Kanton Luzern: Zwischen Fortschritt und Provinzialität
Die Zentralschweiz steckt zwischen Wachstum und Stillstand. Loris Fabrizio Mainardi beleuchtet die Schattenseiten einer Region, die zwischen Fortschritt und Provinzialität gefangen ist.
Dass das in der Zentralschweiz überdurchschnittliche Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahrzehnte auch Schattenseiten hat, wurde in meiner vorletzten Kolumne schon angetönt. Beleuchten wir heute nun zwei weitere Schauplätze wirtschaftspolitischer Hybris:
Während der letzten 50 Jahre lebten im Kanton Luzern mehr Schweine als Menschen; letztere «egalisierten» erst kürzlich wieder (zentralplus berichtete). Als ich geboren wurde, hatte ein durchschnittlicher Halter 80 Hühner, heute sind es über 800. Solange drei Mittellandseen künstlich belüftet, regelmässig Hunderte Tiere bei Stallbränden elendiglich verenden und – im euphemistischen «Schweinezyklus» – Tausende Schweine notgeschlachtet werden müssen, ist gar nichts gut.
Es stinkt die zynische Nachhaltigkeit einer Landwirtschaftspolitik, welche Kraftfutter aus Brasilien importiert, um überschüssige Gülle nach Ostdeutschland zu exportieren. Seit Jahrzehnten werden Bundesgesetze zum Tier- und Umweltschutz von den Behörden des «Agrarkantons» nicht vollzogen, sondern durch den Einfluss der Bauernlobby im Kantonsparlament systematisch missachtet. Sogar die lokale Justiz schützt illegale Massenhaltungsprojekte: Von mir vertretene Anwohner mussten bis vors Bundesgericht ziehen, um einen Mastbetrieb für alljährlich 72’000 Poulets «vom Dottenberg» zu verhindern (zentralplus berichtete).
Kantonalbank ist längst zu gross
Aus ländlichen Massenställen nun in kleinstädtische Teppichetagen: Obwohl die Staatsgarantie der Kantonalbanken von der Wettbewerbskommission wie der OECD als wettbewerbswidrig gerügt und bei Debakeln Berner und Genfer Steuerzahler Milliarden gekostet hat, halten die meisten Kantone daran fest. Das Problem: Ihre Banken sind längst nicht mehr die kleinen Institute, als die sie im 19. Jahrhundert gegründet wurden, um dem lokalen Gewerbe zu Krediten zu verhelfen.
So beträgt die Bilanzsumme der Luzerner Kantonalbank heute mit über 50 Milliarden Franken mehr als das zweifache kantonale BIP – die LUKB ist für den Kanton genauso «too big» wie die fusionierte UBS für den Bund. Obgleich die jährliche «Abgeltung der Staatsgarantie» von einer risikogerechten Prämie weit entfernt ist – und tragikomisch vom Kanton als Hauptaktionär selbst bezahlt wird –, hat der Kantonsrat letztes Jahr nicht nur an der Staatsgarantie festgehalten, sondern auch von einer externen Risikoanalyse nichts wissen wollen (zentralplus berichtete).
Die Kapellbrücke als bestes Beispiel
In meiner ersten Kolumne hatte ich daran erinnert, dass der Basler Historiker Jacob Burckhardt in seiner Lehre von den zivilisationstragenden «Potenzen» (Religion als Sinn, Staat als Ordnung und Kultur als Freiheit) die Wirtschaft zur Potenz der Kultur zählte. Heute, da «nutzlose» Mint-Fächer aus den Lehrplänen gestrichen und die nationale Volks- durch eine globale Betriebswirtschaft ersetzt worden ist, mag eine Frage offenbleiben: Sind diese einst gleichgewichtigen Potenzen nicht längst zu einer geschichtsvergessenen «Renditekultur» fusioniert worden? Für die heutige Zentralschweiz und deren «Kulturhauptstadt» ist jedoch festzustellen, dass – eigentlichen Provinzialismus demaskierend – volkswirtschaftlicher Grössenwahn mit kulturpolitischer Kleinkariertheit kontrastiert:
Bereits der «Fall Kapellbrücke» war ein leuchtendes Fanal: Jahrzehnte vor deren Brand kümmerte sich niemand um deren Unterhalt, bis in der Brandnacht vom 18. August 1993 Staub und Spinnweben ihre pyromanische Beihilfe leisteten. Die Holzbrücke wird seither fleissig geputzt – scheinbar, um von anderen Nachlässigkeiten abzulenken, etwa den Desastren um die «Bodum»-Villen wie die «Villa Vicovaro» auf Dreilinden.
Bereits kleine Projekte scheitern
Nach demselben Motto «öffentlich vernachlässigen, privat retten» will man bis heute auch das Schlössli Utenberg kommerzialisieren – obwohl der Stadt 1931 vom US-Mäzenen Hoyt unter der Auflage geschenkt, «auf immer und ausschliesslich öffentlichen Interessen dienstbar» zu sein. Die im Jahr 2018 eingeleiteten Zivilverfahren sind – nach prozessualen Ränkespielen der Stadt – nach wie vor pendent (zentralplus berichtete).
Wenn die Stadt solch kleine Juwelen nicht zu pflegen vermag – wie sollte sie Grosses schaffen? Das jahrelang gespielte Theater um das Theaterprojekt lässt argwöhnen, dass ein Neubau vom Kaliber des KKL im heutigen Umfeld nicht mehr zu stemmen wäre. Immerhin steht damit noch ein Kulturhaus, dessen internationale Ausstrahlung die Provinzialität seiner Eigentümerschaft ignoriert. Ob die Luzerner sich all dieser zukunftsweisenden Diskrepanzen gewahr sind?
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