Fallen unsere Tugenden der KI zum Opfer?

Warum wir das Denken nicht ChatGPT überlassen sollten

Sich bei der Rechtschreibung nur auf ChatGPT zu verlassen, ist keine gute Idee. (Bild: Pexels)

Texte von künstlicher Intelligenz korrigieren lassen ist eine praktische Sache. Sich dabei aber komplett auf ChatGPT und Co. zu verlassen, ist nicht empfehlenswert. Denn das Ergebnis dürfte im schlimmsten Fall den wenigsten gefallen.

Wenn ich Sätze höre wie: «Warum muss ich noch Rechtschreibung lernen, wenn ich doch ChatGPT habe?» oder «Na, im Zeitalter von ChatGPT, wo jeder fehlerfreie Texte generieren kann, ist das menschliche Wissen über Rechtschreibung immer unwichtiger» oder gar: «Wenn der andere meine Rechtschreibfehler nicht sehen will, soll er meinen Text von ChatGPT korrigieren lassen» – dann graut es mir. Nicht vor der Technologie, sondern vor dem, was sie offenbar in den Menschen auslöst.

Ich frage mich: Was passiert mit unserer Gesellschaft? Wo sind unsere Werte geblieben? Und, vielleicht noch wichtiger, welche Werte werden wir in Zukunft haben? Ich habe in der Schule noch die neue deutsche Rechtschreibung gelernt – inklusive Kommasetzung. Wir haben die Kommaregeln im Sprechchor auswendig gelernt. Und ja, ich kann sie immer noch aufsagen. Genau wie die Quadratwurzeln, die wir im Matheunterricht gepaukt haben, oder die Tischmanieren, die ich zu Hause beim Abendessen beigebracht bekommen habe.

Warum sind diese «guten alten Kompetenzen» plötzlich angeblich unwichtig? Ist das Einzige, was noch zählt, ob ChatGPT korrekt gegendert hat? Oder nicht mal das? Zählt nur noch, wie viele Follower ich auf TikTok, Instagram und YouTube habe?

KI-Tools können den Menschen nicht ersetzen

Was passiert mit denjenigen, die dieses Spiel nicht mitspielen wollen? Die sich lieber hinsetzen und sprachlich korrekte Briefe per Post verschicken? Bin ich dann altmodisch? Vielleicht. Aber ich glaube, die Frage geht tiefer. Es geht um die Gefahr, gewisse Tugenden komplett zu verlernen oder sogar bewusst zu vernachlässigen. Tugenden, die – ob wir es wollen oder nicht – einen Teil unserer Gesellschaft, unserer Kultur und Identität ausmachen.

Bitte versteht mich nicht falsch: Ich bin ein grosser Fan von KI-Tools wie ChatGPT oder den Schweizer Alternativen SwissGPT und Peak Privacy. Diese Tools haben ein immenses Potenzial, uns das Leben zu erleichtern, Arbeitsprozesse effizienter zu gestalten und auch sprachlich auf höchstem Niveau zu unterstützen. Aber sie können uns nicht ersetzen. Vor allem können sie nicht das ersetzen, was uns als Menschen ausmacht: die Fähigkeit zu reflektieren, Zusammenhänge zu verstehen, Verantwortung zu übernehmen und Werte zu leben.

Warum Rechtschreibung mehr ist als blosses Wissen

Rechtschreibung zu beherrschen, bedeutet mehr, als nur Fehler zu vermeiden. Es ist ein Ausdruck von Respekt. Respekt vor der Sprache, vor der Kommunikation und vor dem Gegenüber. Einer meiner ersten Chefs hat manchmal einen ganzen Tag gebraucht, um eine einzige E-Mail zu verfassen. Als ich ihn darauf angesprochen habe, sagte er mir: «Sophie, wenn du schnell eine gute Antwort haben willst, dann muss deine Mail so zielgerichtet und einfach verständlich sein wie möglich – deine Mail ist die wichtigste Basis für die Antwort deines Gegenübers.»

Wenn ich mir die Mühe mache, einen korrekten und gut formulierten Text zu schreiben, zeige ich, dass mir der Austausch wichtig ist. Ich zeige, dass ich Wert auf Genauigkeit, Klarheit und Struktur lege. Rechtschreibung ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, um meine Gedanken klar und präzise zu vermitteln.

Noch wichtiger: Rechtschreibung ist ein Zeichen von Eigenverantwortung. Wenn ich mich darauf verlasse, dass ein KI-Tool meine Fehler korrigiert, gebe ich einen Teil dieser Verantwortung ab. Ich erlaube der Technologie, für mich zu denken, anstatt selbst aktiv zu bleiben. Das mag bequem sein, aber es ist auch gefährlich. Denn Bequemlichkeit ist oft der erste Schritt in Richtung Abhängigkeit.

Werte im Wandel – und was wir bewahren sollten

Wir leben in einer Zeit des rasanten Wandels. Technologien wie KI stellen unsere bisherigen Werte, Gewohnheiten und Traditionen auf den Kopf. Das ist einerseits faszinierend und bietet unglaubliche Chancen. Andererseits dürfen wir nicht alles, was uns früher wichtig war, über Bord werfen. Werte wie Genauigkeit, Sorgfalt und Respekt sind keine Relikte der Vergangenheit, sondern Leitplanken für die Zukunft.

Beim Schreiben dieser Kolumne habe auch ich ChatGPT um Unterstützung gefragt – und zwar habe ich nach passenden Zitaten gesucht. Dabei gefiel mir dieses von Albert Einstein am besten: «Technologie macht vieles leichter, aber sie darf niemals das Denken ersetzen.» Nur: Ein Beleg, dass Einstein dies auch tatsächlich gesagt hat und keine Erfindung der KI ist, findet sich nicht.

Wenn wir uns im Zeitalter der KI zu sehr auf Maschinen verlassen, laufen wir Gefahr, genau das Denken anderen zu überlassen. Wir ersetzen nicht nur das Denken, sondern auch das Fühlen, das Reflektieren und das Verantwortung-Übernehmen. Wollen wir wirklich in einer Gesellschaft leben, in der es nur noch darauf ankommt, wie schnell und fehlerfrei ein Text generiert wurde? Oder wollen wir eine Gesellschaft, in der es auf den Menschen hinter dem Text ankommt?

Ein Aufruf zum Handeln

Deshalb mein Appell: Lasst uns die Rechtschreibung nicht als unnötige Last sehen, sondern als wertvolle Kompetenz. Lasst uns stolz darauf sein, Texte zu schreiben, die unsere Persönlichkeit und unser Wissen widerspiegeln – nicht nur das, was ein Algorithmus ausspuckt. Und lasst uns vor allem daran denken, dass die Werte, die wir heute leben, die Welt von morgen prägen.

ChatGPT und Co. sind fantastische Werkzeuge. Aber sie sind nur so gut wie die Menschen, die sie benutzen. Lasst uns also nicht verlernen, was uns ausmacht. Lasst uns die Rechtschreibung, die Sprache und die Werte, die uns wichtig sind, bewahren. Für uns selbst, für unsere Gesellschaft und für die kommenden Generationen. Denn eines ist sicher: Kein KI-Tool der Welt kann uns den Respekt vor uns selbst und unseren Mitmenschen abnehmen.

Unsere Kolumnistinnen und Kolumnisten vertreten ihre eigene Meinung. Sie deckt sich nicht in jedem Fall mit derjenigen der Redaktion.

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