Ausstellung «Öffnungszeiten» in Luzern

Ein totes Nivea-Pferd sorgt für Gänsehaut

Haus am Gern, Öffnungszeiten, Installationsansicht Kunsthalle Luzern (Bild: Rudolf Steiner)

Was der alltägliche Begriff – «Öffnungszeiten» – an Brisanz und Aktualität enthält, wird in der Installation von Haus am Gern in der Kunsthalle Luzern deutlich. Eine Ausstellung, die bei Besuchern beklemmende Momente verursacht.

Es sind gleich zwei Ausstellungen in Luzern zu sehen, deren Titel sich lesen wie der Informationsbereich einer Museumswebsite: «Führungen» von Gian-Reto Gredig und Goran Galić im sic! Elephanthouse und «Öffnungszeiten» des Künstlerduos Haus am Gern in der Kunsthalle Luzern.

Jedes öffentlich zugängliche Haus hat Öffnungszeiten: ein Gasthaus, das Gemeindehaus, ein Kunsthaus, und nun auch das Haus am Gern. Das Künstlerduo Rudolf Steiner und Barbara Meyer-Cesta beschreibt, wie sie erst kürzlich auf eine Rarität gestossen sind. Ein Garten in Deutschland, bei dem statt der Öffnungszeiten die Schliessungszeiten angegeben waren. So rar ist es vielleicht gar nicht. Ganz Europa scheint sich derzeit auf eine Neuregulierung seiner Schliessungszeiten zu fixieren. Es kann aber auch anders. Oder konnte.

Bekannte Elementen und unbekannte Pfade

Der Ort selbst, das Bourbaki-Panorama oberhalb der Kunsthalle Luzern, erzählt seit über 100 Jahren davon. Eine kaum mehr vorstellbare Zeit, in der die Schweiz mit der Personenfreizügigkeit eben freizügig, ja geradezu grosszügig umging. Nämlich als 87’000 französische Soldaten im Winter 1871 über die Schweizer Grenzen kamen und die verlumpten, zerschlagenen, frierenden und sicherlich stinkenden Soldaten vom wenige Jahre zuvor gegründeten Roten Kreuz in 190 Gemeinden der Schweiz verteilt wurden. Hier wurden sie  aufgepäppelt, verpflegt und entwaffnet.

Kontext und Geschichte des Bourbaki-Panoramas waren Ausgangspunkt für Haus am Gern, womit sie ihrem Vorgehen – lange Recherche, genauer Blick und ortspezifische Eingriffe – treu bleiben. So entstand die alle Sinne umfassende Rauminstallation in der Kunsthalle Luzern.

Die Glasfassade der Kunsthalle als Grenze

Rasch erkannten sie die Glasfassade der Kunsthalle selbst als Grenze, die zwischen innen und aussen, Kunst und Kaffee, Beobachtendem und Beobachtetem ein eigenartiges Verhältnis von Gleichgültigkeit bis Ärger herstellt. Diese Grenze attackierten sie aufs heftigste mit einer Salve gelber Paintball-Patronen. Diese fliesst nun als zähflüssige Masse langsam die Fenster herunter und erinnert an alle möglichen Körperflüssigkeiten.

Betritt man den so abgeschirmten Raum, schlagen einem zuerst ein süsslicher Kosmetikgeruch und feuchte Wärme entgegen. Ganze Gruppen von Stehlampen tragen Töpfe und Kannen auf dem Kopf. Leichter Dampf steigt von hier und da auf. Harmloses Mobiliar, wären sie nicht von Laufgittern umzingelt. Wer oder was wird hier abgeschirmt? Wer von wem geschützt? Wer vor wem beschützt? Könnten wir uns die Finger verbrennen, über die Kabel straucheln, oder geht die Gefahr vielmehr von unserer Seite der Absperrung aus? Diese Schranken sind in den Ampelfarben Gelb-Grün-Rot gehalten und mit drei Bewertungs-Smileys verziert. Eine Spannbreite von Lächeln zur Grimasse, ein Kippbild von heimelig anmutenden Referenzen an Herd und Kinderstube zu eiskalten Seitenhieben, prägt die Installation, die von Wandspiegeln nochmals verdoppelt wird.

Überall zeigt sich die Relativität des eigenen Standpunkts. Gesteigert wird das leicht aufkommende Unbehagen durch die zusammengerollten Teppiche, wie kauernde Körper. Und zuhinterst liegt ein totes Pferd, dessen aufgeblähter Bauch mit Nivea-Creme ausgestrichen ist. Es ist nach den Pappmaché-Attrappen geformt, die auf den Schlachtfeldern im ersten Weltkrieg als Camouflage für die Artillerie dienten. Dazwischen bunte Neonzeichnungen von flackerndem Feuer, Urinzeichnungen im Schnee, Wandzeichnung auf dem Pilaster, das ganze in einer Atmosphäre von stickiger Wärme. Die Elemente und Eindrücke folgen dicht an dicht. 

Ein beklemmendes Gefühl

Trotz – oder vielleicht gerade wegen der farbenfrohen blinkenden Zeichnungen, der wohligen Bekanntheit der schlecht designten Stehleuchten oder auch der spielerischen Paint-Ball-Arena-Ästhetik auf der Fassade – bleibt ein beklemmendes Gefühl zurück. Mit den geschickten historischen Analogien und Referenzen, ganz ohne erhobenem Zeigefinger, hinterlässt die Ausstellung Gänsehaut – und auch etwas Niedergeschlagenheit.

Ganz hinten scheint doch ein Entkommen möglich: der Notausgang steht offen, beleuchtet. Doch die davor gestellte Kordel erinnert daran, wie partiell diese Hoffnung bleibt.

Veranstaltungen in der Kunsthalle Luzern

Mittwoch, 29.06.2016, 19.00 Uhr
Ausstellungsrundgang und Künstlergespräch
Mit Johannes Binotto, Kultur- und Medienwissenschaftler & Haus am Gern

Sonntag, 10. Juli 2016, 14.00 Uhr
Finissage Haus am Gern
Kuratorenführung mit Michael Sutter (Leiter Kunsthalle Luzern), inkl. Besuch Rundgemälde Bourbaki-Panorama

Im ausführlichen Event-Kalender von zentralplus finden Sie alle Daten zu diesem und allen weiteren Veranstaltungen in der Zentralschweiz.

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