Menschenknäuel, Frühlingsgewitter, Balztanz: Die Worte zur Beschreibung des «Tanz 21: Bolero» im Luzerner Theater lassen das Facettenreichtum des Ensembles bereits erahnen – wandelbar, flexibel, aber auch unerwartet lustig.
Die erste Choreografie von Didy Veldman «360°» beschäftigt sich angeblich mit «Kontinuität, Ewigkeit und diversen Natursymboliken». Wo der Beschrieb grosse Worte kostet, kommt die Choreografie ganz ohne Angeberei aus. Sie ist leise, feinfühlig, poetisch. Zu den vier Jahreszeiten von Max Richter bewegen sich zuckende Leiber und kreisen, stossen ab, finden zueinander, sind ein Menschenknäuel, ein Frühlingsgewitter, ein Balztanz. Die Kostüme, welche nur aus grauen Leibchen bestehen, die leere Bühne, das alles lässt ein Universum entstehen, in der die Ewigkeit möglich wird.
Besonders faszinierend ist die Präzision der Choreografie: Ein langer kreisender Stab zeichnet von oben herab stetig Zirkel um die Tänzer, sie binden diesen geschickt ein, ignorieren ihn, umtanzen ihn, ohne dass es je nach einem grossen Effort aussieht. Es ist ein leiser Einstieg in einen gelungenen Abend.
Lasst die Männer weitertanzen!
Der Beschrieb des Luzerner Theaters zum Tanz 21 wird noch skurriler, als ich zu Idan Sharabis Choreografie «Songs» nichts anderes finde als «Ein Tanzstück mit Männerbesetzung – kraftvoll, dynamisch und sexy.» Aber gut, an sexy störe ich mich nicht, und vielleicht kommen die Jungs mal kraftvoll meinen neuen Wohnzimmerschrank aufstellen.
Was klingt wie eine Werbung für die Chippendales, ist ein witziges Stück, das sich irgendwo zwischen Yoga, Selbstfindung und einem Club morgens um vier bewegt. Es setzt sich intensiv mit dem Körper auseinander, mit dem Fühlen des Eigenen und des anderen. Es ist tatsächlich eine kraftvolle Choreografie, jungen, testosterongetränkten Männern auf den Leib geschnitten. Die Jungs müssten also nicht mal den Wohnzimmerschrank aufstellen, sie könnten auch einfach weitertanzen.
Unsexy und erfrischend
Nun kommt auch die weibliche Besetzung zum Zuge, welche alles andere als sexy ist, und deswegen unglaublich erfrischend. Wo Stephan Thoss in der Choreografie auf üppige Weiblichkeit verzichtet hat, wurde mit Kostüm und Bühnenbild nicht gespart: Wir sind plötzlich in einem Wohnzimmer mit sechs alten Frauen, die bei Kuchen und schrecklicher Musik vor sich hin zittern.
Mit grauen Kostümen und roten Requisiten entsteht ein spannendes Bild, welches nie statisch bleibt: Die alten Damen geraten ab Maurice Ravels «Bolero» ausser Rand und Band. Selten habe ich bei einer Tanzaufführung so viele Lacher gehört. Die Tänzerinnen geben die alten Damen mit sehr viel Humor wieder und verlieren trotzdem nicht an Glaubwürdigkeit. Zuerst dachte ich, dass es langweilig werden müsse, der Witz bleibt doch nicht ewig erhalten, aber die Choreografie hat so viele Details zum Entdecken, und die ununterbrochene anhaltende Spannung ermöglicht eine Linie, der man äusserst vergnügt folgen kann.
Alle Ebenen verbunden
Es ist ein wirklich gelungener Abend, der das Publikum an die Hand nimmt und sachte in neue Welten führt. Dass gerade alle Ebenen, das Feinfühlige, Leise und das Laute, Lustige, so gut miteinander funktionieren, ist nicht zuletzt auch dem Ensemble zu verdanken. Die Tänzerinnen und Tänzer haben wirklich gezeigt, wie wandelbar, flexibel und facettenreich sie unterwegs sein können.
Weitere Aufführungen: 27.3, 31.3., 2.4., 7.4., 13.4., 24.4., 6.5., 8.5., 13.5., 11.6.2016
Besetzung: Chiara Dal Borgo, Rachel P. Fallon, Davidson Farias, Juan Ferré Gomez, Shota Inoue, Rachel Lawrence, Salome Martins, Martina Pedrini, Aurélie Robichon, Anton Rosenberg, Richèl Wieles, Eduardo Zuniga.
Stephan Thoss: Choreografie und Kostüme zu Bolero / Idan Sharabi: Choreografie, Bühne, Kostüme / Didy Veldman: Choreografie / Arne Walther: Bühne / Kimie Nakano: Bühne und Kostüme / Jordan Tuinman: Licht / Zoran Markovic: Choreografische Assistenz / Lucie Machan: Dramaturgie / Kathleen McNurney: Künstlerische Leiterin «Tanz Luzerner Theater»
Noemi Wyrsch
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