Zum Abschluss ein Glanzpunkt: Der Brite Benjamin Clementine beendete im Konzertsaal das diesjährige Blue Balls Festival. Der Hüne am Flügel hatte das Publikum im Sack – und tauchte den weissen Saal in stille Andacht.
Es war das letzte Konzert auf der Bühne des Konzertsaals am diesjährigen Blue Balls Festival – und was für eines: Der gut 90-minütige Auftritt von Benjamin Clementine mit Band war ein Triumph. Der fast volle Saal quittierte es mit Applaus, der nicht mehr enden wollte. Aber der Reihe nach.
Der Brite Benjamin Clementine ist einer von vielen Rückkehrern am diesjährigen Blue Balls. Er spielte schon 2015 hier – damals noch im kleineren Saal – und präsentierte sein Debütalbum «At Least for Now» zum ersten Mal in der Schweiz.
Jetzt, mit erst 28 Jahren und kurz bevor sein zweites Album «I Tell a Fly» im September erscheint, kam er zurück, der «einsame Wolf» Clementine («NZZ am Sonntag»).
Seine Blue-Balls-Premiere vor zwei Jahren war in höchsten Tönen gelobt worden, auch von seinem kürzlichen Auftritt in Montreux hörte man nur Gutes. Die Erwartungshaltung war also durchaus hoch.
Barfuss und in Overalls
Der Hüne trat wie immer in ein dunkles Samtkleid gekleidet und barfuss auf die Bühne, um seinen Hals eine Art weissen Federkragen. Halb stehend, halb sitzend platzierte er sich am Flügel, hinter ihm seine Band bestehend aus Drummer, Keyboarderin (die später noch eine fulminante Darbietung am Cello lieferte) und Bassist. Dazu kam ein fünfköpfiger Frauenchor. Allesamt barfuss und in unprätentiösen Overalls gekleidet.
Was danach passierte, ist schwer in Worte zu fassen.
Clementines Stimme ist eine Wucht, die im Konzertsaal ihre ganze Kraft über mehrere Oktaven hinweg entfaltete. Sie reicht vom Sprechgesang über brüchiges Flüstern bis zum kräftigen Pathos hinauf in weite Höhen. Wie er seine Worte platzierte und in soulige Watte legte, dabei mit den Augen einen Punkt fixierte, hatte etwas ungemein Einnehmendes und Beschwörendes.
Zusammen mit dem Backgroundgesang gab das zeitweise fast schon operettenhafte Einlagen und einen Hauch Gospel – aber immer gut geerdet durch seine starke Band. Die Musiker setzten markige Akzente, aber nie einen Ton zu viel. Der Drummer musste sein Schlagzeug unter Tüchern verdecken, sodass er mit seinen kräftigen Beats die Songs antreiben konnte, ohne dabei zu laut zu werden.
Musiker und Poet
Clementine ist genauso Poet wie Musiker – und er ist auf der ganzen Linie Autodidakt. Das merkt man diesen stilistisch schwer zu fassenden Songs an.
Der Brite mit ghanaischen Wurzeln hat eine klassische Tellerwäscherkarriere hinter sich, die sich wie ein modernes Musikmärchen annimmt. Man muss hier nicht nochmals erzählen, wie er sich das Klavierspielen selber beibrachte, wie er 19-jährig aus London nach Paris «floh», ohne Geld und nur mit einer Gitarre. Wie er auf der Strasse lebte, sich vom Strassenmusiker nach oben kämpfte und eine kräftige Stimme entwickelte, weil er gegen den Lärm der Züge ansingen musste.
Schliesslich schaffte er es 2015 zu seinem gefeierten Debüt. Jüngst wurde selbst der grosse Damon Albarn auf ihn aufmerksam, der ihn für einen der Songs auf dem neuen Gorillaz-Album holte («Hallelujah Money»).
Clementine verkörpert diese Vergangenheit mit jeder Faser, die Lebensschule drückt durch seine Songs. Und bei allem Mut zur Grösse haftet ihm nichts von billiger Show oder falschem Glamour an. Clementine vertraut – völlig zu recht – auf seine Erscheinung, seine Stimme und seine wunderbare Band.
Eine Gospelmesse
Clementine spielte sich durch Perlen seines ersten Albums wie «London» oder «Condolence», dem KKL-Publikum lief es kollektiv kalten den Rücken runter. Aber auch neue, bisher ungehörte Songs gab er zum Besten. Während anfangs seine Ansagen noch scheu und zögerlich waren, machte er gegen Schluss des Konzerts das KKL genüsslich zur Gospelmesse, indem er dem Publikum eine Gesangslektion erteilte.
Während das Publikum also sang und nicht mehr aufhören wollte, wanderte Benjamin Clementine durch die Ränge des weissen Saals, von der Akustik anscheinend schwer angetan.
Bevor er schliesslich in den KKL-Katakomben verschwand, gab’s eine Umarmung für Festival-Chef Urs Leierer. Dieser verabschiedete das Publikum und war den Tränen nahe. Es sind wohl diese Momente, für die man den ganzen Chrampf eines solchen Festivals auf sich nimmt. An diesem Abend, dem 29. Juli 2017, stimmte im weissen Saal einfach alles.