Luzernerin Anne Jud neu zu entdecken

Sie mischte die Berliner Kunstszene auf – und ging vergessen

Die Künstlerin Anne Jud in der Performance «Sommerpause» von 1980 auf dem Berliner Potsdamer Platz. (Bild: zvg/Helmut Metzner)

Wer war die Horwerin, die in den 70ern die Berliner New-Wave-Szene aufmischte? Die mit ihren Kunst-Aktionen ihrer Zeit voraus war und in den USA lebte? Anne Jud ist in ihrer Heimat kaum bekannt – eine Ausstellung in Bern gibt Gelegenheit, Verpasstes nachzuholen.

Wer hat schon mal von Anne Jud gehört? Der Name dürfte den meisten nicht geläufig sein – obwohl sich die Luzernerin international als zeitgenössische Künstlerin in Szene gesetzt hat. Sie wirkte in den 70er-Jahren in der Untergrundszene von Berlin, ab den 90ern in den USA, wo sie 2016 überraschend starb.

Im Schweizer Medienarchiv? Kein Treffer. Eine Ausstellung oder Spuren in Luzern? Fehlanzeige. Anne Jud scheint hier vergessen. Dafür hat sie an anderen Orten ihre deutlichen Spuren hinterlassen.

Nun ist die gebürtige Horwerin ab Freitag Teil der Gruppenausstellung «Letzte Lockerung» in der Kunsthalle Bern. Die Karriere der Kostümdesignerin, Künstlerin und Performerin ist beachtlich. Sie ist schräg, radikal und scheint mit der krassen Inszenierung ihrer Selbst das Social-Media-Zeitalter vorweggenommen zu haben.

Unter den Neuen Wilden

Anne Jud war 1953 in Kastanienbaum geboren, doch bald zog es sie weg: Zuerst für die Schauspielausbildung nach Zürich und Wien, danach in die brodelnde Berliner Szene. Dort bewegte sie sich in den späten 70ern und 80ern im vom Punk geprägten Umfeld der Neuen Wilden.

Sie bildete sich zur Kostümbildnerin weiter und wirkte in Theaterprojekten und später in Filmproduktionen mit. Vor allem aber trat sie vermehrt selber als Performance- und Installationskünstlerin mit Aktionen und Ausstellungen in Erscheinung. Ihre Kostüme wurden Teil von Performances, sie schuf objekthafte und fotografische Arbeiten.

24 Stunden Potsdamer Platz

Anne Jud war mit ihrer radikalen Selbstinszenierung und ihrer Punk-Attitüde der Zeit voraus und lebte ein Künstlerinnenleben als Performance. Gern auch mitten im öffentlichen Raum.

Etwa 1980 in «Sommerpause» auf dem Potsdamer Platz in Berlin: 24 Stunden lang sass sie auf einem Sofa, vor sich einen weiss gedeckten Tisch – ein Angebot an die Passanten, sich dazuzusetzen und zu verweilen. Die Künstlerin machte Notizen, bekam Besuch, nahm Gespräche auf, war einfach da. Zurück blieb das Sofa.

Die für eine Woche geplante Aktion «Öffentliches Wohnen» indes wurde abgebrochen, nachdem Leute aus der Hausbesetzer-Szene handgreiflich wurden und sie angriffen.

Anne Jud: «Eine Nacht eingeschlossen im SO36» von 1979. Aus einer Serie von Fotografien per Selbstauslöser. (Bild: Anne Jud Estate & Brennecke Fine Art, Berlin)

Eine Nacht lang eingesperrt

Legendär die Aktion «Eine Nacht eingeschlossen» , die 1979 im Berliner Club «SO36» stattfand, einem Treffpunkt für die New-Wave- und Punk-Szene (der Club an der Oranienstrasse existiert heute noch). Die Fotoserie ist in der Kunsthalle-Ausstellung zu sehen.

Die Künstlerin liess sich in einem schwarzen Plastikanzug 12 Stunden im Club einsperren – und performte alleine auf der Bühne, inszenierte sich als «düstere und verführerische Figur in einer geheimnisvoll-dämonischen Atmosphäre», wie es im Begleittext heisst. Es war ein maskierter Auftritt ohne Publikum, den sie mit Selbstauslöser festhielt. Die Aktion war ein Versuch, ihren Bewegungsablauf wie in einem Film mit Fotos festzuhalten. Das Licht wurde immer weniger, und die Bewegungen ergaben einen dramaturgischen Ablauf.

Die Dollar-Note inspirierte sie

Ab 1994 lebte Anne Jud in Solvang (Kalifornien), wo sie im Vergleich zu Berlin zurückgezogen von der Kunstwelt am Artstudio der Hallauer Ranch wirkte – Kunstwerke schuf sie weiterhin. 1995 heiratete sie den Schauspieler Wolfgang Hallauer.

Am 1. April 2016 starb Anne Jud unerwartet in ihrer Wahlheimat. Auf ihrer Todesanzeige prangte eine grosse Dollar-Note – kein Zufall: Zu ihren bekanntesten Werken gehören die Dollarnoten-Faltungen aus den 70er-Jahre.

Universell verständliches Motiv

Seit Jud das erste Mal in den USA war, entdeckte sie das künstlerische Potenzial der Ein-Dollar-Note und war davon angetan: Lippenstift über Dollar-Noten, ihr eigenes Antlitz in der Dollar-Note, zerschnittene Noten oder ein Hammer mit Dollar-Noten um den Griff – das Motiv zog sich durch ihr Lebenswerk.

«Ich begann ihr einzigartiges Potenzial als Kunstobjekt zu schätzen und über die Jahre verstand ich mehr und mehr die universelle Bedeutung, die sie trägt», so Anne Jud über die Dollar-Note. Sie habe schon immer etwas erschaffen wollen, das universell verstanden wird. «Wo immer meine Arbeit mich hinführte, von den Steppen in Asien zum Dschungel in Südamerika, oder durch die Kulturzentren von Europa – die amerikanische One-Dollar-Note war bekannt, wurde verstanden und verwendet.»

Anne Jud betrachtete ihre Werke stets im Kontext der Dollar-Note – als Abstraktion eines universellen Objekts oder als künstlerische Transformation eines gemeinsamen Teils der Welt. «Ist es nicht das, was jede Kunst bedeutet?», fragte die Künstlerin.

Die Rauminstallation «In Farbkomposition Dollar-Karo» von Anne Jud von 1981. (Bild: zvg)

Das tägliche Leben als Bühne

Anne Jud war eine «Regisseurin ihrer Selbst» – vielleicht wäre sie heute ein Star auf Instagram. «Diese Dramatisierung des Lebens, die Darstellung des vorgeblichen Selbst in Rollen, ist zur Normalität geworden», heisst es im Ausstellungstext der Kunsthalle. Die Darstellung und die Maskierung seien heute allgegenwärtig – die Künstlerin hat das vorweggenommen.

«Wenn sich das tägliche Leben als Bühne behauptet, scheint es schlauer, ein falsches Ich gut zu spielen, als sich naiv dem Blick des Publikums zu unterwerfen», heisst es im Text.

An der Gruppenausstellung sind acht Künstlerinnen und Künstler beteiligt, die den Auftritt zu einem Teil ihrer Praxis machen. Arbeiten, in denen ihre Erschaffer verschiedene Rollen und Charaktere einnehmen. «Rollenspiele, mittels derer die Erwartungen an Selbstdarstellungen und Publikumsbezug überspitzt oder unterlaufen werden.»

Die Ausstellung in Bern ist ein guter Anlass, Anne Jud endlich die verdiente Anerkennung zukommen zu lassen. Helfen dürfte auch das Archiv, das es in der Schweiz zu entdecken gibt. Anne Juds Schwester verwaltet die Website annejud.com, die noch im Aufbau ist, aber schon heute einen guten Einblick in ihr Schaffen gibt.

«Jedes Kunstwerk oder Projekt ist ein Abenteuer … und immer wieder neu»: Dieses Credo der Künstlerin kann man als Aufforderung verstehen.

Gruppenausstellung «Letzte Lockerung»: 16. August bis 6. Oktober, Kunsthalle Bern

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