Besser als ihr Ruf

Ein Lob auf die direkte Demokratie

Die direkte Demokratie der Schweiz ist besser, als ihr Ruf vermuten lässt. (Bild: jal)

Während der US-amerikanische Wahlkampf vom ideologischen «Make America Great Again» geprägt war, ging es bei den letztjährigen Urnengängen in der Schweiz um konkrete Fragen wie Sozial- und Krankenversicherung, Mietrecht, Klima- und Landschaftsschutz. Die direkte Demokratie ist ein Gegengift zum Trumpismus.

Beim ersten Mal, als ich an einer eidgenössischen Abstimmung teilnehmen konnte, ging es um die Volksinitiative der Nationalen Aktion «gegen die Überfremdung und Überbevölkerung der Schweiz». Die Vorlage erreichte am 20. Oktober 1974 bei einer hohen Stimmbeteiligung von über 70 Prozent bloss ein Drittel der Stimmen. Viele der Leser dürften jetzt stutzen: Aber die «Schwarzenbach-Initiative» wurde doch nur knapp abgelehnt?

Vergessene Abstimmungssiege

Tatsächlich hatte die ebenfalls von der Nationalen Aktion (NA) lancierte «Schwarzenbach-Initiative» «gegen die Überfremdung der Schweiz» am 7. Juni 1970 bei einer Rekordbeteiligung von 75 Prozent 46 Prozent Jastimmen geschafft. Zwischenzeitlich wurde 1971 das Frauenstimmrecht eingeführt. Vor allem aber hatten die 68er, deren Mehrheit in den 1970er-Jahren erwachsen wurde, vor allem in der Jugend stark an Einfluss gewonnen.

Die Rekruten, mit denen ich den Sommer und Herbst 1974 verbrachte, stimmten praktisch geschlossen gegen die NA-Initiative. Die nächste von Schwarzenbach ohne die NA lancierte Volksinitiative «zum Schutz der Schweiz» erreichte am 13. März 1977 bei einer Stimmbeteiligung von 45 Prozent nicht einmal 30 Prozent der Stimmen. Nicht viel besser erging es der NA-Initiative «für eine Beschränkung der Einbürgerungen», die am selben Tag auf 34 Prozent kam.  

Die vier Abstimmungen zwischen 1970 und 1977 und die Tatsache, dass nur die erste in Erinnerung geblieben ist, weisen auf zwei Fakten hin: Erstens hat der Schock von 1970 einen Lern- und Mobilisierungsprozess ausgelöst, der die fremdenfeindlichen Anteile bei allen Urnengängen bis zur Jahrtausendwende auf ein Drittel zurechtstutzte. Zweitens zeigt das Vergessen der klaren Abstimmungssiege gegen die Fremdenfeindlichkeit 1974 und 1977, dass die direkte Demokratie einen schlechteren Ruf hat, als sie verdient.

AHV statt MAGA

Die wichtigste Stärke der direkten Demokratie liegt darin, dass sie in den meisten Fällen Fragen konkretisiert. Im vergangenen Jahr vermochte in den USA ein rücksichtsloser Vertreter des Grosskapitals mit dem nationalistischen Slogan «Make America Great Again» die Mehrheit der Arbeiterklasse, die zu den grossen Verliererinnen des Neoliberalismus gehört, gewinnen. Arbeitende, die fast alles verloren haben oder zu verlieren drohen, haben sich an das geklammert, was ihnen bleibt: die Nation.

Trump war, abgesehen von der Abtreibungsfrage, nicht gezwungen, sein antisoziales Programm zu enthüllen. Während in den USA das MAGA-Schlagwort den Wahlkampf und dessen Ausgang dominierte, stimmte in der Schweiz ein Grossteil der SVP-Basis gegen die eigene Führung: für die 13. AHV-Rente, gegen die BVG-Reform, den Abbau des Mieterschutzes und umweltzerstörende Autobahnen.

Solche Abstimmungen haben zwei Folgen, eine praktische und eine politische: Die Bürgerinnen und Bürger haben dank des Referendums- und Initiativrechts die Möglichkeit, gegen die bürgerlichen Parteien ihre sozialen Interessen zu verteidigen. Wenn die Schweiz das einzige Land in Europa ist, in dem das unterste Einkommensfünftel in den vergangenen beiden Jahrzehnten nicht abgehängt wurde, hat das entscheidend mit den flankierenden Massnahmen bei den Bilateralen zu tun.

Aber die Gewerkschaften und Linksparteien konnten den Lohnschutz nur durchsetzen, weil die Verträge mit der Europäischen Union auf das Volksmehr angewiesen sind. Die direkte Demokratie hat zusätzlich die politische Folge, dass die Bürgerinnen und Bürger an konkreten Fragen prüfen können, welche Parteien auf der Seite der Reichen und welche auf der Seite der mittleren und unteren Einkommen stehen. Wenn Abstimmungsresultate wie die im vergangenen Jahr sich häufen, wird das – wenn auch mit Verzögerung – auf die Wahlergebnisse Folgen haben.

Partizipation und Ausgrenzung

Natürlich macht sich Schlagwort-Politik à la MAGA auch in der direkten Demokratie breit. Das Ziel der SVP lautet zwar «Make Switzerland Small Again», aber das ist nicht weniger fremdenfeindlich. Ein Beispiel dafür ist die Initiative «Keine 10-Millionen-Schweiz». Wie beim Trumpismus geht es auch hier um die Begrenzung der Zuwanderung und die Ausgrenzung der Zugewanderten.

Der berühmte Satzteil von Max Frisch aus dem Jahre 1965 «man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen» beginnt mit der selten erwähnten Aussage: «Ein kleines Herrenvolk sieht sich in Gefahr.» Damit spricht er auf ein Grundproblem der Schweizer Demokratie an: Das erste Land, in dem sich das Prinzip der Volkssouveränität nachhaltig durchsetzte, war das letzte in Europa, in dem im 19. Jahrhundert die Juden und im 20. Jahrhundert die Frauen in den Souverän aufgenommen wurden. Dem eidgenössisch denkenden Männervolk fiel und fällt es schwer, sich von seiner «Herrenvolk»-Mentalität zu verabschieden.

Das Paradox: starke Partizipation derer, die dazugehören, und scharfe Ausgrenzung derer, die nicht dazugehören, erklärt sich aus den beiden Hauptquellen der direkten Demokratie: Französische Menschenrechtserklärung, die auf den Citoyens baut, und alteidgenössische Landsgemeinde, die auf einem geschlossenen Volkskörper gründet. Die unterschiedlichen Durcheinander der beiden Elemente in den verschiedenen Kantonen erklärt, warum die Romandie die Gleichberechtigung von Juden und Frauen deutlich befürwortete, als sie von der Inner- und Ostschweiz massiv verworfen wurde.

Dass diese Schwierigkeit nicht gegen die Volksrechte spricht, zeigt das direktdemokratische Instrument, mit dem heute für die Ausweitung des Souveräns gekämpft wird: die Vierviertelinitiative. Sie fordert ein Grundrecht auf Einbürgerung. Dank dieser Volksinitiative lässt sich über die politischen Rechte eingewanderter Menschen eine konkrete Diskussion führen, die nicht durch das nationalistische Schlagwort «Überfremdung» bestimmt wird.

Ständemehr gegen Volksmehr

Zu den nobelsten Zwecken des Initiativrechts gehören das Aufwerfen vernachlässigter Fragen und das Aufbrechen politischer Verkrustungen. In ihrem kürzlich erschienenen Buch «Heute Abstimmung! 30 Volksentscheide, die die Schweiz verändert haben» thematisieren David Hesse und Philipp Loser eine Reihe historischer Urnengänge. Dazu gehört der 26. November 1989, als 36 Prozent der Stimmenden mit ihrem Ja zu einer Schweiz ohne Armee das offizielle Diktum: «Die Schweiz hat keine Armee, die Schweiz ist eine Armee» für immer erledigten. Um eine existenzielle Frage, das Überleben unseres Planeten, geht es beim ersten Volksbegehren, das in diesem Jahr zur Abstimmung kommt: die Umweltverantwortungsinitiative der Jungen Grünen. Wie die GSoA-Initiative wurde auch sie von jungen Menschen ohne grosse Geldmittel gestartet.

Ganz anders sieht es aus bei der im vergangenen Herbst von Milliardären aus Steueroasen lancierten und alten Promis unterstützten Kompass-Initiative. Sie macht die Schweiz weder sozialer noch humaner und auch nicht demokratischer. Der Wechsel vom fakultativen zum obligatorischen Referendum bei völkerrechtlichen Verträgen hat zur Folge, dass wegen des Ständemehrs nicht mehr das Volk das letzte Wort hat. Die Initiative will ein Vetorecht der konservativen Deutschschweizer Kantone gegen allfällige Mehrheiten der Schweizer und vor allem Schweizerinnen. Aber selbst dieses Volksbegehren hat ihr Gutes. Es wirft die Frage auf: Kann die Demokratie den Citoyennes und Citoyens gehören, wenn die Hälfte der Schweiz einem Prozent Bourgeois gehört?

Unsere Kolumnistinnen und Kolumnisten vertreten ihre eigene Meinung. Sie deckt sich nicht in jedem Fall mit derjenigen der Redaktion.

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