Trotz Gefahr der Stigmatisierung

Koran-Verteiler in Luzern wohl chancenlos

Der Polit-Blogger fordert ein Verbot von «Lies!»-Verteilungsaktionen.

(Bild: Pixabay)

Der Luzerner Regierungsrat will die Koran-Verteilaktion «Lies!» nicht in Eigenregie verbieten. Er empfiehlt aber den Gemeinden, strenger mit entsprechenden Bewilligungen umzugehen. Damit bewirke man genau das Gegenteil, kritisiert ein Experte der Universität Luzern: «Eine Hexenjagd wäre das Dümmste, was man tun könnte.»

Sie sorgen immer wieder für Schlagzeilen: Die Koran-Verteilaktionen «Lies!» der salafistischen Vereinigung «Die Wahre Religion». In Zürich stritten Kanton und Stadt letzten Frühling über ein Verbot. Ein solches wird auch in Luzern verlangt. CVP-Kantonsrat Peter Zurkirchen hat mit Unterstützung der SVP in einer Motion gefordert, dass solche Organisationen oder zumindest ihre Tätigkeit kantonsweit verboten werden.

Nun liegt die Antwort der Regierung vor und diese gibt die Verantwortung weiter: Ein Verbot auf Kantonsebene schliesst der Regierungsrat aus. Zu lange würde es dauern und zu intensiv wären die politischen Auseinandersetzungen. Der Regierungsrat «stellt sich auf den Standpunkt, dass ein Verbot Sache des Bundes ist». Nicht zuletzt, um zu verhindern, dass sich das Problem lediglich in andere Kantone verlagert.

Rundschreiben an alle Gemeinden geplant

Pragmatischer wäre laut Regierung ein Eingreifen auf kommunaler Ebene: Denn die Gemeinden und Städte sind es, welche die Verteilaktionen jeweils bewilligen. Werden Bewilligungen verweigert, könnte man Standaktionen einfacher verhindern, so der Tenor der Luzerner Regierung. Sie bezieht sich dabei auch auf die neusten Empfehlungen des Nachrichtendienstes des Bundes (NDB), die dieser vor rund zwei Wochen der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren unterbreitete.

Demnach können Standaktionen verboten werden, wenn die Organisationen oder Personen hinter der Aktion verfassungsfeindliche Ansichten vertreten. Es gibt laut Bund keine Pflicht, jenen eine Plattform auf öffentlichem Grund zu bieten, wenn ihre Ansichten nicht vereinbar sind mit den Werten einer demokratischen Gesellschaft. Ein Verweigern der Bewilligung wird demnach sogar möglich, wenn die Aktion selber nicht problematisch ist.

Der Luzerner Regierungsrat will deshalb – analog zum Kanton Zürich – alle Gemeinden mit einem Rundschreiben sensibilisieren und eine restriktivere Bewilligungspraxis empfehlen.

Stadt Luzern zieht mit – falls es mal ein Gesuch gibt

Bei der Stadt Luzern nimmt man davon Kenntnis, sieht aber aktuell keinen Handlungsbedarf. Denn die Debatte schwebt in Luzern gewissermassen im luftleeren Raum: Weder in der Stadt noch in anderen Luzerner Gemeinden wurde je ein Gesuch für eine «Lies!»-Aktion gestellt.

Das heisst aber nicht, dass nie eine stattgefunden hat. «Wir haben Kenntnis einer unbewilligten Aktion im Jahr 2014 in der Hertensteinstrasse, die – weil eben nicht beantragt und nicht bewilligt – eine Strafanzeige zur Folge hatte», sagt Mario Lütolf, als Leiter Stadtraum und Veranstaltungen zuständig für die Bewilligungen.

«Unter den gegebenen neuen Bedingungen ist eine Zusage zu einer solchen Aktion höchst unwahrscheinlich.»

Mario Lütolf, Leiter Stadtraum und Veranstaltungen Stadt Luzern

In den letzten Jahren seien allerdings keine Anfragen zu extremistischen Aktionen eingegangen. Die Stadt Luzern bewilligt im Jahr zwischen 800 und 900 Veranstaltungen – bei rund 1’300 Anfragen. «Wir sind tendenziell restriktiv», sagt Mario Lütolf. Doch wenn verfassungsrechtlich garantierte Grundrechte – beispielsweise die Meinungs- oder Redefreiheit – tangiert sind, habe man bislang wenig Spielraum gehabt. Denn jede Ablehnung kann in eine Verwaltungsgerichtsbeschwerde münden. «Daher müssen wir immer sorgfältig prüfen, ob die Grundlage für ein Nein besteht und juristisch haltbar ist.» Ähnlich argumentierte die Stadt bereits im Juni, als eine Verteilaktion einer Freikirche Fragen aufwarf (zentralplus berichtete).

Verweigert würde eine Bewilligung in Luzern, wenn man zum Schluss käme, dass eine Bedrohung der inneren oder äusseren Sicherheit vorliegt. Die Stadt begrüsst in diesem Sinne die neuen Empfehlungen des Nachrichtendienstes des Bundes sehr. «Die Haltung des NDB zur Einschätzung von ‹Lies!›-Aktionen ist auch für uns neu und selbstverständlich relevant», sagt Lütolf.

«Die Luzerner Regierung gibt damit der Tendenz nach, Muslime mit langen Bärten für gefährlich und von der Strasse fern zu halten.»

Andreas Tunger, Koordinator des Zentrums Religionsforschung

Heisst das, in Luzern wird es nie eine «Lies!»-Aktion geben? «Unter den gegebenen neuen Bedingungen ist eine Zusage zu einer solche Aktion höchst unwahrscheinlich», sagt Lütolf. Von einem grundsätzlichen, präventiven Veto hält er allerdings nichts – was aber nicht bedeute, dass die Stadt ihren eigenen Spezialweg gehe. «Wir verweigern uns weder Empfehlungen von aussen noch gibt es eine Absicht, mehr oder weniger liberal damit umzugehen. Wir beurteilen einfach jeden Fall einzeln.»

Experte fordert Fakten

Die Stadt fügt sich also voraussichtlich den Empfehlungen von Bund und Kanton. Wenig Gefallen an dieser Entwicklung zeigt Andreas Tunger vom Zentrum für Religionsforschung an der Universität Luzern. Der Experte kritisiert die Haltung der Luzerner Regierung. Nicht nur, weil man damit präventiv Aktivitäten zu unterdrücken versuche, die es in Luzern noch gar nicht gab. «Die Luzerner Regierung gibt damit der Tendenz nach, Muslime mit langen Bärten für gefährlich und von der Strasse fern zu halten – statt Tatsachen nimmt sie damit eine vermutete Gesinnung zum Massstab.»

Einen Koran zu verteilen, sei für sich genommen noch keine strafbare Handlung. Gemäss Tungers Meinung ist in der Schweiz bislang keine Gefahr dieser Aktionen erwiesen. «Es mag sein, dass die nun in Deutschland verbotene Organisation ‹Die Wahre Religion› die ‹Lies!›-Aktion dort zum Teil als Deckmantel zur Rekrutierung für den Dschihad benutzt hat. Aber für die Schweiz sind mir keine Belege dafür bekannt, dass dies gezielt versucht worden wäre.» Man schliesse zu stark von den deutschen Verhältnissen auf jene hierzulande.

Mario Lütolf (links) ist bei der Stadt zuständig für die Bewilligungen. Andreas Tunger studierte Islamwissenschaft und arbeitet am Zentrum Religionsforschung der Uni Luzern.

Mario Lütolf (links) ist bei der Stadt zuständig für die Bewilligungen. Andreas Tunger studierte Islamwissenschaft und arbeitet am Zentrum Religionsforschung der Uni Luzern.

(Bild: zvg)

Der Akademiker verweist auf den aktuellsten Sicherheitsbericht des NDB vom Mai 2017. Dieser hält explizit fest, dass keine gesicherten Erkenntnisse bestehen, dass die Standaktionen gewalttätig-extremistische oder terroristische Tätigkeiten fördern und damit die innere Sicherheit gefährden würden. Die Schweiz habe zudem eine liberalere Tradition als Deutschland – was sie sich wegen der Kleinräumigkeit und der besseren sozialen Kontrolle wohl leisten könne, da dies das Entstehen von Parallelgesellschaften erschwere.

Tunger räumt zwar ein, dass einzelne Schweizer Dschihad-Reisende vor ihrer Ausreise im Umfeld der «Lies!»-Aktionen verkehrten. Die Bundesanwaltschaft führt zudem mehrere Verfahren gegen Personen aus dem Dunstkreis dieses Zirkels. Das dürfe man nicht kleinreden, sagt Tunger, sondern da müsse der Bund genau hinschauen und tue dies auch. «Dass einer aus diesem Milieu tatsächlich nach Syrien reist, ist aber kein hinreichender Grund, die Standaktionen generell zu verbieten.»

Gefahr der Stigmatisierung

Solange man keine handfesten Beweise für eine Gefährdung vorliegen habe, bewirke man mit Verboten nur das Gegenteil des Gewollten. «Man bringt dieses Milieu damit nicht zum Verschwinden, sondern löst womöglich eine Radikalisierung erst aus: Einzelne fühlen sich als Opfer und sehen sich zu einer extremistischen Antwort ermächtigt», sagt Andreas Tunger. «Zugleich stigmatisiert ein Verbot zu Unrecht all jene, die zwar fromm sind, aber keineswegs gewaltbereit.»

«Es schleckt keine Geiss weg: Frauen mit Kopftuch finden kaum eine Lehrstelle.»

Andreas Tunger, Koordinator des Zentrums für Religionsforschung

Gemäss Tunger bräuchte es andere Massnahmen, um dem salafistischen Milieu das Wasser abzugraben. Einerseits auf politischer Ebene. «Es schleckt keine Geiss weg: Frauen mit Kopftuch finden kaum eine Lehrstelle. Gesellschaft und Behörden müssen dafür sorgen, dass Fälle von echter Diskriminierung von Musliminnen und Muslimen drastisch abnehmen.»

«Lies!»-Vereinigung «insgesamt überbewertet»

Auf der anderen Seite brauche es auch von den muslimischen Gemeinschaften einen Schritt. «Sie müssen eine theologische Antwort auf den kruden, oft holzschnittartigen Glauben jenes Milieus finden.» Tunger begrüsst in diesem Zusammenhang das Schweizerische Zentrum für Islam und Gesellschaft, das letztes Jahr an der Uni Freiburg eröffnet wurde, oder die an der Uni Luzern kürzlich besetzte Assistenzprofessur für islamische Theologie. «Es braucht Köpfe, die den Islam im Schweizer Kontext auf akademischem Niveau neu durchbuchstabieren können.» Es sei letztlich die bessere Prävention, wenn sich die Muslime eingebunden fühlen und selber die hiesige Gesellschaft gegen einzelne Scharfmacher verteidigen.

Die Vereinigung hinter den «Lies!»-Aktionen erachtet der Experte als «kleine Minderheit, die optisch auffällig und medial stark im Fokus steht, aber insgesamt überbewertet ist». Grundsätzlich funktioniere das Sicherheitsnetz in der Schweiz sehr gut, das zeige auch die kleine Zahl von Dschihad-Reisenden. «Nun eine Hexenjagd auszulösen, wäre das Dümmste, was man tun könnte.»

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