Nun wohnen vier Generationen in einer Wohnung

Der lange Weg einer 82-jährigen Ukrainerin nach Baar

Urgrossmutter, Grossmutter, Mutter und Kind sind nun vereint. (Bild: zvg)

Albina und Svetlana sind in Sicherheit: Die 82-jährige Ukrainerin und ihre 59-jährige Tochter haben im Kanton Zug eine vorübergehende Bleibe gefunden. Damit dies überhaupt möglich war, verbrachte der Baarer Marc Stampfli seine «Ferien» statt in Spanien mit einer Autofahrt an die ukrainische Grenze und zurück. Ein denkwürdiges Abenteuer.

Bei Familie Stampfli zu Hause herrscht ziemlicher Betrieb. Neben Marc Stampfli, seiner Frau Iryna und ihrem gemeinsamen Kind leben neuerdings auch Irynas Mutter und Grossmutter in der 4-Zimmer-Wohnung. Eine unverhoffte beschwerliche Reise führte die 59- und die 82-Jährige in die Schweiz und damit in Sicherheit.

Wir besuchen die Familie in ihrem Zuhause in Baar, denn wir möchten ihre Geschichte hören. Wir klingeln, die Türe öffnet sich und vor uns stehen vier Generationen: «Babuschka» Albina, ihre Tochter Svetlana und deren Tochter Iryna, die wiederum ihren 1-jährigen Sohn im Arm hält. Auch von Irynas Mann Marc Stampfli und dessen Freund Klaus Bauer werden wir herzlich begrüsst.

Aus Drohgebärden wird ein realer Krieg

Während sich die zwei Frauen der älteren Generation zurückziehen, werden wir ins Esszimmer gebeten. Marc Stampfli beginnt zu erzählen: «Als der Krieg anfing, dachten wir erst, das seien leere Drohgebärden Putins. Nie hätten wir erwartet, dass er ernst macht.»

Und weiter: «Meine Frau, unser Kind und ich waren in Spanien in den Ferien, als der Krieg tatsächlich ausbrach. Erste Städte wurden bombardiert. Jede Nacht standen wir auf, telefonierten voller Sorge mit Irynas Verwandten. Wir hatten grosse Angst, dass die Verbindung zusammenbrechen könnte.»

«Richtig Angst bekamen wir alle, als das Atomkraftwerk in Saporischschja bombardiert wurde.»

Iryna Stampfli

Seine Frau ergänzt: «Meine Mutter und Grossmutter wollten zuerst gar nicht aus ihrer Stadt Dnipro flüchten. Sie dachten, die Sache sei schnell wieder vorbei. Zum ersten Mal richtig Angst bekamen wir alle, als jedoch das Atomkraftwerk in Saporischschja bombardiert wurde.» Dieses liegt nur etwa 70 Kilometer südlich von Dnipro.

«Auch waren wir besorgt, dass es einen Luftalarm geben und Dnipro bombardiert werden könnte. Meine Grossmutter ist 82 Jahre alt. Die nächste U-Bahn-Station von ihrem Zuhause ist zu Fuss 15 Minuten entfernt», sagt Iryna.

Über Nacht packten sie die wichtigsten Sachen

Aus Spanien versuchte die Familie, eine Fluchtmöglichkeit für Mutter und Grossmutter zu organisieren. «Ich sprach mit Freunden aus Dnipro, die mit dem Auto flüchteten. Doch sie hatten keinen Platz. Es ist nachvollziehbar, dass sie erst für ihre eigenen Familien sorgten», sagt Iryna Stampfli. «Für jemanden, der nicht mehr gut zu Fuss ist, sind Züge mühsam, Autofahren können die beiden nicht», ergänzt ihr Mann. «Als Lösung kam letztlich der Bus in Frage.»

Baar-Ukraine-Baar: Eine lange Fahrt erwartete die beiden Zuger. (Bild: zvg)

Eigentlich hatten Mutter und Grossmutter gehofft, vor ihrer Reise eine Woche Zeit zu haben, um ihre Angelegenheiten in Dnipro in Ordnung zu bringen. «Plötzlich hiess es jedoch, sie sollen bereits den Bus am kommenden Tag nehmen.» Über Nacht entschieden sie, diesen zu nehmen und packten ihre Rucksäcke. «Ob sich je wieder eine Möglichkeit für einen Transport böte, war unklar», erzählt der Baarer. «Nun hatten sie also Platz in einem Bus, der zur polnischen Grenze fuhr. Aber was dann?»

Flug nach Polen bekommen? Unmöglich

Die Stampflis brachen ihre Ferien ab und reisten zurück in die Schweiz. «Ich wäre am liebsten gleich nach Polen geflogen, doch es war unmöglich, einen Flug zu bekommen», erinnert sich Marc Stampfli. Er beschloss, selbst mit dem Auto bis zur ukrainischen Grenze zu fahren.

«Von meinem Arbeitgeber hatte ich das Okay, für ihn war klar, dass Familie an erster Stelle kommt.» Damit er nicht die ganzen 3’200 Kilometer alleine zurücklegen musste, fragte er seinen Freund Klaus Bauer an, ob er mitkommen wolle. Dieser sagt dazu: «Ich dachte, ich spinne, als ich Marcs Nachricht las.»

«Da dachte ich kurz: Scheisse, was mache ich da?»

Klaus Bauer, Freund der Familie Stampfli

Sein Chef sei anfangs nicht sonderlich begeistert gewesen von der Idee. «Am Freitagmittag hatte ich jedoch dessen Zusage.» Erst da sei ihm aufgegangen, auf welches Abenteuer er sich eingelassen hatte. «Als ich den Flugradar konsultierte, sah ich, wie nahe der ukrainischen Grenze zwei Boeing-Flugzeuge des Typs B-52H kreisten, also amerikanische Bomber. Da dachte ich kurz: Scheisse, was mache ich da?»

Kurze, aber intensive Vorbereitungen

Einen Tag lang bereiteten sich die beiden Männer vor. «Wir kauften genügend Lebensmittel und packten viel Wasser ein. Ebenfalls nahmen wir zusätzlich Benzin mit. Das stellte sich als gute Idee heraus. In Polen ist der Treibstoff nämlich aktuell rationiert», sagt Marc Stampfli.

Je näher man der ukrainischen Grenze kommt, desto leerer die Autobahnen. (Bild: zvg)

Am Sonntagmorgen ging’s früh los. Via München, Wien, durch die Slowakei. «Erst dort merkten wir, dass vermehrt Militärfahrzeuge unterwegs waren und Kontrollen durchgeführt wurden», so Stampfli. Das Problem: «Wir wussten zwar, dass unser Ziel in Polen liegt, doch noch war unklar, welchen Grenzübergang unsere Verwandten nehmen würden. Zum Glück hatten wir mehrere Handys und ein iPad mit SIM-Karte dabei, mit dem wir navigieren konnten.»

Mitten in der Nacht klingelt das Telefon

Noch in der Slowakei beschlossen die zwei Freunde, in einem Hotel zu übernachten. «Das war ein Glück. Denn alle Hotels nahe der ukrainischen Grenze waren voll.» Nach einem ganzen Tag Fahrt waren die beiden fix und fertig. «Wir haben unbedingt Schlaf gebraucht. Doch mitten in der Nacht rief uns Svetlana sehr aufgebracht von der ukrainisch-polnischen Grenze aus an. Es sei alles so schlimm, berichtete sie aufgewühlt. Währenddessen musste Iryna von der Schweiz aus übersetzen», sagt Stampfli.

Bei einem Einkaufszentrum an der ukrainischen Grenze versammeln sich die Geflüchteten. (Bild: zvg)

«Ich habe versucht, sie so gut wie möglich zu beruhigen. Wir hätten nicht losfahren können, wir waren so übermüdet.» Früher als geplant ging es am Montagmorgen weiter in Richtung der ukrainischen Grenze, vier Stunden entfernt. «Wir fuhren durch die Karpaten, der Verkehr lichtete sich zusehends. Wir mussten aufpassen, dass wir nicht aus Versehen selbst die ukrainische Grenze passierten», sagt Klaus Bauer.

Zwölf Stunden mussten die beiden Frauen an der Grenze anstehen

Währenddessen standen die 82- und die 59-Jährige zwölf Stunden in der Schlange, bis sie die Grenze passieren konnten. «Normalerweise dauert das deutlich länger, durchschnittlich warten die Menschen etwa 24 Stunden. Doch erlitt die Grossmutter zwei Mal einen Kreislaufkollaps, weshalb sie vorgelassen wurden», erzählt Stampfli. «Dass wir per Handy in Verbindung waren, hat uns gerettet. Wir wissen nicht, was wir ohne diese Möglichkeit gemacht hätten.»

Das erste warme Essen nach der tagelangen Flucht: Svetlana (l.) und Albina auf der Reise in die Schweiz. (Bild: zvg)

Am Montagmittag finden Stampfli und Bauer die beiden Familienmitglieder. Ein Ramen-Stand, vor dem Einkaufszentrum, in dem Tausende Flüchtlinge warteten, diente als Treffpunkt. «Das war ein sehr emotionaler Moment.» Nun gings den weiten Weg wieder zurück in die Schweiz. Je weiter sich die Gruppe von der ukrainischen Grenze entfernte, desto mehr fiel die Anspannung von ihnen ab. Am Dienstagabend, dem 8. März, erreichten sie die Schweiz.

«Die administrativen Angelegenheiten waren ziemlich umständlich und emotional schwierig für alle.»

Marc Stampfli

Entspannen konnten sich Svetlana und Albina jedoch nicht nach ihrer Ankunft. Denn erst einmal mussten alle administrativen Angelegenheiten erledigt werden. «Das war ziemlich umständlich und auch emotional schwierig für alle», erzählt Marc Stampfli.

Schutzstatus S erleichterte die Situation

Als Svetlana und Albina die Schweiz erreichten, galt der Schutzstatus S noch nicht. «Wir wussten zwar, dass die Ukrainerinnen sicher für 90 Tage in der Schweiz bleiben dürfen. Was mir jedoch Sorgen bereitete, war die Frage der Krankenversicherung. Gerade wegen Irynas Grossmutter, die auf Medikamente angewiesen ist», sagt Marc Stampfli.

Er fragte beim Staatssekretariat für Migration an, dieses jedoch wusste in vielen Belangen nicht weiter. «Sie reagierten nach Schema F. Fairerweise muss man sagen, dass es auch für sie eine Ausnahmesituation war.»

Nach einigen Tagen trat der Schutzstatus S für ukrainische Flüchtlinge in Kraft, was die Situation für die Familie Stampfli stark vereinfachte. «Wir konnten die beiden online anmelden, zwei Tage später traf die Bestätigung ein.»

Zur Registrierung nach Chiasso

Dennoch mussten sich die beiden zusätzlich beim zuständigen Bundesasylzentrum registrieren. Dieses befindet sich für Zuger in Chiasso. «Entsprechend fuhren wir alle gemeinsam ins Tessin. Dafür mussten wir nur 15 Minuten warten vor dem Termin, der rund zwei Stunden dauerte. Die Anmeldung wäre auch in Zürich möglich gewesen, doch die dortigen Wartezeiten von rund zwei Stunden wollten wir einer 82-Jährigen nicht antun – dann lieber ein kleiner Familienausflug ins Tessin.»

Wenig später erhielten Svetlana und Albina vom Kanton Zug ihre S-Ausweise. Marc Stampfli dazu: «Ich bin vom Kanton Zug grundsätzlich sehr positiv überrascht. Man hat uns stets freundlich behandelt, obwohl die Situation auch für die hiesigen Behörden keine leichte ist.»

Zudem spüre die Familie eine starke Solidarität aus der Bevölkerung. «Doch ist uns sehr wichtig, dass man diese nicht überspannen darf. Gerade, wenn der Krieg ein Jahr oder länger andauern sollte», gibt Marc Stampfli zu bedenken.

Die 59-jährige Klavierlehrerin sucht Arbeit

Bereits wurde Svetlana von der GGZ Gemeinnützigen Gesellschaft Zug kontaktiert. In einem Gespräch wurde abgeklärt, wie man ihre beruflichen Fähigkeiten hier einsetzen könnte. Da sie jedoch fast 60-jährig ist, wollte man ihr keine allzu grosse Hoffnung machen, dass sie rasch eine Arbeitsstelle findet. In der Ukraine arbeitete sie viele Jahre als Musik- und Klavierlehrerin für Kinder. «Einen Lebenslauf, wie wir in hier in der Schweiz kennen, hatte sie jedoch nicht. Diesen mussten wir erst schreiben», so ihre Tochter.

Mittlerweile sind Albina und Svetlana offiziell angemeldet. Nun gilt es, richtig anzukommen. Auch gibt es noch einige ungeklärte Fragen. Weil die zwei Ukrainerinnen privat untergebracht wurden, sind sie nicht auf dem Radar der Behörden und erhalten bis dato keine wirtschaftliche Sozialhilfe. Es ist ein Problem, das viele private Zuger Gastgeber kennen (zentralplus berichtete). Die Zuger Behörden geloben nun Besserung.

«Es ist eine psychologisch schwierige Situation.»

Iryna Stampfli

Wie geht es der «Babuschka» und ihrer Tochter heute? Weil die beiden kein Deutsch sprechen, antwortet Tochter Iryna stellvertretend: «Es ist eine psychisch schwierige Situation. Sie sind zwar zufrieden, in Sicherheit und bei der Familie zu sein. Doch ist es hart, mit 59 respektive 82 Jahren alles hinter sich zu lassen.»

Endlich vereint: Marc Stampfli mit seiner Schwiegermutter und -grossmutter.
Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit der Familie Stampfli
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