Premiere «Le Grand Macabre» im Luzerner Theater

Fassungslos in der Ligeti-Inszenierung

Szene aus György Ligetis «Le Grand Macabre» im Luzerner Theater.

(Bild: Ingo Hoehn)

Zum Auftakt der neuen Spielsaison des Luzerner Theaters feiert die Anti-Anti-Oper «Le Grand Macabre» von György Ligeti in einer Inszenierung von Herbert Fritsch Premiere – eine Herausforderung. Zu herausfordernd? Diese Frage stellt sich angesichts dessen, dass der stadtweite Kulturstopp eines der überraschendsten und nachdenklichsten Ereignisse des Abends war.

Das Bühnenschaffen heutzutage ist nicht leicht. Zu ausgelotet sind bereits die Extreme, vom überladenen barocken Pomp bis zum existenziellen Minimalismus. So ist durchaus nachzuvollziehen, wenn sich ein Herbert Fritsch in seiner Inszenierung vermehrt auf die Akteure selbst einlässt, auf die Präsenz selbst.

Doch hat diese Vorgehensweise immer seine Berechtigung? Die Möglichkeit der Beantwortung solcher Fragen macht nichts weniger als die menschliche Existenz aus. Eines umso umsichtigeren Umgangs scheinen da die geplanten Sparmassnahmen im Kulturbereich zu bedürfen.

Mit einem Schnitt durch das pinkfarbene Band wird die Spielsaison 2017 des Luzerner Theaters vor dem Gebäude feierlich eröffnet. Ein symbolischer Akt des Aufbruchs, mahnen doch Plakate mit Manifesten vor den drohenden Sparmassnahmen in den nächsten Jahren (zentralplus berichtete). Die Leute freuen sich auf ein weiteres Jahr voller spannender Auseinandersetzungen mit der Kunst.

Klänge von Kubricks «Space Odyssey»

Das Luzerner Theater ist in rotes Licht getaucht – ein Vorbote Nekrotzars, des grossen Makabren. Dieser verkündet der Welt ihren Untergang, der sich zum Schluss in eine Identitätsfrage auflöst: Haben wir die Kontrolle über unser Dasein?

György Ligetis Oper bewegt sich auf einem Grenzbereich, hin- und hergerissen zwischen Vergangenheit und Avantgarde. Berühmt geworden ist Ligeti durch Stanley Kubricks Filmschaffen: Ligetis «Atmosphères» prägt durch seine sphärischen Klänge Kubricks weltberühmtes «2001: A Space Odyssey» massgeblich. Die Musik bewegt sich durch die verschiedenen Genres. Sie zitiert, nimmt auf, verpflichtet sich nicht. Sie ist gekennzeichnet von einer Zerrissenheit der Traditionen.

Das gilt aber nicht für das Opernwerk selbst. Dieses lässt zwar Spielraum offen, ist in sich aber ein abgeschlossenes Ganzes. Davon zeugt etwa die Wiederaufnahme von musikalischen Motiven zum Schluss, womit annähernd eine zirkuläre Struktur erzeugt wird. So chaotisch die Musik auf den ersten Blick scheinen mag, sie ist bis ins Details durchorganisiert und verfolgt dabei das Konzept des Ausreizens von Grenzbereichen.

Fehlendes Konzept

Wie soll nun ein Bereich zwischen Zerrissenheit und Ganzem interpretiert werden? Fritschs Inszenierung kündet eher von der Zerrissenheit. Die Schauspieler leben nur in ihren Rollen. Auf das grosse Ganze wird vor allem zu Anfang wenig Rücksicht genommen, was der Absicht Ligetis der Oper als «Marionettenspiel» klar entgegenläuft. So ist auch das Spiel mit der Musik durchbrochen und uneinheitlich.

Das fehlende Konzept wirkt sich hier zum Nachteil der Inszenierung aus: Die Musik beeinflusst direkt die Physis des Schauspiels anstatt nur den emotionellen Teil, was Ligetis eigentliches Anliegen war. So tanzen, flattern und zappeln die Schauspieler und vernachlässigen dabei die Gesamtwirkung. Das physische Augenmerk hätte vielmehr auf die Beziehungen, die Linien zwischen den Figuren gerichtet werden sollen, was dem Werkcharakter förderlich gewesen wäre. So kämpfen Musik und Schauspiel, anstatt zu einem sinnstiftenden Ganzen zu gelangen. Im zweiten Akt agiert vermehrt der Chor, was dem Auftritt Ruhe und Einheit verschafft.

Die Inszenierung des Stücks ist sehr bunt.

Die Inszenierung des Stücks ist sehr bunt.

(Bild: Ingo Hoehn)

Vulgär inszeniert

Das Bühnenbild wird von den Musikern und ihren Instrumenten selbst geformt. Dies ermöglicht eine stärkere Einbindung der Schauspieler in die Musik und schafft eine tolle Atmosphäre. Die musikalische Performance unter der Leitung von Clemens Heil war solide, besonders unter dem Gesichtspunkt der Koordination über den gesamten Theaterraum. Der Auftritt der Posaunen des Jüngsten Gerichts aus der obersten Theaterempore begeisterte.

Brauchen wir Kunst? Braucht die Kunst uns? Wo ist die Toilette?

Die Interpretation Nekrotzars durch Claudio Otelli ist passend, aber nicht überraschend. Gleiches gilt für die bunte Inszenierung des Stücks. Der lachende, farbenfrohe Tod ist ein schönes Sujet, aber nichts Neues: In allerbester Tim-Burton-Manier spazieren Kinder mit Retro-Radios und dunklen Augenhöhlen durch das Bild, während Nekrotzars Joker-verschmiertes Lippenstift-Grinsen auf seinem Gesicht prangt. Sarah Alexandra Hudarews Auftritt als Mescalina ist wunderbar ausladend, während es Piet vom Fass vorerst an Artikulation und Ernsthaftigkeit mangelt.

Kontrolle wird in Ligetis Opernstück durchwegs thematisiert und gespiegelt, zum Teil auch in physischen Beziehungen. Dies wurde in der Premiere an unpassenden Stellen unnötig vulgär inszeniert.

Kultur soll schockieren und provozieren

Anstatt sich der emotionalen Ausformung der Musik zuzuwenden, hätte man vermehrt einen sinnstiftenden Moment inszenieren sollen – einen solchen, wie ihn der Kulturstopp erschaffen hat. Dieser wurde in der ganzen Stadt durchgeführt, um auf die drohenden Sparmassnahmen aufmerksam zu machen. So rührten die Akteure beim Stichwort «fassungslos» für einige Minuten kein Glied.

Das ganze Theater wurde zu einem lebendigen bewegungslosen Bild, was mehr als der ganze Rest der Inszenierung wichtige Fragen aufgeworfen hat: Brauchen wir Kunst? Braucht die Kunst uns? Wo ist die Toilette? Die Leute schmunzeln ab des angekündeten und doch abrupten Unterbruchs. Dann langweilen sie sich. Man fragt sich, wann es weitergeht. Jemand macht die Augen zu. Dann – das erlösende Wiedereinsetzen. Die Leute applaudieren erleichtert. Denn die farbenfrohe Aufführung macht durch die merkliche Spiellust der Akteure trotz allem Freude.

So zerrissen die Musik Ligetis zwischen den Traditionen ist, so geteilt ist auch die Meinung der Leute. Manche finden es grossartig, besonders die szenischen Bilder, die gegen Schluss an Ausgewogenheit gewinnen. Andere nur grauenvoll. So soll Ligetis Musik ja auch wirken. Sie soll schockieren und provozieren. Wahre Kunst regt zum Nachdenken an. Das ist die eigentliche Aufgabe von Kultur, weshalb deren Erhalt lebenswichtig ist.

Weitere Vorstellungen bis 20. Oktober, Luzerner Theater

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1 Kommentar
  • Profilfoto von Gisela Widmer
    Gisela Widmer, 11.09.2017, 07:46 Uhr

    Bitte unbedingt auch die begeisterten und begeisternden Rezensionen von heute Montag in der NZZ und im TagesAnzeiger lesen sowie die fulminante Kritik auf Deutschlandradio nachhören.

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