Von Nazi-Wien nach Meggen: Das bewegte Leben einer Pionierin
Die 96-jährige Susann Schmid-Giovannini hat Hunderten hörbehinderten Kindern geholfen – und sie arbeitet weiter. Im Gespräch erzählt die Meggerin von ihrem Schaffen und ihrer schweren Jugend im nazibesetzten Wien.
Susan Schmid-Giovannini ist voll dabei. Sie schreibt Bücher, empfängt Studentinnen für Fachgespräche und besucht Vorlesungen und Kongresse. Auf die Feststellung der Schreibenden, dass sie aber ganz schön im Saft sei, erwidert Schmid aufrichtig erstaunt: «Ja, natürlich! Wieso denn nicht?», während sie gleichzeitig versucht, ihre Hörgeräte zum Laufen zu bringen. Schmid ist 96 Jahre alt. Es sei zwar schon so, dass «ich mittlerweile ein wenig krumm bin», dass der Körper da und dort schmerze. Na und?
Wenig später funktioniert zumindest das linke Hörgerät. Fürs Gespräch reicht das, beschliesst sie. Die Schwerhörigkeit ist die Konsequenz eines gefährlichen Blutsturzes, den Schmid vor fünf Jahren erlitt. «Das Gehör braucht sehr viel Sauerstoff und wurde durch den hohen Blutverlust unwiderruflich beschädigt», sagt sie.
Nun ist sie selbst von einer Hörbehinderung betroffen
Schlimm findet sie das nicht. Schmid weiss sehr genau, wie gut man auch mit einem beschädigten Gehör funktionieren und am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann. Schliesslich hat sie diesem Thema ihr gesamtes Leben gewidmet. Genauer gesagt dem Ziel, gehörgeschädigte Kinder in die Gesellschaft zu integrieren. Die gebürtige Wienerin ist eine Pionierin der auditiv-verbalen Erziehung, einer Methode, bei der gehörgeschädigte Kinder schon von Geburt an das Hören und Sprechen lernen. «Gebärden habe ich nie verwendet», sagt sie.
«Als ich zum ersten Mal, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, als Lehrerin in die Taubstummenanstalt Wien-Speisig kam, war ich erschüttert. Die Kinder verständigten sich mit primitiven Gebärden, die sich von Klasse zu Klasse unterschieden.» Dabei wusste sie längst, dass auch hörbehinderte Kinder sprechen lernen können. «Bereits als Kind war ich durch meinen Onkel in Kontakt mit gehörlosen Schülern gekommen und las etwa mit ihnen Bücher.»
Sie wendete sich ratsuchend an ihn. «Er erklärte mir, dass ich in der Schule nicht mehr viel ändern könne, da mit der Erziehung in Lautsprache im Kleinkindalter begonnen werden müsse.» Es war eine Erfahrung, welche Schmids weiteren Lebensweg als Pionierin der auditiv-verbalen Erziehung prägen sollte.
Lebensmut trotz schlimmer Erfahrungen
Wenn Schmid-Giovannini erzählt, spürt man nicht nur einen gewaltigen Lebensmut, sondern auch eine grosse Liebe den Kindern gegenüber, die sie über die Jahre begleitet hat. Dass die 96-Jährige diese Empathie entwickeln und beibehalten konnte, ist nicht selbstverständlich. Denn ihre sehr glückliche Kindheit nahm mit zehn Jahren ein abruptes Ende.
«Als die Nazis Wien besetzten, wurde mein Vater als Judenfreund bezeichnet. Sie nahmen ihn mit und steckten ihn in eine Art Arbeitslager. Sie vergasten ihn nicht gerade, denn seine Kenntnisse beim Kartenzeichnen waren ihnen nützlich.» Wo er war und ob er überhaupt noch lebte, wusste das Mädchen jahrelang nicht. Ihre Mutter starb, als Schmid zwölf war. Auch ihr Zuhause verschwand. Wortwörtlich.
Eines Tages war ihr Haus weg
«Als ich eines Tages von der Schule nach Hause kam, war das Haus weg, in dem ich gewohnt hatte. Alles war zerbombt», erzählt Schmid. «Meine Verwandten fürchteten sich davor, die Tochter eines Judenfreundes aufzunehmen, so konnte ich jeweils höchstens eine Woche bei jemandem unterkommen. An meinen Lebensmittelmarken zeigte man deutlich grösseres Interesse als daran, mich aufzunehmen.» Sie sagt weiter: «Ich nehme ihnen das nicht übel. Die Zeiten waren gefährlich und geprägt von Angst.»
Mit 14 Jahren begann Schmid eine Ausbildung im Lehrerseminar in Aussig, dem damaligen Sudetenland. Diese durfte sie jedoch nicht abschliessen. Von den Nazis wurde sie nach Wien zurückgerufen und in ein nationalsozialistisch geführtes Internat gesteckt, wo sie ihre Ausbildung hätte beenden sollen.
«In diesem Internat wollte man mich umerziehen und auf den deutschen Weg führen.» Sie sagt lakonisch: «Das ist ihnen nicht gelungen. Sie haben ja nur Hass gesät.» Sie verliess das Heim, nachdem dieses bombardiert worden war. Die beste Freundin ihrer Mutter erbarmte sich der Jugendlichen. «Wir lebten zu zweit in einer Einzimmerwohnung mit Küche sowie einer Toilette im Hof in einer Wiener Vorstadt. Das war ein grosser Luxus. Andernorts leben drei Familien in solchen Wohnungen.»
Unter Kohlesäcken vor den Sowjets versteckt
Die Hausbesitzerin war freundlich und teilte ihr Essen mit den beiden. «Wir assen zunächst das Gemüse aus dem Garten. Später die Hasen. Dann das Hasenfutter. Dann gab es nichts mehr.» Die Frauen begannen, Löwenzahnblätter zu sammeln. «Das ist zwar per se gesund. Isst man jedoch nur das, ohne Salz und nichts, wird es schwierig. Wir hatten sehr gehungert.»
Am Schluss des Zweiten Weltkriegs besetzte ein erster Trupp der Roten Armee Wien. «Das war eine schreckliche Zeit. Die Besetzung war viel schlimmer als die Bomben. Mit diesen hatten wir zu leben gelernt. Ich musste mich jeden Abend im Keller unter Kohlesäcken verstecken, um nicht von den Sowjets vergewaltigt zu werden. Sie waren unglaublich brutal.» Die Situation entspannte sich mit der Entsendung einer zweiten Welle deutlich zivilisierterer russischer Truppen.
Mit 19 Jahren, kurz nach dem Krieg, begann sie ihre Arbeit als Lehrerin der obengenannten «Taubstummenanstalt Wien-Speisig». «Es fehlte in dieser Zeit überall an Lehrkräften und für mich war es wichtig, möglichst schnell eine Anstellung zu finden», sagt sie. «Doch kaum angefangen, wurde ich von einer adligen Familie ins Tirol geholt, die selbst ein vermeintlich taubstummes Kind hatte.» So fuhr sie in der «Holzklasse» mit dem Zug in Richtung Westen. «Ich sass zwar im 3.-Klass-Abteil, fühlte mich jedoch wie im 1.-Klasse-Luxuszug, da ich endlich von der Demarkationsgrenze und von der russischen Besatzung wegkam. Das war eine grosse Befreiung für mich», so Schmid heute.
Von einem Extrem ins andere
Von Wien, wo Schmid während des Kriegs Hunger litt, reiste sie zu dieser Familie, die in einem Schloss lebte und wo alles im Überfluss vorhanden war. «Jeden Morgen wurde ich noch im Bett und unter Aufsicht gezwungen, Porridge zu essen. Grässlich. Aber: Ein Jahr später verliess ich das Schloss 15 Kilo schwerer.» Um die Tochter der Familie kümmerte sich Schmid in dieser Zeit liebevoll, «obwohl es sich sehr rasch herausstellte, dass dieses nicht hörgeschädigt, sondern geistig beeinträchtigt war. Das wollten die Eltern jedoch nicht wahrhaben.»
Wieder zurück in Wien, arbeitete Schmid in einem neuerrichteten und von der Schweizer Spende finanzierten Sonderkindergarten. Dort leitete sie die Gruppe für Hörgeschädigte und entwickelte dort ihre Methoden für die auditiv-verbale Erziehung der Kinder. «Ich begann meine Arbeit ohne jegliche technischen Hilfen, doch ich wusste, wie man Kinder mit einer hochgradigen Hörschädigung zur Lautsprache erziehen konnte», erzählt sie.
Holland war viel weiter
1953 reiste Schmid dank einem Stipendium nach Holland und realisierte, wie weit fortgeschritten man dort bereits war in der Erziehung hörgeschädigter Kinder. «Die Schüler hatten eine normale Sprache, kommunizierten lautsprachlich fliessend – auch untereinander – und alle hatten Hörhilfen.» Das wollte auch sie in Wien, wurde jedoch überall abgewiesen. «Erst Ende der 50er erhielt ich erste Hörgeräte für die Kinder. Dies von einer Firma, die keine Angst hatte vor schlechter Propaganda.»
Sie arbeitete 16 Jahre lang in Wien mit Gehörlosen, lehrte sie das Hören und Sprechen nach ihrer eigens entwickelten Methode. «Diese war zwischenzeitlich ziemlich bekannt geworden. Die gute Lautsprache meiner Schüler wurde von vielen bewundert.»
Ein rauer Wind erwartete Schmid in der Schweiz
Jahre später lernte die Wienerin einen Schweizer kennen, heiratete und siedelte in die Schweiz über. Hier wehte ihr in den 60er-Jahren ein rauer Wind entgegen. «Alle Türen der Sonderschulen schlossen sich für mich. Die Angst, dass ich auch in der Schweiz mit der Integration beginnen könnte und dass die Lautspracherziehung jegliche gebärdenorientierte verdrängen würde, war gross.»
Sie ergänzt: «Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin keine Gegnerin der Gebärdensprache, doch sollte ein Kind die Möglichkeit erhalten, sich vollständig in der Gesellschaft integrieren zu können. Einige meiner Schüler wurden Ärzte. Doch wie soll man operieren können, wenn man nur die Gebärdensprache hat?»
Dass der Audiopädagogin alle Türen verschlossen blieben, bezeichnet sie heute als «grosses Glück». Im Kantonsspital Luzern zeigte man sich nämlich deutlich offener und Schmid-Giovannini begann dort als Therapeutin zu arbeiten. «Ich konnte in der Folge alles das machen, was meine Kollegen eigentlich verhindern wollten.»
Eltern aus der ganzen Schweiz begannen, mit ihren Kindern ins Luzerner Kantonsspital zu reisen. «Als die ersten Beratungskinder das Schulalter erreichten und keine für sie passende Schule gefunden werden konnte, beschlossen die Eltern, eine Privatschule zu gründen und baten mich, die Leitung zu übernehmen.»
Die Sonderschule entstand 1973 in Meggen, wo Schmid heute wohnt. Dies im Regelschulhaus Hofmatt 2. «Wir wurden bestaunt wie der erste Elefant in Europa.» Ihre Schülerinnen teilten den Schulhof mit den anderen Kindern. Nach anfänglichen Berührungsängsten kamen die Hörenden und Hörgeschädigten miteinander in Kontakt. «Die Schüler der Regelklassen realisierten erstaunt, dass man mit meinen Kindern reden konnte. Und dass sie genau so gut Fussball spielen können.»
Durch das Cochlea-Implantat wurde die Sonderschule unnötig
Schmid-Giovannini achtete darauf, dass sie mit den Kindern denselben Schulstoff behandelte wie die Lehrer der Regelschule. «Irgendwann fragte ich, ob wir den Deutschunterricht nicht gemeinsam abhalten konnten. Zögerlich gewährte man uns die Bitte, doch mussten wir zunächst an der Wand sitzen, als wären wir ansteckend.»
Als der Lehrer eine Frage stellte, die nur ein hörgeschädigtes Kind beantworten konnte, habe sich die Haltung im Schulzimmer zu verändern begonnen. «Wer gut war in einem Fach, konnte in die Regelklasse wechseln.» Später wurde es zum Ziel, dass die Kinder nicht mehr für den Unterricht nach Meggen kamen, sondern diesen in ihrer eigenen Gemeinde besuchten. Schmid-Giovannini sorgte dafür, dass die Kinder bis zum Schuleintritt gut vorbereitet waren und beispielsweise schon lesen konnten.
Irgendwann kamen die ersten Hörgeräte auf den Markt, welche Schmids Arbeit deutlich erleichterten. So nach langer Forschungszeit auch das Cochlea-Implantat (CI). Erst in den Achzigern wurde eine Operationstechnik entwickelt, die so weit fortgeschritten war, dass es möglich wurde, auch Kleinstkindern mit einem CI zu versorgen. «Die Hörerziehung wurde Wirklichkeit.» Die von Schmid in der Beratungsstelle betreuten Kinder konnten in der Folge bereits den Regelkindergarten besuchen und mit ihren Kameraden in die Regelschule eintreten. «Unsere Schule wurde immer weniger notwendig und schliesslich schlossen wir sie.»
Die Pionierin und «ihre Kinder»
Spricht die 96-Jährige von ihren ehemaligen Schülern, redet sie von «meinen Kindern». Mehrere von ihnen nahm sie als Pflegekinder privat auf, einen Jungen adoptierte sie. «Er ist heute Ingenieur», sagt sie und lächelt. Viele der Kinder, die ihre schulische Laufbahn bei Susann Schmid-Giovannini begannen, sind Akademiker geworden.
Während sie von ihrer Zeit als Audiopädagogin erzählt, hält sie plötzlich inne, schaut aus dem Fenster und sagt gedankenverloren: «Wenn ich könnte, würde ich gleich noch einmal anfangen.»
Die grosse Zuneigung, welche die gebürtige Österreicherin für ihre früheren Schüler empfindet, ist offenkundig. Auf die Frage, wie es ihr gelungen sei, die Empathie zu behalten, während sie als Jugendliche im Krieg so viel Leid erfuhr, sagt sie: «Ich erlebte eine sehr schöne Kindheit. Wir haben in der Familie viel Musik gemacht, ausserdem habe ich Ballett getanzt. Ich glaube, diese frühen Erfahrungen haben mir sehr geholfen. Ich hatte auch in den schlimmsten Zeiten genügend Gründe, um diese zu überstehen.»
Hegard, 12.05.2024, 23:58 Uhr Sehr Interessanter Bericht !Ich hatte selbst mal Kontakt mit Gehörlosen und weis von was Frau Schmid spricht! Und fand es vor 40 J auch daneben, wie konservativ katholisch die Gehörlosen behandelt wurden. Wie die Fremdplatzierung. " mehr meinids ja nor Guet" Ich hoffe Frau Schmid hatte viel Erfolg, denn Mann hört oder begegnet heute keine Schwerhörigen Wenn dies nun mit Hörgeräte usw gelöst wurde, finde ich dies wunderbar, sodass Geöhrgeschädigte normal in unser Gesellschaft Integriert sind.