«Like A Virgin» im Südpol

Tarantino auf der Bühne: Bellende Hunde ohne Biss

Schauspieler Patric Gehrig in «Like A Virgin» im Südpol.

(Bild: zvg/Ingo Höhn)

Kürzlich gab’s im Südpol Kendrick Lamars «How to Pimp a Butterfly», am Dienstag inszenierten Manuel Kühne & Co. im selben Haus «Reservoir Dogs» von Quentin Tarantino. Sind der freien Theaterszene Luzerns etwa die Ideen ausgegangen? Nein: Sie klopfen persönliche Favoriten auf theatralische Tauglichkeit ab. Taugt Tarantino fürs Theater? Nein und ja.

«Reservoir Dogs» von Quentin Tarantino wird im Kulturvolksmund als «absoluter Kult-Klassiker» der neueren Filmgeschichte empfunden. Das Label eilt dabei einer begründenden Analyse voraus. Weshalb soll dieser frauenlose, gewalttätige, mit beiläufigem Rassismus gespickte Bubenfilm ein Kult-Klassiker sein?

Weil die Frauenlosigkeit, die Gewalt und der beiläufige Rassismus künstlerisch gerechtfertigt sind. Tarantinos Welt und die Figuren darin sind viel zu glaubwürdig gezeichnet, als dass die verbalen Sauereien jemanden ausserhalb des Tarantinesken verletzen könnten. Die Gewalt: aufregende, harte, coole, ästhetische Filmgewalt.

Beethovens oder Wagners Kompositionen sind ebenfalls voller Gewalt. Und Marina Abramovićs Selbstverstümmelungsperformances wirft niemand Gewaltverharmlosung vor. Frauen sind in «Reservoir Dogs» fast gänzlich abwesend, weil eine Frauenquote in einem Heist-Movie mit acht delinquenten Rabauken so viel Sinn ergibt wie in einem Artikel darauf hinzuweisen, man möge doch bitte hinter dem Plural von «Vergewaltiger» noch das Gendersternchen anfügen.

Eine Herkulesaufgabe

Manuel Kühne und der Autor dieses Artikels haben zwei Dinge gemeinsam: «Reservoir Dogs» ist unser Lieblingsfilm und von klein auf träumten wir beide davon, den Film auf die Bühne zu bringen. Da er im Unterschied zu mir Theaterschaffender ist, ist er mir zuvorgekommen.

Laut einem Interview, das Kühne der «Luzerner Zeitung» gab, spielte er an der Schauspielschule die erste Szene aus «Reservoir Dogs», den Diner-Dialog, nächtelang durch. Kühne: «Mir wurde bewusst, wie bühnentauglich dieser Film […] eigentlich ist.»

«Bloody Good Fun»: «Like A Virgin» auf der Südpol-Bühne.

«Bloody Good Fun»: «Like A Virgin» auf der Südpol-Bühne.

(Bild: zvg/Ingo Höhn)

«Reservoir Dogs» ist vieles, aber nicht a priori bühnentauglich. Das liegt nicht an einem Makel, sondern an einer weiteren Stärke des Films: Neben Jean-Pierre Melville, Jean-Luc Godard, Francois Truffaut einerseits (die sogenannte «Nouvelle Vague») und dem asiatischen Krimikino (Filme mit Chow Yun-Fat) andererseits, die Tarantino zu einer explosiven Synthesis verarbeitete, ist «Reservoir Dogs» absurdes Theater à la Samuel Beckett. Langes, sinnloses und vergebliches «Warten auf Cabot» in einer verdächtig bühnenähnlichen Lagerhalle.

Einen Film zu «vertheatern», der Theater bereits auf derart brillante Art und Weise inkorporiert, ist eine Herkulesaufgabe. Die Lösungen, die Manuel Kühne & Co. finden, sind teils grandios, teils grandios uninspiriert.

Seinen eigenen Tarantino erfinden

Das Stück «Like A Virgin» ist nämlich dann am stärksten, wenn es sich am stärksten vom Filmoriginal unterscheidet: «Reservoir Dogs» beginnt mit dem Like-A-Virgin-Dialog, «Like A Virgin» beginnt mit einem frei erfundenen Reservoir-Dogs-Dialog. Im Südpol-Bistro.

Mr. White (Nikolaus Schmid), Mr. Pink (Hans-Caspar Gattiker), Mr. Blonde (Patric Gehrig), Mr. Orange (Romeo Meyer), Joe Cabot (Christoph Künzler) und Nice Guy Eddy (Ladislaus Löliger) bestellen sich Kaffee, Tee und alkoholfreies Bier, setzen sich an einen Tisch und diskutieren darüber, ob Neo-Citran oder Kurkuma besser helfe bei Männerschnupfen. An solchen und ähnlichen Stellen mischt Kühne seine Liebe zum Theater mit derjenigen zu Tarantino und emanzipiert sich von «Reservoir Dogs» und dessen Macho-Männlichkeit, indem er ganz einfach seinen eigenen Tarantino erfindet – mutmasslich erarbeitet in nächtelangen Impro-Sitzungen.

Das Geniale daran: Mikrofone nehmen den Dialog ab, wir hören den Gesamtmix über Kopfhörer. Dieser Nahton ermöglicht eine orchestrierte, filmakustische Ebene mit Stimmen, Umgebungs- und Handlungsgeräuschen. Die Immersion steigt.

Schauspieler Christoph Künzler sieht aus wie Joe Cabot im Film, gewinnt diesem aber empfindsamere Seiten ab

Schauspieler Christoph Künzler sieht aus wie Joe Cabot im Film, gewinnt diesem aber empfindsamere Seiten ab

(Bild: zvg/Ingo Höhn)

Theater über Theater

Stellenweise verabschieden sich Manuel Kühne & Co. gänzlich von «Reservoir Dogs». Weil das Theater nicht unmittelbar vorausblenden, zurückblenden, schneiden kann, muss es verdichten. Die Hintergrundgeschichte des verdeckten Ermittlers Mr. Orange, der den anderen Gangstern eine erfundene Anekdote erzählt, inszeniert Regisseur Kühne als theatralen Stream of Consciousness – Assoziation statt Narration.

Patric Gehrig und Hans-Caspar Gattig tänzeln dabei zu Songs aus Filmen, bei denen Tarantino das Drehbuch schrieb («After Dark» aus «From Dusk Till Dawn» oder «True Romance» aus «True Romance»), während Romeo Meyer nicht mehr seine Mr.-Orange-Anekdote übt, sondern das Theaterstück selber. «Like A Virgin» wird zu Theater über Theater. Mehr davon!

Der Cast steht dem Film um nichts nach: Patric Gehrig (Mr. Blonde) und Hans-Caspar Gattiker (Mr. Pink).

Der Cast steht dem Film um nichts nach: Patric Gehrig (Mr. Blonde) und Hans-Caspar Gattiker (Mr. Pink).

(Bild: zvg/Ingo Höhn)

Über weite Strecken allerdings bleibt Kühnes «Like A Virgin» zu nahe am Original. Viele Momente sehen dem Film so quälend ähnlich, dass das Stück dem Film hinterherhinkt. Und die Zuschauerinnen und Zuschauer aus dem Fluss zieht: Weshalb soll ich mir «Like A Virgin» antun, wenn ich «Reservoir Dogs» gucken kann? Mehr Biss und weniger Respekt gegenüber dem Original hätte «Like A Virgin» gutgetan. It barks, but it doesn’t bite.

Ein derartiges Theater steht und fällt mit den Spielern. Deshalb, einer nach dem anderen: Zwischen Nikolaus Schmids und Harvey Keitels Mr. White gibt es wenig qualitative Unterschiede; Christoph Künzler sieht aus wie Joe Cabot, gewinnt diesem aber empfindsamere Seiten ab als Lawrence Tierney; Patric Gehrigs tänzelnder Mr. Blonde ist fast ein bisschen teuflischer als Michael Madsen; Romeo Meyer spielt Mr. Orange abwechslungsweise als Amateur-, Laien- und Profischauspieler, was einfach aussieht, aber extrem schwierig ist; Hans-Caspar Gattiker mimt Mr. Pink gekonnt als unnormalen Normalo; Ladislaus Löliger reüssiert mit seiner warmen Stimme und einer perfekt zu Nice Guy Eddie passenden Netter-Typ-Attitüde.

Der Cast? Like goddamn professionals.

Erfreulicherweise regt «Like A Virgin» dazu an, «Reservoir Dogs» wieder zu schauen. Und auch wenn «Like A Virgin» kein «Reservoir Dogs» ist, ist «Like A Virgin» etwas, das «Reservoir Dogs» ist: Bloody Good Fun.

Weitere Vorstellungen: Do 13., Fr 14. und Sa 15. Dezember, Mittlere Halle, Südpol Luzern.

Künstlerische Leitung & Regie: Manuel Kühne; Tondesign: Jon Gavin Gyr, Kevin Schneeberger; Lichtdesign: Karl Egli; Videodesign: Project Axel Foley, Übersetzung & Bühnenfassung: Manuel Kühne; Produktion: Annette von Goumoëns (Tidenhub); Koproduktion: Südpol Luzern

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