Benjamin Britten: «The Rape of Lucretia»

Vergewaltigung als moralische Prüfung im Luzerner Theater

«The Rape of Lucretia» lädt, auch aufgrund der Aktualität, zum genauen Zuhören ein. (Bild: Ingo Höhn)

In Zeiten von Krieg auf europäischem Boden bringt das Luzerner Theater eine Kammeroper auf die Bühne, die ihre Uraufführung kurz nach Ende des letzten Kriegs auf diesem Kontinent erlebte. Benjamins Britten «The Rape of Lucretia» liefert, nicht zuletzt wegen des aktuellen Stoffes, Anlass zum genauen Hinhören.

Einer der Gründungsmythen Roms – die Vergewaltigung der Lukretia – ist ein durch die Jahrhunderte weitergetragener Stoff, der durch grosse Poeten und Maler wie Ovid und Tizian weitergegeben und verarbeitet wurde. Historizität darf hier durchaus bezweifelt werden, Faszination für semi-historische Figuren wie Robin Hood oder König Artus ist jedoch für Künstler ein beliebtes Spielfeld zum Austoben.

Eine schillernde Figur, deren genaue Lebensgeschichte im Vagen liegt – was könnte es Inspirierenderes geben und zum Erfinden anhalten? Es ist auch unter diesem Gesichtspunkt dezent subversiv, dass das Luzerner Theater die Frage des Abends mit «Was ist Wahrheit?» auf ihrer Website ankündigt.

Opernregie führt in dieser Produktion die in Luzern geborene Film- und Videoregisseurin Sarah Derendinger. Ihr Projekt ist der Startschuss für ein innovatives und neues Konzept im Luzerner Theater. Es beinhaltet die Inszenierung von klassischen Opern durch Videokünstlerinnen. Dass die erste Oper, die für diese Idee ausgewählt wurde, gerade eine etwas weniger bekannte von der All-Time-Favourites-Hitliste der Operngeschichte ausgewählt wurde, ist dabei umso verlockender und macht neugierig, wie mit Brittens Kammeroper von 1946 in dieser Produktion wohl umgegangen wird.

Musikalisch aussergewöhnliche Delikatessen

Als Besucher hat man also an diesem Abend gleich mehrere Ebenen, die man durchdringen muss: Ein halbmythischer antiker römischer Stoff, der von einem französischen Theaterautor im 20. Jahrhundert aufgegriffen, schliesslich von einem britischen Ausnahmekomponisten in Musik gesetzt und letzten Endes von einer Luzerner Videokünstlerin inszeniert wird. So weit so gut.

Aber überhaupt eine Oper, die lange Zeit abgeschwächt mit der Übersetzung «Die Schändung der Lukretia» und nicht etwa – um einiges wortgetreuer – mit «Der Vergewaltigung der Lukretia» geführt wurde, lässt allein durch diesen Titel zunächst stutzen und gerechtfertigte Kompatibilität mit dem heutigen Zeitgeist wittern. Es wird in dieser halbfiktiven Geschichte etwas auf die Probe gestellt – ein Etikett, für das man jahrhundertelang getrost Kriege geführt hat und unvorstellbare Gräueltaten verübt hat: die Keuschheit — und damit die Reinheit – der Frau.

Nach antiker Dramentradition erzählen in Brittens Oper zwei Chöre - zwei Erzählerinnen - das Geschehen und bieten dem Zuhörenden mitunter diverse Sichtweisen. Die überragend singende Eyrún Unnarsdóttir bildet den weiblichen Part mit ihrem Gegenüber Robert Maszl, dessen Tenor vor allem im zweiten Akt aufblüht.

Das Reizvolle dieser zwei vermittelnden Instanzen ist im Verlauf der Oper nicht zuletzt die sich ihnen mitunter bietende Möglichkeit, unvermittelt in die Handlung einzugreifen. Dabei entstehen musikalisch aussergewöhnlichste Delikatessen wie beispielsweise ein Quartett zwischen den Erzähler und Lukretia (Solenn Lavanant Linke) und Tarquinius (Vladyslav Tlushch).

Viele Videoelemente und filmische Stilmittel

Das geschieht übrigens, bevor Tarquinius (alias «Prinz von Rom»), das Unvermeidliche, schon im Titel gespoilerte Verbrechen begeht und die Frau des römischen Generals Collatinus (Christian Tschelebiew) ihre Integrität «prüft» und sie vergewaltigt. In dieser Szene erscheint es schier so, als wollten die beiden personifizierten Erzählinstanzen das Unausweichliche doch noch aufhalten. Dieses sich überladende Spannungsfeld vermag Britten unvergleichlich in Musik zum Erklingen zu bringen.

Viele Videoelemente und filmische Stilmittel dienen vor allem im zweiten Akt der Ausdeutung der Handlung. Zu Beginn ist man jedoch mitunter von der zusätzlichen Ebene überfordert, die in das Bühnenbild mit eingelassen ist und nicht alles erschliesst sich direkt. Im zweiten Akt ist vor allem der Einsatz von Live-Kamera und Projektion von Lukretias Schlafgemach überzeugend. Am deutlichsten wird das Stilmittel nachvollziehbar, wenn Tarquinius diese zusätzlichen Leinwände einreisst, um in das Innerste von Lukretia vorzudringen.

Die Oper ist für eine solche innovative Herangehensweise gut ausgewählt, da ihre Handlung im Vergleich zu manch anderer überschaubar ist. Sie führt extremsten Missbrauch von Männern gegenüber Frauen deutlichst vor Augen und bietet Raum für eine künstlerische Auseinandersetzung. Alleine für Brittens Musik, die voller Anklänge an Henry Purcell steckt und atemberaubende Orchestrierung gepaart mit Spielfreude an kurzen Motiven und Renaissanceformen spüren lässt, lohnt sich ein Besuch.

Info: The Rape of Lucretia, bis 20. Mai zu sehen im Luzerner Theater.

Deine Ideefür das Community-Voting

Die Redaktion sichtet die Ideen regelmässig und erstellt daraus monatliche Votings. Mehr zu unseren Regeln, wenn du dich an unseren Redaktionstisch setzt.

Deine Meinung ist gefragt
Deine E-Mailadresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert. Bitte beachte unsere Netiquette.
Zeichenanzahl: 0 / 1500.


0 Kommentare
    Apple Store IconGoogle Play Store Icon