Heidnisches Brauchtum, das tätscht

Lärm oder Tradition? Ab heute chlöpfen die Geisslen wieder in Luzern

Der Chlöpfer vor seinem Bergbrünneli: Noch hält er seine Geissle zahm in der Hand.

(Bild: Marjana Ensmenger)

Für die einen ist es Musik, für die anderen Krach: Seit dem 3. November begegnet man wieder Geisslechlöpfern. Ein rüstiger Senior, seit 70 Jahren aktiv und heute Geisslechlöpflehrer, erklärt, weshalb der tätschende Brauch zu einer Schweizer Tradition wurde. Obwohl er beinahe verstummte.

Seit letztem Sonntag ist es offiziell: Der Winter naht, die Uhren sind auf Winterzeit umgestellt. Dicke Schärpen zieren den Hals. Handschuhe bedecken die Hände und Thermounterwäsche wird übergestreift. Verlässt man das Haus am Morgen, ist es dunkel; kehrt man am Abend nach Hause zurück, ist es dunkel. Dann stellt sich der Körper langsam auf Winter ein.

Böse Geister und Dämonen vertreiben

Es ist gleichzeitig auch jene Zeit, in der ein Brauch wiederauflebt: das Geisslechlöpfen. Der Brauch stammt aus der vorchristlichen Zeit und verfolgt der Legende nach das Ziel, böse Geister und Dämonen zu vertreiben. Einige Jahrzehnte später installierte sich der Brauch während der Christianisierung gar als heidnische Sitte, mit einem christlichen Inhalt: der Ankündigung des Samichlaus.

Bewegt man sich dieser Tage in der Innerschweiz, kommt man unweigerlich mit dem lauten Brauch in Berührung. Anekdoten davon gibt es viele, wie beispielweise jene von Leo Brügger, einem ehemaligen 78-jährigen Geisslechlöpflehrer.

«Mit acht Jahren knallte ich mir die Geissel eher um die Ohren!»

Leo Brügger, Krienser Chlöpfer

Hoch über Kriens, in der Nähe des Hotel Himmelreichs beginnt Leo Brügger von seiner Chlöpfer-Vergangenheit zu erzählen: «Mit acht Jahren habe ich mit dem Geisslechlöpfen begonnen. Damals knallte ich mir die Geissel jedoch eher um die Ohren, was am Ende auch den lauten Knall erzeugte.»

Zwischen 1,5 und 4,5 Meter lang: die Geissle.

Zwischen 1,5 und 4,5 Meter lang: die Geissle.

(Bild: Marjana Ensmenger)

Nur: Die Kunst des Chlöpfens besteht eigentlich darin, die Geissle aus Hanf oder Flachs mit dem Zwick am Ende derart zu beschleunigen, dass bei einem Richtungswechsel eine Höchstgeschwindigkeit resultiert. So wird eine Luftdruckveränderung verursacht, die wir als lauten Knall hören.

In Paris zum Chlöpfen eingeladen

Was viele aber nicht wissen: Der Brauch wäre in den 1970er Jahren beinahe von der Bildfläche verschwunden. Kriens zählte damals lediglich noch drei Chlöpfergruppen. Leo Brügger sagt: «Am 8. Dezember 1970 sassen wir im Hotel Pilatus in Kriens nach dem Samichlausessen zusammen. Mein Kollege Heinrich Hegglin machte damals den Vorschlag, eine Geisslechlöpfschule zu gründen, um die traditionsreiche Geschichte nicht aussterben zu lassen.»

Im Video zeigt Leo Brügger, wie es geht:

 

Das Geisslechlöpfen ist neben dem Jodeln einer der Bräuche, die man auch im Ausland wahrnimmt und mit der Schweiz verbindet. «Einmal wurden wir von einer Reiseagentur in einen Vorort von Paris eingeladen. Die Menschenmenge jubelte uns damals an den Strassenrändern zu und feuerte uns immer wieder an, weiterzuchlöpfen.» Eine Tradition also, die nicht nur für die einzelnen Gemeinden wichtig ist, sondern auch das Gesamtbild der Schweiz nach aussen stärkt.

Chlöpferschule im Krienser Meiersmattschulhaus

Dass die Chlöpferanzahl in Kriens in den letzten Jahren stabil geblieben ist, zeigt sich insbesondere an der Anzahl Chlöpferschüler. Seit 46 Jahren findet ab dem 3. November jeden Montag die Chlöpferschule im Meiersmattschulhaus statt. Dort trifft sich Gross und Klein, um individuell oder in der Gruppe zu trainieren und sich auf den 8. Dezember vorzubereiten. Dann nämlich haben sie die Gelegenheit, das Gelernte beim Show-Chlöpfen der Masse zu präsentieren.

Zwei unterschiedliche Geisseln-Arten

In der Innerschweiz gibt es zwei verschiedene Ausführungen von Geisseln: die Lüthi-Geissel und das Innerschweizer Modell. Die Lüthi-Geissel ist kürzer als diejenige aus der Innerschweiz. Geklöpft wird mit beiden Händen abwechseln von vorne nach hinten, wobei der Chlapf nicht so laut ist, wie jene mit der Innerschweizer Geissel, die im Kreis herum geschwungen wird. Die besser bekannte Geissel der Krienser misst zwischen 1,5 bis 4,5 Meter, je nach der jeweiligen Körpergrösse und dem Können des Chlöpfers.

Die Teilnahme an der Chlöpferschule ist jedoch an einige Bedingungen geknüpft. So müssen die Chlöpfer beispielsweise in der Lage sein, auf beide Seiten zu chlöpfen. «Beherrschen sie dieses Handwerk, unterstützen und coachen wir sie in einem schwereren Unterfangen: dem Formationschlöpfen.»

Anders als in Küssnacht (SZ), wo nur in einer zweiter Gruppe gechlöpft wird, chlöpft man in Kriens in einer Formation von vier bis fünf Chlöpfern. «Vor allem in der Dunkelheit muss sich jeder Chlöpfer auf sein Gehör verlassen. Deshalb ist es wichtig, dass sich die Teammitglieder in einem Glied hinstellen, ohne sich gegenseitig anzusehen.» Einer übernimmt dann die Aufgabe und gibt den Takt und den Rhythmus an. «Gelingt das, kann das Chlöpfen auch als Musik wahrgenommen werden.»

Unterschriften für Verbot

Was die einen freut, ärgert auf der anderen Seite die anderen. Auch Leo Brügger hat Erfahrungen mit Personen gemacht, die sich derweilen am Lärm von Chlöpfern störten. «Vor allem junge Chlöpfer folgen keinem Rhythmus. Man erschrickt, weil es unregelmässig knallt.» Er erinnert sich, dass es in Kriens einmal einen Einwohnerrat gegeben hat, der sogar Unterschriften für eine Petition sammelte, die das Geisslechlöpfen verbieten sollte.

Zankpunkt der Diskussion um Musik der Lärm: der Zwick.

Zankpunkt der Diskussion um Musik der Lärm: der Zwick.

(Bild: Marjana Ensmenger)

«Die Vorlage scheiterte natürlich», sagt Brügger mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Auch wenn er durchaus verstehen kann, weshalb sich die Geister am Brauch scheiden. «Er ist laut, er bringt teilweise sogar die Fensterscheiben zum Wackeln und erschreckt Tiere. Insbesondere Katzen und Hunde mögen solche Geräusche nicht, weil sie lärmempfindlichere Gehörsensoren besitzen.»

«Wer die Geschichte hinter dem Brauch kennt, entwickelt Toleranz.»

Leo Brügger, seit 70 Jahren Geisslechlöpfer

Deshalb versucht der Kanton jedes Jahr gewisse Regeln bei den Gemeinden durchzusetzen, damit die rund vier Wochen nicht für rote Köpfe sorgen. So darf vom 3. November bis am 8. Dezember nur zwischen 8 Uhr bis 22 Uhr auf nicht verkehrsreichen Strassen und Plätzen gechlöpft werden. Wobei das Gehör über den Mittag von 12 Uhr bis 14 Uhr ebenfalls in dicht besiedelten Wohngebieten verschont werden soll.

An Sonn- und Feiertagen ist das Chlöpfen erst ab 14 Uhr erlaubt. Aber auch Gegner des Chlöpfens seien aufgefordert, tolerant zu sein, sagt Leo Brügger: «Nur wer den Brauch kennt, weiss, weshalb wir das tun. Und entwickelt am Ende Toleranz.»

Klar: Für Brügger ist das Chlöpfen schönste Musik.

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