen Treiben und allgegenwärtigen Trubel. Und Lalita weiss: Aus irgendeinem Winkel dieses indischen Molochs kommt sie selber, bevor sie mit 18 Monaten in der Schweiz zu Livia Zgraggen geworden ist.

Ein herziges Kind mit grossen Augen, das mit Nachbarskindern spielt und Geburtstagskuchen isst, das sich über Schneeflocken freut und im Sommer im nahen See schwimmt. So, wie das alle Kinder in Luzern machen und wie sich das die Zgraggens vorgestellt und gewünscht haben. «Unsere Tochter ist glücklich und interessiert sich für alles, was rundum passiert», schreiben sie in einem der regelmässigen Briefe, die sie in den ersten Jahren noch nach Mumbai zu den Schwestern schicken. Einzig die dunkle Hautfarbe passt nicht zum Bild des aufgeweckten Schweizer Mädchens. Doch dafür hat der Vater eine Antwort, wenn jemand fragt: Wir löschten beim Sex das Licht.

Am Stubentisch in Luzern, Sommer 2018

In Luzern nimmt Peter Zgraggen einen Schluck Kaffee und zieht die Brauen über den blauen Augen zusammen. «Wir hatten nie den Eindruck, dass Livia ein Problem mit ihrer Hautfarbe hat», sagt er. Natürlich habe sie gefragt, warum sie anders aussehe als die anderen Kinder hier. «Dann haben wir gesagt, dass sie aus einem anderen Land kommt, aus Indien eben. Und dass dort alle Menschen dunkler sind. Das hat sie so angenommen und akzeptiert. Oder?», fragt er mit Blick zu seiner Frau Lotti und sie nickt.

«Wir haben kein Kind adoptiert, um ein gutes Werk zu tun.»

Peter Zgraggen

Ansonsten war dieses fremde und exotische Land kein Thema in der Familie. «Wozu auch?», fragt der Vater rhetorisch. «Wir haben kein Kind adoptiert, um ein ‹gutes Werk› zu tun – sondern weil wir eine Tochter wollten. Und die gehörte vom Moment ihrer Ankunft an zu uns in die Schweiz. Das Herkunftsland spielte darum für uns keine Rolle mehr. Ausserdem hat sie ja auch gar nie danach gefragt!», sagt er ein bisschen trotzig.

Lotti Zgraggen seufzt. Sie ist rückblickend nicht so felsenfest überzeugt wie ihr Mann, dass sie sich für das richtige Konzept entschieden und keine Brücke gebaut haben. Andere Leute, die sie kennt, schickten ihre Adoptivkinder zum indischen Tanzen, schauten mit ihnen Bücher an und brachten ihnen Kultur und Tradition aus dem Herkunftsland näher. «Ob das besser gewesen wäre? Ich weiss es nicht», sagt die Mutter. Längst ist Livia erwachsen und hat selber eine Tochter, die Zgraggens sind seit 14 Jahren Grosseltern. Die Beziehung zur Tochter empfinden sie heute zwar als ambivalent und fragil, aber grundsätzlich als gut – das war nicht immer so.

Die Adoptiveltern Lotti und Peter Zgraggen im Wohnzimmer in Luzern. (Bild: chw)

«Livia sagt schon lange nicht mehr ‹Mami› zu mir: Seit der Pubertät spricht sie mich nur noch mit Vornamen an: Lotti», sagt die Mutter. Das sei bezeichnend für ihre Beziehung, die ab dem Teenageralter so richtig schwierig geworden sei. Insbesondere mit ihr, der Mutter, habe es viel Streit und Auseinandersetzungen gegeben. «Sie hat sich gegen mich aufgelehnt und in jeder Hinsicht rebelliert», sagt Lotti Zgraggen, der Vater nickt und sagt: «Sie hat Vollgas gegeben! Zum Glück konnte ich bei meiner Arbeit Kraft tanken – sonst hätte ich das kaum ertragen.»

Und die Mutter? Sie zuckt mit den Schultern. Livia, ein anstrengender Teenager, wie das bei vielen Kids der Fall und irgendwie normal ist? Oder war die Pubertät für das Mädchen aus Mumbai mit den schwarzen Haaren und der dunklen Haut noch schwieriger als für ein Girl aus der Schweiz, das zumindest weiss, dass es mit seinen leiblichen Eltern streitet? Nein – die Zgraggens glauben nicht, dass die Adoption etwas damit zu tun hatte. «Livia war und ist unglaublich impulsiv. Ein solches Temperament ist nun mal für alle Eltern schwierig, egal ob leiblich oder nicht», sagt der Vater, hält kurz inne und meint dann: Vermutlich hätte eine andere Tochter ein anderes Temperament gehabt, ziemlich sicher ein phlegmatischeres und möglicherweise wäre das auf eine andere Art auch mühsam gewesen. Wer weiss das schon? Eben!

Herkunft und Familie: unbekannt

Zum zweiten Mal geht es in Mumbai mit der Motorrikscha quer durch die Stadt zum St. Catherine’s Home. Vorbei an Hütten und Palästen, durch Lärm und Staub, mal eingekeilt und hupend im stockenden Verkehr, dann wieder in atemberaubendem Tempo über holprige Strassen, bis die Fahrt vor dem Gittertor mit den farbigen Eisenstäben vor dem Heim endet. Wieder trägt sich Livia im grossen Buch am Empfang ein. Name: Lalita Zgraggen; Ankunft: 14.45 Uhr; Grund: Termin mit Schwester Ananda! Diesmal sind wir angemeldet und die Schwestern sind darauf vorbereitet, dass einmal mehr ein erwachsenes Kind kommt und Antworten einfordert über seine Herkunft.

Und dass sie einmal mehr in die Trickkiste greifen müssen, weil sie selber auch nichts wissen und doch erwartet wird, dass sie etwas sagen können, etwas sagen müssen. Vermutlich ist darum die Wartezeit diesmal kurz bis Schwester Ananda kommt. Und vermutlich breitet sie diesmal darum die Arme herzlich aus für Lalita, heisst sie willkommen wie eine verlorene Tochter und bittet sie in einen Raum, der als Besprechungszimmer genutzt wird. Dort sitzen die beiden dicht nebeneinander auf einem Plüschsofa, umgeben von rosaroten Teddybären und anderen Spielsachen. Ab und zu legt die Schwester ihren Arm um Lalita, während sie so leise und vertraulich auf sie einspricht, dass ihr Flüstern für Aussenstehende im Rauschen des Ventilators versickert.

Lalita hört aufmerksam zu, manchmal nickt oder lächelt sie oder fragt etwas nach. Ihre Augen schauen zufrieden, sie wirkt entspannt und scheint sich wohl und aufgehoben zu fühlen in der Gegenwart dieser älteren Frau, die sich jetzt liebevoll kümmert und sorgt und Auskunft gibt. Nach einem langen und intensiven Gespräch lädt die Schwester ein zu Tee und selbstgemachtem Gebäck im spartanisch eingerichteten Gemeinschaftsraum, der sich im oberen Geschoss des weitläufigen Gebäudes befindet.

Lalita Livia Zgraggen sitzt mit den Schwestern im Gemeinschaftsraum bei Tee und Gebäck. (Bild: chw)

Andere Schwestern gesellen sich dazu, setzen sich mit an den Tisch, stellen neugierig Fragen und freuen sich, Lalita zu begegnen. Als Aussenstehende bin ich offensichtlich kein erwünschter Bestandteil dieser eingeschworenen Gemeinschaft: Schwester Ananda würdigt mich keines Blickes, lässt die belanglosesten Fragen unbeantwortet an sich abprallen und zeigt mir ein freundliches, aber unergründliches Schattengesicht.

Nach kurzer Zeit scheint es, als würde Lalita hier bei den Schwestern dazugehören, als hätte sie schon immer dazugehört. «Ich bin hier immer willkommen, als wäre es mein Zuhause – das hat Schwester Ananda zu mir gesagt», sagt Lalita später.

«Hat mich meine Mutter hier geboren und ist sie es, die mir meinen Namen gegeben hat – Lalita!?»

Lalita Zgraggen

«Und was hat Schwester Ananda sonst noch gesagt?», will ich wissen. «Was erzählte sie auf dem Plüschsofa unter dem rauschenden Ventilator fernab meiner Ohren? Und ist sie fündig geworden im Archiv: Gibt es Fotos oder alte Dokumente?», insistiere ich.

Lalita wimmelt mich ungeduldig ab wie eine lästige Fliege. Nein, noch sei nichts Schriftliches aufgetaucht, obschon sich die Schwester wie versprochen ins Archiv begeben und nachgesehen habe. Falls sich das ändern sollte, bekomme sie die Sachen später in die Schweiz zugeschickt. «Und überhaupt: Nach dem schönen Besuch, der herzlichen Aufnahme, dem offenen Gespräch und den sympathischen Begegnungen mit den Schwestern, ist die Sache für mich erledigt», eröffnet Lalita später im Hotel.

Mehr an Nachforschungen will sie nicht betreiben, sie habe genug erfahren und könne sich jetzt ein Bild machen über den Ort, an dem sie in den ersten Lebensmonaten aufgehoben war – auch wenn sie sich an nichts erinnern kann, ihr nichts vertraut vorkommt bis auf den Geruch nach Seife, der in den Kleidern der Schwestern genauso haftet wie in den Korridoren und Zimmern des Waisenheims.

Das Wichtigste sei ihr jedoch, dass sie bei diesem zweiten Treffen zumindest auf eine ihrer Fragen eine Antwort bekommen habe: «Hat mich meine Mutter hier geboren und ist sie es, die mir meinen Namen gegeben hat – Lalita!?». Und Schwester Ananda hat ihr die Antwort gegeben, die ihr so wichtig ist: «Ja, so ist es – deine Mutter hat dich am 9. Dezember 1979 hier geboren und sie ist es auch, die dir deinen Namen gegeben: Lalita.»

Rosarote Stoffbären und anderes Spielzeug wird für die Kinder aus der ganzen Welt gespendet. (Bild: chw)
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