Premiere von «Manon» im Luzerner Theater

Mehr als eine kitschige Liebesschnulze

Manon (Nicole Chevalier) fleht Des Grieux (Diego Silva) vor dem Kreuz Jesu Christi an, sich für sie und damit gegen Gott zu entscheiden.

(Bild: zvg/Ingo Hoehn)

Leidenschaftlich, lebensbejahend, libertär: Das Luzerner Theater inszeniert Jules Massenets «Manon» und bringt mit ihr eine der schillerndsten Frauenfiguren der abendländischen Geschichte auf die Bühne. In Zeiten von #metoo und Hollywood-Sexismus ist das Stück aktueller denn je.

Die 16-jährige Manon (Nicole Chevalier) soll wegen vermeintlichem Fehlverhalten in ein Kloster verbannt werden. Ihr Cousin Lescaut (Bernt Ola Volungholen), selber fasziniert von der jungen Schönheit, begleitet sie dorthin.

Auf ihrem Weg machen sie einen kleinen Zwischenhalt in Amiens, wo Lescaut Manon kurz alleine zurücklässt, um sich im Wirtshaus zu vergnügen. Für Manon Zeit genug, um mit dem charmanten jungen Pfarreranwärter Des Grieux (Diego Silva) anzubandeln und Hals über Kopf in ein illustres Leben nach Paris abzuhauen. Doch das Glück währt nicht von langer Dauer.

Ein hinreissendes Paar

Bereits in diesem 1. Akt laufen Nicole Chevalier und Diego Silva gemeinsam zur Höchstform auf. Chevalier begeistert das Publikum mit ihrer wunderbar starken, facettenreichen und kindlichen Manon. Diese schert sich wenig um die weibliche Geziertheit und Koketterie und bringt dies in ihrer unverstellten Gestik und Mimik deutlich zum Ausdruck: Sie wippt nervös mit dem Bein, rollt die Augen vor Langeweile und stützt den Kopf auf dem Ellbogen ab.

Mit «Je suis encore tout étourdie» besingt sie ihr Wechselbad der Gefühle – bald himmelhoch jauchzend vor lauter Lebensneugierde, bald zu Tode betrübt vor ihrem nahenden Schicksal.

Nicole Chevalier als «Manon» und Diego Silva als Pfarreranwärter Des Grieux.

Nicole Chevalier als «Manon» und Diego Silva als Pfarreranwärter Des Grieux.

(Bild: zvg/Ingo Hoehn)

Als Des Grieux um die Ecke kommt, ist es Liebe auf den ersten Blick. Diego Silva überzeugt als pubertärer, unsicherer Des Grieux ebenfalls in dieser ersten Szene, er beisst sich verlegen auf die Lippen und ringt um Worte. Auch stimmlich harmonieren die beiden gut miteinander.

In den für die Opéra comique typisch gesprochenen Dialogen geht Silvas Stimme manchmal aus dem hinteren Teil der Bühne etwas unter. Chevalier überzeugt jedoch auf der ganzen Linie und vermag mit ihrem kräftigen Sopran die enorme Spannbreite der träumerischen Gefühlswelt Manons zu besingen.

Essenz herausdestilliert

Dem musikalischen Leiter Yoel Gamzou, der in der vergangenen Spielzeit Frischs «Holozän» mit Mahlers zehnter Sinfonie verwoben hat, gelingt es, gemeinsam mit Regisseur Marco Štorman, seinerzeit federführend in der Luzerner «Rigoletto»-Inszenierung, zum Kern der Oper vorzustossen. Sie konzentrieren sich vor allem auf die beiden Liebenden. Äusserst gefühlvolle, liebliche und intime Szenen werden dabei konterkariert mit der kalten, dunklen und niederträchtigen Welt der oberflächlichen Pariser Ancien-Régime-Gesellschaft.

Manon (Nicole Chevalier) und Des Grieux (Diego Silva) in der Mitte der gierigen, lüsternen Gesellschaf.

Manon (Nicole Chevalier) und Des Grieux (Diego Silva) in der Mitte der gierigen, lüsternen Gesellschaft.

(Bild: zvg/Ingo Hoehn)

Sinnbildlich für Letztere steht Manons Cousin Lescaut, der mit seiner schleimig schmeichelnden Art hinterhältig und falsch über die Bühne tanzt, fast schon à la Marullo aus der «Rigoletto»-Inszenierung. Es wäre schön, Bernt Ola Volungholen mal anders zu sehen.

Das Luzerner Sinfonieorchester spielt hervorragend und untermalt die Kontrastierungen mal mit leichten, spielerischen und temporeichen Klängen, mal mit düsteren, melancholischen, schweren Sequenzen.

Über den Tisch gezogen

Das Bühnenbild von Anna Rudolph ist äusserst reduziert. Die Bühne ist schwarz, einzig ein leuchtender Stern strahlt aus dem Hintergrund der Bühne, symbolisch für die Stadt der Lichter oder für das Kreuz Jesu.

Der in der Arie «Adieu, notre petite table» besungene obligate Tisch ist nicht etwa ein gemütlicher, alter Holztisch, sondern ein Bürotisch mit schwarzen Stühlen. Er dient sowohl als Schlafgemach der beiden Liebenden als auch als Spieltisch für das schicksalhafte Glücksspiel, wobei Des Grieux den anzüglichen Guillot de Morfontaine (Robert Maszl) wortwörtlich über den Tisch zieht.

Die Kostümbildnerin Anika Marquardt verpasst Manon ein leuchtend gelbes Plissee-Kleid, während sie die Pariser Gesellschaft im schwarzen, lasziven Bohème-Chick auftreten lässt. Doch genauso wie Manon ihren eigenen Weg selbstbestimmt geht, wandelt sich auch ihre Garderobe: Einmal ähnelt sie mit einer leuchtenden Krone bestückt der Freiheitsstatue, dann wieder trägt sie selber ein schwarzes Top und spielt die verruchte Femme fatale.

Sie lässt sich nicht auf eine Rolle reduzieren, sondern lebt ihre Weiblichkeit in all ihren selbstbestimmten Facetten aus. Und lässt sich nicht mundtot machen. Das sollten wir auch nicht.

Bis 14. Januar, Luzerner Theater

Eine überzeugende Manon (Nicole Chevalier) auf der reduzierten Bühne des Luzerner Theaters.

Eine überzeugende Manon (Nicole Chevalier) auf der reduzierten Bühne des Luzerner Theaters.

(Bild: zvg/Ingo Hoehn)

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2 Kommentare
  • Profilfoto von Karin Mueller
    Karin Mueller, 13.11.2017, 15:25 Uhr

    «In Zeiten von #metoo und Hollywood-Sexismus ist das Stück aktueller denn je.» Ja klar, die gerade angesagten Hysterien des Zeitgeistes lassen es natürlich auch zu, bei entsprechender Lesart jedes alte «Stück» als sogenannt «aktuell» zu definieren. Leben wir wirklich «in Zeiten» der obengenannten Idiotien? Das wäre ja fürchterlich. Vielleicht leben wir auch nur in den entsetzlichen Zeiten der Urständ der verlogen-biederen Fünfziger und ihrer Tabuisierung aller Sexualität, für dieses Mal verschärft zu regelrechter Inquisition mit allen Merkmalen: Vorverurteilung, Denunziation, Umkehr der Beweislast, Schauprozess, Selbstbezichtigung. Nächstens steigt für uns wieder Doris Day mit Streifenpyjama in eines der zwei züchtig getrennten Ehebettchen. Hilfe! #metoonot! Vielleicht ist es an der Zeit zu gestehen, dass ich in den frühen Siebzigern mal Sex hatte, bevor es jemand ausgräbt.
    Ach ja: Glauben Sie wirklich, die Inszenierung hat auf derlei Plattitüden gezielt?

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    • Profilfoto von Daniela Herzog
      Daniela Herzog, 13.11.2017, 20:54 Uhr

      Hallo Karin Müller. Danke für Ihren Kommentar. Ob die Inszenierung tatsächlich in die Richtung meiner Interpretation gezielt hat, kann ich nicht abschliessend sagen. Was für mich jedoch eindeutig zum Ausdruck kam, ist die facettenreiche Darstellung der Manon. Mir scheint, sie wird im Stück als sehr starke Figur inszeniert, die ihren eigene Weg geht, sich zu wehren getraut und für ihre Lebenslust einsteht. Deshalb finde ich sie auch für heute noch sehr inspirierend und wichtig.

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