«Es ist wichtig, dass junge Menschen pornokompetent werden»
Simone Haug erklärt Jugendlichen, wie sie ihren Körper besser kennenlernen können. (Bild: zvg)
Die Sexologin Simone Haug berät in Zug Personen, die ihre Sexualität nicht so leben können, wie sie es wünschen. Ebenfalls diskutiert sie mit Jugendlichen über Themen, welche diese zuhause nicht besprechen können.
Simone Haug hat einen spannenden Lebenslauf vorzuweisen. Die gelernte Pflegefachfrau arbeitete als Stationsleiterin im Spital Limmattal, war als Sozialpädagogin im Massnahmenzentrum Uitikon tätig, hat einen Master in angewandter Ethik und einen in Sexologie. Heute arbeitet die Sexualberaterin und -pädagogin unter anderem für das Fachzentrum «Eff-Zett» in Zug.
Die gebürtige Zürcherin sprach mit zentralplus über hartnäckige Mythen im Bereich Sexualität, darüber, was junge Personen beschäftigt und warum sie nichts von Bananen im Sexualunterricht hält.
warum sich die Forschung an Männerkörpern orientiert
warum Simone Haug jungen Frauen zur Selbstbefriedigung rät
zentralplus: Simone Haug, Sie arbeiten im Spital Limmattal und bei Eff-Zett, das Fachzentrum, als Sexualberaterin. Warum kommen Menschen zu Ihnen?
Simone Haug: In den meisten Fällen, weil sie sexuelle Schwierigkeiten haben. Beispielsweise wegen Lustlosigkeit, weil die Erektion eines Mannes nicht stabil steht oder wegen Schmerzen beim Geschlechtsverkehr.
zentralplus: Es sind also vielmehr körperliche Gründe denn psychische?
Haug: Primär, ja. Natürlich kommt dann auch die psychologische Komponente dazu. Hat jemand Erektionsschwierigkeiten, zieht das oft eine Gedankenspirale mit sich. Was heisst das für die Beziehung? Wie geht es der Partnerin oder dem Partner damit? Was passiert jetzt? Dies wiederum kann einen zusätzlichen negativen Effekt auf die Erektion haben. Oft geht es auch um die Frage, wie attraktiv man sich noch fühlt, gerade nach sichtbaren körperlichen Veränderungen. Etwa, wenn sich jemand nach einer Krebsdiagnose die Brüste entfernen lassen musste oder einen künstlichen Darmausgang bekommen hat.
zentralplus: Den Weg zu Ihnen finden auch Menschen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben.
Haug: Ja. Wurden in der Sexualität Grenzen überschritten, ist es sinnvoll, diese aufzuarbeiten. Gerade im Bereich der sexualisierten Gewalt kann das ansonsten einen Einfluss auf das weitere Sexleben haben. Oft sind es Frauen, die aus diesem Grund Hilfe suchen. Aber es sind auch Männer. Das freut mich jeweils, denn das Thema ist für Männer nach wie vor sehr schwierig.
zentralplus: Wie meinen Sie das?
Haug: Das Thema sexualisierte Gewalt und davon betroffen sein ist weiblich konnotiert. Es hat sich in der Gesellschaft etabliert, dass sich Frauen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, Hilfe holen. Das «Opfersein» passt hingegen nicht in das gängige Selbstbild eines Mannes. Man geht daher von einer hohen Dunkelziffer aus. Dasselbe gilt für häusliche Gewalt. Von körperlicher Gewalt sind in den meisten Fällen Männer betroffen, da sie viel häufiger in Schlägereien geraten. Sich einzugestehen, dass man sich fürchtet oder Probleme hat, ist für viele Männer schwierig. Darum feiere ich jeden Mann, der sich Hilfe holt. Sie sind Vorbilder für ein neues Männlichkeitsbild.
zentralplus: Sie erteilen 12- bis 16-jährigen Jugendlichen im Kanton Zug Sexualunterricht. Was beschäftigt diese?
Haug: Es sind oft dieselben Themen, die schon die Generation vor ihnen beschäftigt hat. So geht es etwa darum, wie man jemandem sagt, dass man ihn mag oder wie es zu einem ersten Kuss kommt. Bei älteren Mädchen geht es auch um Schmerzen beim ersten Mal oder um Fragen rund um das Hymen.
zentralplus: Das klingt tatsächlich nach denselben Fragen, die sich bereits die vorherige Generation gestellt hat.
Haug: Schon. Was sich jedoch verändert hat, ist das Thema Pornografie, das viele Jungen beschäftigt. Hier gibt es sicher Unterschiede zu früher, denn Pornografie ist deutlich verfügbarer als noch vor 20 Jahren. Fast jeder Jugendliche hat ein internetfähiges Handy und viele konsumieren Pornografie. Es ist ein Phänomen, das noch völlig untererforscht und doch omnipräsent ist.
zentralplus: Wer müsste sich dem Thema wissenschaftlich annehmen?
Haug: Meines Erachtens ist das eine Aufgabe der Medienwissenschaften. Doch hat sie das bisher nicht gemacht. Wichtig ist, dass man mit jungen Menschen über dieses Thema spricht und sie pornokompetent werden. Sie müssen wissen, dass in der Pornografie getrickst wird und dass die Filme nicht der Realität entsprechen, sondern hochplakativ sind. Gleichzeitig konsumiert wohl ein grosser Teil der Bevölkerung Pornografie; ob nun mit Filmen, Hörbüchern oder auch Liebesromanen.
zentralplus: Haben sich die Fragen von Mädchen in Bezug auf Sexualität verändert in den vergangenen Jahren?
Haug: Leider nicht.
zentralplus: Leider?
Haug: Buben und ihr Penis, die sind ein eingespieltes Team. Die erkunden ihre Sexualität. Wenn ich mit Mädchen im sexualpädagogischen Workshop über den weiblichen Körper spreche und frage, wie sie ihre eigene Vulva finden, dann beschämt sie das. Viele sprechen nach wie vor von Schamlippen, das finde ich furchtbar. Ein Mythos, den die Gesellschaft abbauen sollte.
zentralplus: Dass die Vulva etwas Beschämendes ist?
Haug: Ja. Solange sich Frauen für ihre Geschlechtsorgane schämen, kann die weibliche Sexualität – vermeintlich – kontrolliert werden. Es ist ein Bild, das Jahrhunderte alt ist. Seit dem Mittelalter war die Kirche die moralische Instanz zum Thema Sexualität. Erst in den letzten rund 50 Jahren hat sich das zu ändern begonnen. Das ist eine verhältnismässig kurze Zeit.
zentralplus: Der Begriff Aufklärung erhält hier eine viel tiefere Bedeutung. Wie kommt man aus diesem hartnäckigen Denken heraus?
Haug: Mir ist es wichtig, dass jugendliche Mädchen wissen, dass sie ihren Körper kennenlernen dürfen, auch ihre Geschlechtsteile. Sie dürfen lernen, wo die Klitoris und die Geschlechtslippen liegen und was bei ihnen passiert, wenn sie mit dem Finger die Vagina erkunden. Nicht selten reagieren die Jugendlichen entgeistert, wenn ich das sage. Das ist für viele sehr weit weg von dem, was sie als erlaubt ansehen. Ich sage nicht, dass sie müssen, aber sie dürfen. Erst wenn ich ihnen dann erkläre, dass es wohl besser ist, wenn sie sich selber berühren, bevor es beim ersten sexuellen Kontakt jemand anders tut, ergibt das für viele einen Sinn.
zentralplus: Warum übernehmen Sie als externe Person den Sexualunterricht? Kann das nicht die Lehrperson machen?
Haug: Eine Lehrperson kann mit ihren Schülerinnen problemlos über Verhütung, physiologische Themen, aber auch etwa unser Bild von Männlichkeit und Weiblichkeit sprechen. Wir übernehmen jene Themen, die den Lehrpersonen aufgrund des Nähe-Distanz-Gefühls schwierig ist. Ich spreche mit ihnen beispielsweise über Selbstbefriedigung oder Analsex, je nachdem, welche Fragen die Jugendlichen umtreibt. Doch auch bei uns im Unterricht thematisieren wir etwa die richtige Anwendung eines Kondoms. Darüber kann man gar nicht genug sprechen. Wendet man es richtig an, bietet es einen guten Schutz. Doch man muss wissen, wie. Und das üben wir. Aber ohne Bananen.
zentralplus: Wieso denn das?
Haug: Die Banane hat durch den Einsatz als Übungsobjekt für Kondome ihre ganze Unschuld verloren. Man kann keine Banane mehr essen, ohne das im Hinterkopf zu haben. Dildos hingegen sind zu nah an der Sexualität. Wir verwenden im Unterricht bunte Styroporpenismodelle.
zentralplus: Mehrere wissenschaftliche Studien stellten in den letzten Jahren fest, dass Menschen heute deutlich weniger Sex haben als noch vor wenigen Jahrzehnten. Was verdirbt uns die Lust?
Haug: Da müssen wir zuerst definieren, was Sex ist. Ist damit nur Paarsex gemeint? Ich sehe Solosex, also Masturbation, als genauso vollwertige Sexualitätsform wie Paarsex. Wenn man das berücksichtigt, bin ich nicht sicher, ob die Menschen wirklich weniger Sex haben. Abgesehen davon: Heute gibt es deutlich weniger Paare und viel mehr Single-Haushalte als noch vor einer Generation. Da scheint es logisch, dass die Menschen weniger Geschlechtsverkehr zu zweit haben. Ich frage mich jedoch: Warum ist die Zahl überhaupt wichtig? Wichtiger wäre doch die Qualität des sexuellen Erlebens. Aber das ist schwieriger zu erforschen.
zentralplus: Worin können insbesondere Frauen noch besser werden in Bezug auf ihre Sexualität?
Haug: Darin, ihren eigenen Körper besser kennenzulernen: in all seinen Facetten und in all dem, was er kann. Und diesen Körper wertzuschätzen, denn er leistet Unglaubliches und ist schlicht grossartig.
Journalistin und langjährige Autorin bei zentralplus. Schreibt über politische Querelen, aufregende Bauprojekte und gesellschaftlich Bewegendes. Am liebsten jedoch schreibt sie über Menschen. Und natürlich Hunde.