So geht eine Luzerner Familie damit um

Diagnose Long Covid: So wirkt sich das auf Beziehungen aus

Chronisch müde und erschöpft: Nicht nur für Betroffene ist Long Covid zermürbend, sondern auch für pflegende Angehörige und Partner. Symbolbild: (Bild: Symbolbild: Jordan Bauer/Unsplash)

Nichts ist, wie es einmal war: Manuel Weingartners Frau Svenja leidet an Long Covid. Den Grossteil der Zeit ist sie ans Bett oder ans Sofa gefesselt. Das hat den Alltag der jungen Familie komplett über den Haufen geworfen. Betroffene wie die Familie Weingartner fühlen sich von der Politik allein gelassen.

Wenn Manuel Weingartner Fotoalben der vergangenen Jahre durchblättert, sieht er eine glückliche Familie. Mit seiner Frau Svenja und den drei gemeinsamen Kindern (4-, 6- und 8-jährig). Wie sie gemeinsam Ausflüge machten. Spaziergänge in der Region mit der Hündin. Oder die Bilder des Camping-Urlaubs mit dem Wohnwagen. Für dieses Jahr mussten sie diesen jedoch streichen.

Beim Betrachten der Fotos bricht es Manuel das Herz. Denn seit diesem Jahr ist alles anders. Ausflüge mit der ganzen Familie? Schweben in weiter Ferne.

Spulen wir zurück: Im Januar 2022 erkrankte die ganze Familie am Corona-Virus. Svenja hatte erst einen milden Verlauf. Doch richtig erholte sie sich auch nach ihrer Genesung nicht. Tägliche Kopfschmerzen, vermehrt Migräne. Bis es dann zum Crash kam, zum ersten schweren Zusammenbruch. Das war zirka zwei Monate nach der Covid-Erkrankung. Im Mai erhielt Svenja schliesslich Klarheit und ihre Diagnose: Long Covid.

Nach der kleinsten Anstrengung folgt der Crash

Auch kleinste Tätigkeiten wie Zähneputzen oder ein kurzer Spaziergang können bei einer sogenannten Belastungsintoleranz zu einem Crash führen. Bei Svenja äussert sich das so: Kopfschmerzen. Migräne. Halsschmerzen. Gliederschmerzen. Der Puls schellt hoch, die Hände zittern. Hinzu kommen Schwindel und Übelkeit. Dieses Phänomen heisst PEM (Post-Exertional Malaise). Das Einzige, was hilft: Die eigenen Ressourcen und Kräfte strikt einteilen, das sogenannte «Pacing».

So wie Svenja geht es vielen. Offizielle Zahlen gibt es in der Schweiz nicht. Der Verein Long Covid Schweiz schätzt, dass hier über 300'000 Menschen an Long Covid leiden. Noch fehlt eine gute Therapie dagegen. 

Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) liegt Long Covid vor, wenn nach einer Infektion mit dem Corona-Virus innerhalb von drei Monaten Symptome auftreten, die mindestens zwei Monate andauern und sich nicht durch andere Ursachen erklären lassen. Die häufigsten dieser Symptome sind Erschöpfung, Kurzatmigkeit sowie kognitive Beeinträchtigungen.

«Alles ist ein Auf und Ab.»

Manuel Weingartner

«Alles ist ein Auf und Ab», erzählt Manuel. «Im Grossen und Ganzen würde ich sagen, ist Svenja ungefähr zu 80 Prozent ans Bett oder Sofa gefesselt. Die restlichen 20 Prozent kann sie sitzen, aber nicht wirklich etwas machen.» Ausser etwas Kinderbetreuung.

Das hat natürlich den Familienalltag komplett über den Haufen geworfen: «Von einem Tag auf den anderen musste ich zu Hause alles übernehmen.» Den Haushalt schmeissen, die Kinder und seine Frau betreuen, der Arbeit nachgehen, mit dem Hund täglich spazieren. Alles bleibt nun an ihm hängen. «Die ganze Mental Load ist jetzt bei mir», so der Luzerner. Also die ganze psychische Belastung.

Manuel Weingartner lebt mit seiner Familie in Weggis. (Bild: zvg)

Long Covid ist auch für Angehörige ein grosser Einschnitt

Die Diagnose einer chronischen Krankheit ist auch für das Umfeld oftmals ein grosser Einschnitt.

Der gesunde Partner nimmt meistens die Rolle des starken und stützenden Teils ein. Diese Rolle verlangt fast übermenschliche Kräfte. «Der gesunde Partner stellt eigene Bedürfnisse oft völlig zurück und ist chronisch überfordert», sagt etwa Psychologin Heike Meissner gegenüber «Die Welt». Nicht selten wird auch der gesunde Partner krank.

So war es auch bei Manuel. Zwar war seine Frau optimistischer als er. «Wir sprachen von Anfang an alle über unsere Sorgen und Ängste. Ich war besorgter und pessimistischer als Svenja.» Seine Frau lebe mehrheitlich im «Hier und Jetzt», während er mehr darüber nachdenke, wie es dazu kam – was ihn wütend macht; Denn es hätte verhindert werden können. Doch dazu später mehr. Auch Zukunftsängste spielen mit.

Alles zurückstecken – für die Familie

Ein paar Monate brachte Manuel alles unter einen Hut. Er hat einen Job in der IT und zum Glück eine sehr verständnisvolle Arbeitgeberin, wie er sagt. Er konnte viel Betreuungsurlaub beziehen. Morgens ging er mehrheitlich seinem Job nach, während zwei der drei Kinder in der Schule waren. Das vierjährige Kind wurde vor allem von Manuels Vater gehütet. Nachmittags übernahm Manuel die Familie.

«Ich musste funktionieren und arbeiten. Aber zu Hause war nichts mehr okay.»

Das ging aber nicht, ohne dass er alles reduzieren musste, was nicht mit seiner Familie zu tun hat. Sein Nebenjob als freiberuflicher Comedyautor: auf Eis gelegt. Sein politisches Engagement: dito. Treffen mit Freunden: stark zurückgesteckt.

Bis zur Erschöpfungsdepression

Manuel kommt immer mehr an seine Grenzen. Besonders während der Lohnarbeit: «Der Spagat zwischen der Lohnarbeit und der Situation zu Hause war enorm», so Manuel. «Ich musste funktionieren und arbeiten. Aber zu Hause war nichts mehr okay. Ich wusste: Meine Frau leidet zu Hause und ich kann ihr nicht helfen. Der Berg der Haushaltsarbeiten wird immer grösser, die Kinder kommen bald hungrig nach Hause, meine Eltern sind langsam vom vielen Hüten erschöpft …»

Oft kam er auch an die Grenzen mit den Kindern: «Die Geduld und die Nerven wurden immer kleiner.» Schliesslich suchte sich Manuel im August Hilfe. Die Diagnose: Erschöpfungsdepression. Seither ist er zu 100 Prozent krankgeschrieben, geht in eine Therapie und nimmt Medikamente. Diese stabilisieren ihn langsam, aber sicher, wie er erzählt.

Long Covid schweisste das Paar zusammen

Erkrankt der eine Partner, so ist das eine Belastungsprobe für die Beziehung. Manuel kann der Situation trotz der Turbulenzen im Alltag auch Positives abgewinnen: «Uns hat das Ganze eher noch zusammengeschweisst.» Und weiter: «Ich widme aktuell 100 Prozent der Familie und wir kämpfen von Therapie zu Therapie, mit der Hoffnung, dass der Horror irgendwann mal vorbei ist.»

«Die Krankheit stand und steht leider schon über allem.»

Expertinnen raten, dass man «möglichst viel Normalität» in den Alltag bringen soll. Das ist natürlich einfacher gesagt als getan – wenn die Lebenswelt einer Person aufs Bett oder ein Zimmer zusammengeschrumpft ist. «Wir müssen jeden Tag irgendwie koordinieren und planen, damit möglichst – für die Kinder – die Normalität im Alltag erhalten bleibt», sagt Manuel.

Offen über Sorgen sprechen

Geholfen hat dem Paar sicherlich die offene Kommunikation miteinander. «Wir wussten immer, wie es dem anderen geht, ob er oder sie gerade in einem mentalen Tief ist oder nicht. So konnten wir uns gegenseitig oft gut unterstützen und aufbauen. Mit Verständnis dem anderen gegenüber. Oft auch mit Humor und Sarkasmus.» Und Optimismus. Dennoch: «Die Krankheit stand und steht leider schon über allem.»

Finanziell kommt die Familie noch gut über die Runden, da Manuel einen gut bezahlten IT-Job hat. Beziehungsweise: Momentan hält sich die Familie sich mit Manuels Krankentaggeld über Wasser.

Vermissen die Kinder das «frühere» Mami?

Auch für die Kinder ist es keine einfache Situation. Manuel erzählt, wie die Kleinkinder mit ihrem eigenen Taschengeld Schokolade kauften und diese gemeinsam mit einem Blatt mit den Worten «Gude Beserung!» vor die Schlafzimmertüre der Mutter legten.

Das kleinste Kind frage sehr oft, wann Mama endlich wieder gesund sei. «Da ist sicher ein Vermissen vom früheren Mami da.» Und dann die vielen Umstände. Plötzlich kocht Papa? Und an bestimmten Tagen geht's nach der Schule neu zu Oma und Opa? Diese Veränderungen würden die Kinder aber sehr gut aufnehmen. Und die grösseren Kinder fragen viel nach und erzählen auch im Dorf allen, was Long Covid ist. Und dass sie auf ein Medikament warten, das ihre Mama wieder gesund macht.

Enttäuscht von der Politik

«Es macht mich oft traurig, dass eine Krankheit so viel kaputt machen kann», sagt Manuel. Vor allem macht es ihn wütend, wie es so weit kommen konnte. Wütend ist er vor allem auf die Politik. «Es hätte immer verhindert werden können – politisch.» Sehr wahrscheinlich brachten die Kinder das Corona-Virus von der Schule nach Hause. Zu einem Zeitpunkt, als in den Schulzimmern weder Luftfilter noch Masken im Einsatz waren. Und Kinder noch nicht geimpft werden durften.

«Die Politik hat es in der Hand, Gelder für die Forschung zu sprechen. Sie hat es in der Hand, Ärztinnen und Ärzte auszubilden, weiterzubilden und für die Krankheit zu sensibilisieren.» Doch es fehle an Betreuungsleitfäden, es fehle an Aufklärung allgemein. «Wie oft treffe ich Leute an, die nicht einmal wissen, was Long Covid ist», so Manuel. «Viele Betroffene werden alleine gelassen.» (zentralplus berichtete)

«Die Ärzte sind der Meinung, dass Betroffene nach zwei Jahren gesund sein müssen und psychologisieren die Beschwerden oft.»

Chantal Britt, Long Covid Schweiz

Auch Chantal Britt von Long Covid Schweiz kritisiert die fehlende Unterstützung. Keine der Parteien schreibe sich das Thema auf die Fahne. Der Bundesrat umschiffe das Thema. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) habe zwar mit der FMH die Ausarbeitung von Leitlinien für die Diagnose und Behandlung von Long Covid initiiert. «Das ist ein wichtiger Schritt.» Doch es brauche Register, um das Problem zu quantifizieren und Kompetenzzentren, um Long-Covid-Betroffene angemessen zu versorgen. Und nicht zuletzt ein gezieltes Forschungsprogramm, um Long Covid zu bewältigen.

Die meisten leiden an Belastungsintoleranz – doch die wird weder diagnostiziert noch behandelt

Viele Betroffene seien verzweifelt, schreibt Chantal Britt auf Anfrage. Wer in der ersten Coronawelle erkrankt ist und auch an Long Covid, der sei nun seit mehr als 2,5 Jahren am Leiden.

«Den Arbeitgebern geht langsam die Geduld aus. Die Ärzte sind der Meinung, dass Betroffene nach zwei Jahren gesund sein müssen und psychologisieren die Beschwerden oft, was zu Fehldiagnosen und Fehlbehandlungen führt.» Für Betroffene sei dies fatal. «Nach zwei Jahren gehen bei den meisten die Taggelder aus, sie verlieren ihren Job und enden beim Sozialamt.»

In einer Umfrage der Patientenorganisation, an der knapp 600 Betroffene teilgenomen haben, fand man heraus: Mindestens 90 Prozent der Betroffenen, die nicht gesund werden, leiden unter Belastungsintoleranz – wie auch Svenja. «Das ist das wichtigste Symptom», sagt Chantal Britt. «Es wird von den Ärzten aber weder diagnostiziert noch behandelt.» Dadurch würden viele falsch behandelt und erlitten dadurch eine Symptomverschlechterung. 

Hoffen, dass es wieder wie früher wird

Bereits vor der Erkrankung plädierte Manuel für mehr Massnahmen und äusserte sich darüber in den sozialen Medien. Er warnte auch vor Long Covid. «Und jetzt hat es genau uns getroffen.» Die, die sich ständig geschützt und eingeschränkt haben. Die für strengere Massnahmen waren, die nicht ergriffen wurden.

Wird es je wieder wie früher? Irgendwie bleibt nichts übrig, als sich an dieser Hoffnung festzuklammern. Die Hoffnung, dass das Fotoalbum wieder mit neuen Fotos der Ausflüge zu fünft gefüllt wird.

Verwendete Quellen
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