Verein Punktzug sendet von ulkigen Orten

Zwischen Kabel- und Feldsalat: Neuer Zuger Livestream schafft Bühne für Kultur

Hochkonzentriert unter Blumentopf-Leuchten: Das Streaming-Team im Einsatz. (Bild: wia)

Livestreams sind eine zähe Sache. Das Volk will zwar Kultur geniessen, doch der Anspruch an die Qualität ist hoch. Ein Besuch bei einer «halbprofessionellen» Aufzeichnung in einem Zuger Gewächshaus zeigt unbeschönigt auf: Wer gut streamen will, muss einen hohen Aufwand in Kauf nehmen. Warum sich das dennoch lohnt – nicht nur für die Zuschauer am Bildschirm.

Langsam erwacht die Livekultur aus einer viel zu langen Tiefschlafphase. 50 Menschen dürfen nun an Konzerten professioneller Musiker live dabei sein. Optimist Alain Berset verkündete am Mittwoch, dass es ab Ende Mai doppelt so viele sein sollen. Pessimisten fragen sich, wie lange die Lockerung wohl andauern möge.

Um auf Nummer sicher zu gehen, werden viele Anlässe nach wie vor per Livestream in die Wohnzimmer von Kulturfreundinnen gebracht. Bloss: Nicht immer sind die Streams das Gelbe vom Ei. Hier und dort hapert's mit der Tonqualität. Bekommt das Netflix-gewohnte Auge längere Zeit nur eine Kameraeinstellung vorgesetzt, wird es schnell eintönig. Ausserdem funktioniert bei Weitem nicht jedes Format als Livestream. Gerade Bands, die durch die Energie des Livepublikums aufblühen, haben es schwer.

Ein neu gegründeter Zuger Verein nimmt sich dieser Herausforderungen an. Bereits mehrere Livestreamsendungen hat Punktzug in den letzten Monaten schon ausgestrahlt. Er hat es sich auf die Fahne geschrieben, «ein halbprofessionelles Formätli» zu schaffen, das fürs Publikum vergnüglich und für Kunstschaffende gleichwohl unterstützend sein soll. Das Ganze wird jeweils in einer ungewöhnlichen Location aufgezeichnet.

Der dritte Streich von Punktzug findet in einem Gewächshaus in Oberwil statt. (Bild: wia)

Die dritte Sendung ging an Auffahrt im Gewächshaus Floralisa in Oberwil über die Bühne. Ein Augenschein vor Ort zeigt sogleich: «halbprofessionell» ist ein Understatement sondergleichen. Riesige Scheinwerfer stehen zwischen Petunien und Salbei, fixe und mobile Profikameras sind im Einsatz, die Techniker haben sich auf mehreren Metern eingerichtet.

100 Stunden Aufwand für einen Stream

Damit der Livestream um 20 Uhr reibungslos über die Bühne geht, hat man tags zuvor bereits mit dem Aufbau begonnen. Am Sendetag stand das Team um 14 Uhr auf der Matte. Um 18 Uhr liegt bereits etwas Spannung in der Luft, im Gewächshaus herrscht grosses Gewusel. Hauptmoderator Remo Hegglin bespricht mit dem Team vor dem letzten technischen Durchlauf noch einmal die Abläufe während der Sendung, die coronakonformen Schminksets für die Protagonisten stehen bereit. Die Reflektion des nahenden Sonnenuntergangs über dem Zugersee soll nicht auf der Stirn der Teilnehmer sichtbar sein.

Die Teammitglieder tragen einen Knopf im Ohr. Dank Hubert Zäch, der zuständig ist für die Kameraschnitte und das Timing während den Aufnahmen, erfahren so alle genug früh, wo sie wann sein müssen und welche Kamera als nächstes live geht.

«Punktzug will mit seinem Format bezüglich Inhalten und Austragungsorten überraschen. Da ist Routine hinderlich.»

Philippe Koller, Mitglied von Punktzug

Philippe Koller ist sowohl für die Finanzen des Vereins als auch für die Technik mitverantwortlich. Ein Gebiet, in dem er auch beruflich beheimatet ist. Wir treffen ihn bei einer kurzen Verschnaufpause neben einer sehr ordentlichen Reihe Eichblattsalat an. Koller erzählt: «Der Aufwand für eine Sendung liegt wohl bei gut 100 Stunden. Wirklich hoch war jedoch der Initialaufwand zu Beginn des Projekts. Gerade für die Erstellung des Konzepts sowie die Ausarbeitung der technischen Details wendeten wir eine Menge Zeit auf», erklärt er.

Im Videostatement erklärt der IT-Spezialist und Freizeitmusiker, warum der Verein überhaupt gegründet wurde:

Nicht nur wolle man den Zuger Kulturschaffenden eine Plattform bieten, auch die Lust nach einer neuen Herausforderung trieb die Vereinsmitglieder an.

«Wir machen diesen Livestream jetzt zum dritten Mal und merken, dass sich bereits eine gewisse Routine eingestellt hat. Das ist zum einen gut. Zum anderen haben wir jedoch gemerkt, dass wir laufend nachjustieren müssen.» So habe man etwa realisiert, dass die angestrebte Interaktion mit dem Publikum noch nicht die erwartete Resonanz zeige. «Daran müssen wir noch etwas rumstudieren», sagt Koller. «Ausserdem will Punktzug mit seinem Format bezüglich Inhalten und Austragungsorten überraschen. Da ist Routine hinderlich.»

Interaktion als Pièce de Resistance

Denn tatsächlich ist die Interaktion mit dem Publikum der einzige Grund, warum ein Livestream zu einer bestimmten Zeit überhaupt erst Sinn macht. Deshalb wird während der Sendung von Punktzug beispielsweise eine Auktion eines Kunstwerks gestartet, ausserdem gibt es ein Rätsel, bei dem die Zuschauer mitraten und noch während der Sendung etwas gewinnen können. «Nur sind unsere Zuschauer wohl nicht das mediengewandte Tiktok-Publikum, das sich solche Interaktionen gewohnt ist», sagt Koller.

Eine weitere Erkenntnis: «Anfangs hatten wir kein Rotlicht. Damit wird das Licht bezeichnet, das bei derjenigen Kamera aufleuchtet, welche gerade live ist. Für den Moderatoren war es somit sehr schwierig, zu wissen, wo er hinschauen musste.» Das klingt nicht sehr schlimm, wenn nur zwei Kameras im Einsatz sind. Im Fall der letzten Produktion waren es jedoch deren sechs.

«Es ist im Prinzip wie eine kleine TV-Produktion.»

Philippe Koller, Mitglied von Punktzug

Während des Gesprächs finden im Gewächshaus die letzten Soundchecks statt, das Klimpern eines E-Pianos ist hörbar. «Es ist im Prinzip wie eine kleine TV-Produktion», sagt Koller, der selber bei einem Medienhaus tätig ist. «Eine, die zwar klein und provinziell ist. Die Leute, die von zu Hause aus zuschauen, haben jedoch grosse Freude daran.»

Überhaupt spüre man viel Wohlwollen. Etwa von Leuten, die dem Verein ihre Räumlichkeiten zur Verfügung stellen möchten oder auch von Organisationen. «Letzthin ist die Zuger Kantonalbank von sich aus auf uns zugekommen. Sie fänden unser Projekt toll und würden dieses gerne unterstützen. Das ist für uns sehr aussergewöhnlich und hat uns unheimlich gefreut.»

In diesem Gewächshaus gibt's nicht nur Gewächse, sondern auch Gesang. (Bild: wia)

Auch ist Punktzug mittlerweile ein anerkanntes Transformationsprojekt und wird vom Bund respektive vom Kanton unterstützt. Es ist Geld, das der Verein gerne annimmt und das ihm dabei hilft, die anfallenden Kosten zu decken. Finanziell selbsttragend ist das Projekt nämlich nicht. Warum lohnt es sich trotzdem? Philipp Koller antwortet: «Man könnte die Gegenfrage stellen: Warum lohnt sich Kultur? Abgesehen davon, dass sich viele Leute darüber freuen, merken wir selber, wie sehr wir davon profitieren und lernen können.»

Es ist inzwischen kurz vor 20 Uhr. Neben der Crew bringen sich auch die drei Gäste sich in Position. An diesem Abend mit dabei sind die Kunstmalerin Brigitt Andermatt sowie die beiden Künstler und Musiker Werner Iten und Jürg Wylenmann. «Es wär achti, sind er alli parat?», fragt Hubert Zäch. «Denn startemer mit em Intro in drüü, zwoi, eis...» Das rote Licht der Kamera 1 leuchtet auf.

Und so sieht das Resultat aus:

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1 Kommentar
  • Profilfoto von Philippe Koller
    Philippe Koller, 14.05.2021, 14:32 Uhr

    Danke, Valeria Wieser für diese Reportage, die den Nagel auf den Kopf(salat) trifft.

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