Chamer Wikipedia soll Geschichte lebendig machen

«Komme mir vor wie ein Schatzgräber auf der Pirsch»

Sie bilden drei Viertel der Chamapedia-Projektgruppe (v.l.n.r.): Michael van Orsouw, Thomas Gretener und Philippe Bart.

(Bild: sib)

Von A wie Apotheke Aklin bis Z wie Zollbrugg: Auf Chamapedia lässt sich so gut wie alles zur Geschichte der Gemeinde Cham finden. Obwohl die Website seit über einem Jahr online ist, haben Initiant Thomas Gretener und sein Team nach wie vor an verschiedenen Fronten zu kämpfen.

Tatort war das Restaurant Raben in Cham. Thomas Gretener sass mit Freunden beim Abendessen und erzählte davon, wie es in Cham einst nicht weniger als vier Metzgereien inklusive eigenem Schlachthof gegeben hat. Dafür erntete er am Tisch vor allem staunende Blicke. Von seinen Freunden schien niemand mehr etwas davon zu wissen. 

Gretener liess der Gedanke nicht mehr los, dass altes, wertvolles Wissen über die Gemeinde immer mehr verloren zu gehen droht. Es gäbe zwar einige Bücher über die Gemeinde Cham, doch stammten diese zumeist noch aus dem letzten Jahrtausend. «Zudem landen alte Fotos oder Gegenstände in Privatbesitz häufig in der Mülltonne», sagt Gretener.

«Wetzipedia» als Vorbild

Der Ur-Chamer sah sich gezwungen, etwas gegen das Vergessen zu unternehmen und brachte sein Anliegen bei der Kulturkommission der Bürgergemeinde Cham ein. Dann stiess Gretener bei seinen Recherchen im Internet auf das «Wetzipedia»: Ein Lexikon nur für die Gemeinde Wetzikon. Nun war der 60-Jährige endgültig Feuer und Flamme und wollte nach Vorlage des Online-Nachschlagewerks über die Zürcher Gemeinde auch ein Lexikon für Cham erstellen.

Der vielleicht berühmteste Chamer: Angy Burri (1939-2013) wuchs an der Knonauerstrasse auf. Natürlich ist auch ihm ein Artikel auf Chamapedia gewidmet.

Der vielleicht berühmteste Chamer: Angy Burri (1939-2013) wuchs an der Knonauerstrasse auf. Natürlich ist auch ihm ein Artikel auf Chamapedia gewidmet.

(Bild: Chamapedia/Denise Rankwiler)

Das Projekt fand Anklang in der Gemeinde. An der Bürgergemeindeversammlung wurde eine Anschubfinanzierung von 20’000 Franken beschlossen. Doch: Gretener konnte ein solches Projekt natürlich nicht alleine auf die Beine stellen. Er organisierte eine Projektgruppe, die neben ihm momentan drei weitere Mitglieder beinhaltet:

Michael van Orsouw ist Historiker, Schriftsteller sowie Autor und hat auch schon mehrere Bücher über Cham verfasst. Franziska Sidler ist Historikerin und Gemeindearchivarin von Cham und Menzingen. Philippe Bart ist ebenfalls Historiker sowie Gemeindearchivar von Baar, Neuheim und Risch.

Sie kommen fast nicht mehr nach

Vier Leute, die für ein ganzes Lexikon zuständig sind und dieser Tätigkeit grösstenteils in ihrer Freizeit nachgehen, sind aus Sicht von Gretener nicht gerade viele. «Tatsächlich sind wir daran, neue Leute für unser Team zu suchen, da wir fast nicht mehr nachkommen», erklärt er den Engpass.

«Heute wird einfach viel mehr weggeworfen.»

Thomas Gretener, Gründer und Projektleiter Chamapedia

Als Chamapedia im November 2016 online gestellt wurde, gingen dem rund drei Viertel Jahre Vorlaufzeit voraus. Neben dem Sammeln und Aufbereiten des Materials sowie dem Schreiben der Artikel ging es dabei auch um die technische Infrastruktur.

Originaler Wikipedia-Look ist kein Zufall

Nachdem verschiedene Software-Lösungen angeschaut wurden, fiel der Entscheid auf die originale Wikipedia-Software Mediawiki. «Diese kann frei heruntergeladen werden», erklärt Gretener. «Das Problem ist nur, dass sie in der Schweiz kaum jemand hosten kann.»

Schlussendlich wurde man bei einem Spezialisten in Berlin fündig. Weshalb man sich trotz den Schwierigkeiten für die Original-Software entschieden hat, liegt nicht nur am authentischen Design. «Wir können davon ausgehen, dass die Software über Jahre beständig sein wird», sagt Gretener.

Der Bärenplatz: 1920 Schauplatz eines Festumzugs.

Der Bärenplatz: 1920 Schauplatz eines Festumzugs.

(Bild: Chamapedia/GA Cham)

Bezüglich Design und Name mag Chamapedia dem Original stark nachempfunden sein. Doch es gibt auch Unterschiede. Während bei Wikipedia jedermann das Recht besitzt, Einträge zu verfassen und zu ändern, ist dies bei Chamapedia anders. Man kann zwar ein Benutzerkonto beantragen und Material an die Projektgruppe herantragen. Formatiert und eingestellt werden die Artikel jedoch von Gretener und seinem Team.

«Die Rettungsgräber der Archäologie»

Wie bei jeder anderen Gemeinde sind auch in Cham im Verlaufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte viele Anekdoten und Geschichten zu Personen, Gebäuden oder Strassen entstanden, die erinnert und erzählt werden sollten. Es stellt sich die Frage, wie zu Beginn entschieden wird, welche Geschichten zuerst angegangen werden sollen.

«Wir verhalten uns sozusagen wie die Rettungsgräber der Archäologie», erläutert Gretener. Dies bedeute, sie müssten die Priorität möglichst auf jenes Material legen, das verlorenzugehen droht. Das gelte in erster Linie für Geschichten, die nur noch in mündlicher Form erhalten sind.

Dem Fahrplan weit voraus

Erstaunlicherweise sei in vielen Fällen Material beispielsweise aus dem 19. Jahrhundert besser dokumentiert als jenes aus den letzten Dekaden. «Heute wird einfach viel mehr weggeworfen», sagt Gretener. Doch man konzentriert sich bei Chamapedia nicht nur auf die Vergangenheit. Unter anderem werden auch aktuelle bautechnische Entwicklungen dokumentiert.

Das Hotel-Restaurant Bären auf einer Aufnahme von 1982. Mit General Henri Guisan verkehrte auch hoher Besuch im Bären.

Das Hotel-Restaurant Bären auf einer Aufnahme von 1982. Mit General Henri Guisan verkehrte auch hoher Besuch im Bären.

(Bild: Chamapedia)

Ursprüngliches Ziel sei es gewesen, in den ersten drei Jahren rund 400 Einträge auf Chamapedia zu verfassen. Anschliessend wollte man schauen, wie das Projekt in der Bevölkerung ankommt. Noch ist das Chamer Lexikon keine eineinhalb Jahre online, doch: «Es besteht bereits jetzt aus mehr als 400 Artikeln», sagt Gretener. Und die Themen gehen noch lange nicht aus.

Gebäudetafeln führen direkt zu Chamapedia

Nebst immer neuen Geschichten und Fundstücken steht für das Chamapedia-Team noch ein weiteres Projekt an. In Zusammenarbeit mit der Einwohnergemeinde werden in Cham die Gebäudetafeln einem Update unterzogen und mit einem QR-Code versehen.

Der Link wird die Nutzer direkt auf die Chamapedia-Seite führen. Michael van Orsouw, für die Redaktion der Inhalte verantwortlich, hat vor kurzem sämtliche Inhalte der 56 Gebäudetafeln für Chamapedia aufgearbeitet. Inzwischen sind sie online. Die offizielle Einweihung der neuen Tafeln ist auf den 26. Mai angesetzt.

Wo bleibt die Begeisterung?

Es ist dies auch ein Versuch, das Projekt bekannter zu machen. Das Echo aus der Bevölkerung sei laut Gretener bislang zwar sehr positiv ausgefallen, jedoch sei Chamapedia einem beträchtlichen Teil der Einwohner noch kein Begriff. Dass sich nicht alle für Geschichte interessieren, sei allerdings auch klar. 

«Seit das Lexikon online ist, hatten wir rund 85’000 Zugriffe auf die Startseite, was immerhin 200 bis 250 Zugriffen pro Tag entspricht», sagt Gretener. Dies seien doch ganz beachtliche Zahlen. Werde ein Artikel auf Facebook beworben, schnelle der Traffic zusätzlich in die Höhe.

«Bei einem Budget von 45’000 Franken ist sehr diszipliniertes Arbeiten gefragt.»

«Trotzdem möchten wir präsenter werden», findet Thomas Gretener. Ein Weg, den die Geschichtsenthusiasten dabei verfolgen, ist der Aufbau eines Vereins mit einer breiten Trägergruppe. «Den Vereinsmitgliedern stünden Veranstaltungen wie Führungen im Angebot», so der Plan von Gretener.

Von den Enkeln zu den Grosseltern

Dies wäre Teil des Ziels einer lebendigen Geschichtsvermittlung. «Möglichst auch für nicht so Geschichtsinteressierte», wie Gretener betont. Aus diesem Grund werden vereinzelt auch Videos eingebettet. «Ein Bereich, den wir auszubauen planen», fährt er fort. Enkel könnten den Grosseltern das digitale Lexikon näherbringen.

Ein generationenverbindendes Projekt also. Eines, zu dem die Bürgergemeinde Cham jährlich 30’000 Franken beisteuert. Von Seiten der Einwohnergemeinde waren es letztes Jahr 15’000.

Ziehen weitere Gemeinden nach?

«Bei einem Budget von 45’000 Franken ist sehr diszipliniertes Arbeiten gefragt», sagt Gretener. «Zumal bei diesem Betrag auch die technische Infrastruktur einberechnet ist.» Die Projektmitglieder selbst bezögen ein geringes Honorar in Bezug auf den Zeitaufwand.

Ob die Beispiele Wetzipedia und Chamapedia auch in anderen Gemeinden Schule machen, kann der Chamer nicht beantworten. «Die Leute haben zwar grossen Respekt vor unserer Arbeit. Sie sind sich jedoch auch bewusst, wie viel ein solches Lexikon zu tun gibt.» Für Greteners Projektgruppe sei dies kein Problem, denn der Enthusiasmus, mit dem sie die Seite betreiben, ist gross. «Ich komme mir manchmal vor wie ein Schatzgräber auf der Pirsch und erlebe Glücksgefühle, wenn wir auf ein originelles, noch nicht publiziertes Bild stossen.»

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