Literatur kompakt in Zug – in Reimform oder nicht

Poesie bis an die Belastungsgrenze

Nicht gelangweilt, sondern konzentriert: Die Literatur-kompakt-Gäste: (v.l.n.r.) José F. A. Oliver, Daniela Seel, Nico Bleutge, Ann Cotten

(Bild: Laura Livers)

Unter dem Namen «Literatur kompakt» lädt die Literarische Gesellschaft Zug dieses Wochenende zu Lesungen zum Themenschwerpunkt moderne Lyrik. zentralplus war dabei und musste sich ziemlich konzentrieren, um nichts zu versäumen.

«Die Handhabung von Lyrik soll dem Besuch eines Kunstmuseums gleichen», verkündet der Zuger Stadtpräsident Dolfi Müller in seiner Eröffnungsrede. «Man geht herum und schaut sich die Gemälde an. Wenn die Augen hängen bleiben und etwas berührt, dann ist es gut. Egal ob man es versteht.» Und gibt so die Bühne frei für einen literarischen Abend der seltenen Art.

In drei Blöcken werden bis Samstag Lyriker aus Deutschland, Österreich und der Schweiz dem Publikum vorgestellt. Den Auftakt machen die Deutschen, als erster Nico Bleutge. Der 1972 geborene Münchner hat vor Kurzem seinen vierten Gedichtband «Nachts leuchten die Schiffe» veröffentlicht.

Entstanden sei das Werk während eines Stipendiums der Kulturakademie Terabaya. «Normalerweise würde ich an einen solchen Ort skizzierte Ideen mitbringen, die ich dann dort vollende», erzählt Bleutge im vorangehenden Podiumsgespräch.

Mit leeren Händen und leerem Kopf nach Istanbul

«In diesem speziellen Falle hatte ich aber gerade ein Buch beendet und kam so mit leeren Händen und leerem Kopf nach Istanbul.» Die Akademie befindet sich in der historischen Sommerresidenz des deutschen Botschafters und liegt etwas ausserhalb des Stadtzentrums, direkt am Bosporus. «Somit kann ich sagen, dass alle Gedichte im Buch in einer Form direkt vom Bosporus inspiriert sind, von den Schiffen, dem Sog des Wassers, dem Geruch», erklärt er weiter und zitiert sogleich einen Auszug aus «Fallstreifen» – Nachts leuchten die Schiffe am Bosporus:

«es ist ein anderes licht, ein anderes schauen/ ein rest von helligkeit, der manchmal abends/ spät durch die scheiben fällt oder beim aufwachen/ mit einer wimper kurz das auge trifft. ein/ ziehen in den gliedern, frösteln fast, woher/ es kommt –  wir wissens nicht, doch manche/ bilder geben nach und haben weite: luft/ und sicht. so dass ich tief in mir die augen/ dunkeln sehe klar noch im vergehn/ das schaben, eine kinderhand, die farbe/ nah am ohr, das weicht, verlässt/ die frühen tage, schiebt sich weiter/ vor.»

«Für die Akademien hört deutsche Lyrik in den 60er-Jahren auf.»

Daniela Seel, Lyrikerin aus Deutschland

«Ich wollte gerne Autoren einladen, die als Vermittler tätig sind», erklärt Moderator José F. A. Oliver die Anwesenheit seiner drei deutschen Kollegen. Mit Daniela Seel, der zweiten Sprecherin des Abends, hat er damit einen Volltreffer gelandet. Die gebürtige Frankfurterin gründete 2003 den Independent-Verlag «kookbooks – Labor für Poesie als Lebensform».

Neue Formen von Poesie werden geboren

«Für die Akademien hört deutsche Lyrik in den 60er-Jahren auf», beschwert sie sich mit sanfter Stimme. «Zur Jahrtausendwende druckten Verleger keine Lyrik mehr, Poesie war veraltet. Gleichzeitig entstanden aber überall neue Formen der Poesie, eine neue Generation von Lyrikern und keiner hat es mitgekriegt. Also mussten wir selbst verlegen.»

Einige Jahre später veröffentlichte Seel ihren ersten eigenen Gedichtband. Das Gespräch drehte sich aber vor allem um ihren neusten Wurf «Was weisst du schon von der Prärie». «Ich war auf dem Weg nach Split, als ich das Danarische Gebirge durchquerte und mich fühlte, als wäre ich in einem Wild-West-Film», erzählt die Autorin.

Ein wenig schwere Kunst und Kost

«Natürlich fiel mir später ein, dass die Karl-May-Verfilmungen in Kroatien gedreht wurden. Diese automatische Assoziation fand ich spannend, diese Verschiebung der Räumlichkeiten, die mit einem Wort, einem Blick stattfinden können, aber nichts mit der Realität zu tun haben.»

Am Literatur-kompakt-Abend liest Seel aber vor allem ältere Gedichte: «nie hielt ich dich / nicht als ich schlief / nicht als durch mich / und durch mich hindurch / ging tod / dein tod / und mich übrigliess».

Die FAZ nannte diese Zeilen «grosse Kunst». An diesem Abend muss man solche Zeilen aber vor allem schwere Kunst und Kost nennen.

Die Konzentration und ihre Belastungsgrenze

Lyrik lebt von ihrer Abgrenzung zur Alltagssprache, von der Gewichtung und genauen Platzierung jedes einzelnen Wortes. Jeder Buchstabe scheint eine eigene Abhandlung zu sein, sodass vom Zuhörer, gerade weil er hört und nicht liest, äusserste Konzentration abverlangt wird. Und diese Konzentration gerät nach mehr als einer Stunde Poesie und Gespräche über Poesie an ihre Belastungsgrenzen.

Da helfen auch die dezidiert gesetzten musikalischen Interventionen des Duos Kleeb/Dahinden nur bedingt. Zwar vermögen sie es immer wieder, das eben Gehörte musikalisch zusammenzufassen und kompakt auf den Punkt zu bringen, aber die schwer gewordenen Herzen und Köpfe der Zuhörer vermochten keine weiteren Anspielungen auf ihre Existenzialität mehr ertragen. Zum Glück wurde der Abend durch Ann Cotten abgerundet.

Sprachlich hochstehende Trash-Lyrik?

Die in Berlin lebende amerikanisch-österreichische Autorin sorgte letztes Jahr mit ihrem Werk «Verbannt!» international für Furore. In 399 Neo-Spenser-Strophen beschreibt die Lyrikerin die turbulente Geschichte einer bisexuellen Fernsehmoderatorin, die auf eine einsame Insel verbannt wird, deren Bewohner, 25 gestrandete Matrosen, sich dort eine Schrauben-religiöse Parallelgesellschaft aufgebaut haben und sich nun mit einer modernen Eva konfrontiert sehen.

«Ich mag das Miss- und Unverständliche, aber ich verstehe, dass ein Leser verstehen möchte.»

Die österreichisch-amerikanische Autorin Ann Cotten

«Es gibt verschiedene Beweggründe, Lyrik zu konsumieren», erzählt Cotten mit leichtem Wiener Akzent. «Ich mag das Miss- und Unverständliche, aber ich verstehe, dass ein Leser verstehen möchte.» Sie schmunzelt und fügt an: «Ich möchte versuchen, meinen Lesern zu ermöglichen, immer wieder punktuell zu verstehen.» In Zug liest sie aber nicht aus «Verbannt!», sondern Gedichte zu Ehren ihres neuen Mobiltelefons, welche sie passenderweise von ebendiesem abliest.

Ausrufend und ausufernd

Ihre Texte sind so ungestüm und wild wie deren Inhalt. Ihre Anfänge machte Cotten in der Poetry-Slam-Szene. So schweifen ihre Gedichte vom Lyrischen Ich zum Erzähler, ausrufend und ausufernd, und erinnern dank ihrem Sprachrhythmus doch immer noch an Gedichte. Es ist also bei Weitem kein Trash oder Punk – die Autorin nimmt ihre eigene Sprache sehr ernst, nur entspricht ebendiese Sprache nicht den gängigen Vorstellungen von Lyrik und Poesie.

Zum Schluss liest der Moderator José F. A. Olivier zwei seiner Gedichte vor – eines über den Schwarzwald und ein spanisches Wiegenlied, angelehnt an De Fayas «Nana», welches er, um den Kreis zu schliessen, während seines eigenen Aufenthalts in Terabaya für eine werdende Mutter geschrieben hatte.

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1 Kommentar
  • Profilfoto von Adrian Huerlimann
    Adrian Huerlimann, 30.04.2017, 11:22 Uhr

    José F.A. Oliver, Moderator am Freitagabend, schreibt mir: Es ist natürlich eine Herausforderung über einen derart „dichten“ Abend zu schreiben. Was ich allerdings immer als sehr, sehr hinterfragter erachte und damit natürlich auch als sehr streitbar ist eine Position einer wie auch immer gearteten Kritik, die für alle Zuhörerinnen und Zuhörer, sprich für das gesamte Publikum ein Urteil fällt… ich meine natürlich die „Belastungsgrenzen“ ).
    Das Wiegenlied ist übrigens nicht von Manuel de Faya (sic!) – er schreibt sich de Falla, sondern von Lorca.
    Wie dem auch sei, es scheint mir ja eine sehr junge Schreiberin, die weder die „Literaturkritik“ (Bleutge) noch die „poetologischen Interventionen“ (Cotten) als vermittelndes Schreiben, in dem Fall der Lyrik, betrachtet.

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