Suchtbelastete Familien

«Kinder fühlen sich schuldig, wenn der Vater trinkt»

Ein Glas, noch eins und noch eins: Kindern von suchtkranken Eltern fehlt es oft an Geborgenheit. (Bild: Lisa Dietermann)

Wenn Mami und Papi trinken, leiden die Kinder still vor sich hin. Die Familien kapseln sich ab und das Umfeld schaut weg. Das hat verheerende Folgen: Viele Kinder werden später selber süchtig oder haben schwere psychische Probleme. Eine betroffene Luzernerin erzählt, wie sie mit der Sucht ihrer Eltern gelebt hat.

Sie ist eine von rund 50’000 Betroffenen in der Schweiz. Nennen wir sie Andrea, ihren richtigen Namen möchte sie lieber nicht veröffentlichen. «Mein Vater war Alkoholiker», beginnt die heute 31-Jährige. Sie habe erst relativ spät, mit ungefähr vierzehn Jahren, gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Das hatte auch damit zu tun, dass ihre Eltern, seit sie sechs war, geschieden waren und Andrea ihren Vater nur am Wochenende und in den Ferien sah.

«Es gab Restaurant-Besuche, bei denen mein Vater so viel trank, dass er nachher kaum noch gehen konnte.»

Andrea, 31

Sturzbetrunken im Restaurant

Die Luzernerin erinnert sich, wie sie sich manchmal geschämt hat für ihren Vater. «Es gab Restaurant-Besuche, bei denen er so viel trank, dass er nachher kaum noch gehen konnte.» Aggressiv oder gewalttätig war ihr Vater nie. «Gott sei Dank, er war ein sehr lieber Mensch, der eher zu Depressionen neigte.» Trotzdem hat Andrea unter der Situation gelitten. «Ich habe mir sehr viel Sorgen um ihn gemacht, weil ich merkte, dass es ihm nicht gut geht. Ich hatte auch Verlustängste.»

«Ich habe für ihn gelogen, habe seine Kunden vertröstet, Rechnungen für ihn geschrieben.»

Andrea begann bald einmal, Verantwortung für ihren Vater zu übernehmen. «Ich habe für ihn gelogen, habe seine Kunden vertröstet, Rechnungen für ihn geschrieben.» Das sei eine typische Reaktion: Die Angehörigen geraten in eine Art Co-Abhängigkeit. Das sei aber eigentlich genau das Falsche, sagt sie. «Damit unterstützt man die Person letztlich in ihrer Sucht und ermöglicht ihr, weiterhin ohne Folgen süchtig zu sein.»

Podium und Kinderfest

Am Freitag, 20. November, findet um 20 Uhr das Podium «Ich seh Dich – Kinder aus suchtbelasteten Familien» im Südpol in Kriens statt. Durchgeführt wird die Veranstaltung von der Organisation «Kinder im Gespräch», die sich zum Ziel gesetzt hat, für die Situation der Kinder aus Suchtfamilien zu sensibilisieren (www.kinder-im-gespraech.ch). Unter der Leitung von Iwona Swietlik unterhalten sich Sibylle Tobler Estermann, Präsidentin der Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde Kriens, Beatrix Martig (Fachstelle Kinderbetreuung Luzern), die Betroffene Rhea DeRubertis und Stephan Germundson vom Verein für Suchttherapie «Die Alternative».

Am Samstag steigt am selben Ort von 14 bis 17 Uhr das Kinderfest «Ich seh Dich». Neben Kinderschminken, dem Märli-Erzähler Ole, der Ludothek Kriens und einem Wettbewerb ist der Auftritt der Kinderband «Schtärneföifi» ein weiterer Höhepunkt.

Zu den jüngeren Geschwistern geschaut

Eine typische Reaktion: Kinder von suchtbelasteten Eltern unterstützen den Süchtigen und halten damit das System aufrecht. Andrea zum Beispiel hat dafür gesorgt, dass die beiden jüngeren Halbschwestern – heute sind sie sieben und zwanzig Jahre alt – rechtzeitig zur Schule kamen, dass sie ihr Sackgeld bekommen und so weiter. Damit habe sie viel Verantwortung übernommen – zu viel für ihr Alter. «Dadurch war ich als Jugendliche zu sehr absorbiert.»

Das schlechte Gewissen der Kinder

Die ganze Situation war aber für die Geschwister von Andrea noch viel schlimmer, weil sie deutlich jünger waren. «Sie fühlten sich schuldig, dass der Vater trank», sagt Andrea. Deshalb bemühten sie sich, bessere Noten von der Schule nach Hause zu bringen oder das Zimmer immer schön aufzuräumen. «Weil sie dachten, dass er wegen ihnen ein Problem hatte.» Das sei bei Kindern mit süchtigen Eltern das grösste Problem: Sie denken, dass sie für die Sucht des Elternteils verantwortlich seien.

Geschichten wie diese gibt es viele, auch in Luzern, Zug oder Dagmersellen. Die Vorstellung, dass der Vater nur noch trinkt und am Rande der Gesellschaft vor sich hin vegetiert, ist falsch. «Mein Vater war selbstständiger Vermögensverwalter und war während Jahren berufstätig», sagt Andrea. Seine Sucht hätten viele gar nicht bemerkt. «Es begann damit, dass er mit Kunden Wein degustierte. Mit den Jahren wurde der Konsum immer grösser.» Auch später gab es Phasen, in denen er erst am Mittag das erste Glas trank.

«Ich wollte ihm helfen, ich dachte, dass ich das müsse und dass ich das auch könne.»

Den Alkohol heimlich verdünnt

Dann wanderte er ins Ausland aus, und Andrea wohnte als junge Erwachsene vier Jahre bei ihm. «Ich wollte ihm helfen, ich dachte, dass ich das müsse und dass ich das auch könne.» Sie sprach ihn auf das Trinken an, verdünnte den Alkohol, bestellte Bücher zum Thema. Und, und, und. Bis sie merkte, dass es nichts nützte. «Dann ging es in Verzweiflung und Ohnmacht über und manchmal habe ich ihn auch beschimpft.» Dabei sei sie doch jemand, der harmoniebedürftig sei und Streit nicht gerne habe.

Irgendwann machte Andrea in einer Selbsthilfegruppe mit. Dort lernte sie, dass nicht sie es ist, die die Sucht verursacht hat, dass sie sie darum auch nicht kontrollieren und ihren Vater nicht heilen kann. «Das zu wissen war für mich eine riesige Erleichterung.»

Vor zweieinhalb Jahren ist Andreas Vater an einer Leberzirrhose gestorben, mit 55 Jahren. Ein trauriges Ereignis, denn: Trotz allem hatte sie ihren Vater lieb. Anders als andere mit einem ähnlichen Schicksal ist die 31-Jährige heute glücklicherweise mit relativ wenig negativen Folgen konfrontiert. «Viele Kinder aus suchtbelasteten Familien werden selber süchtig oder haben später psychische Probleme.»

Die Hauptschwierigkeit sei, dass man nicht lerne, wie man mit Problemen umgehen kann. «Alkoholiker trinken ihre Schwierigkeiten weg», sagt Andrea. Zudem wird in solchen Familien zwangsläufig viel gelogen. Kindern aus Suchtfamilien fehlt darum Geborgenheit, Selbstvertrauen und die Gewissheit, dass man die Schwierigkeiten des Lebens meistern kann.

Fehlende Geborgenheit

Das bestätigt auch Natalie Ehrenzweig: Sie hat viele Geschichten von Kindern gehört, die Eltern mit einem Suchtproblem haben. Die Luzerner Journalistin hat daraus das Erzählbuch «Verwandlungen – wenn Mami und Papi komisch werden» geschrieben. «Ein Drittel der Kinder aus suchtbelasteten Familien hat später mit Depressionen, Burnouts und anderen psychischen Problemen zu kämpfen, ein weiterer Drittel hat selber ein Suchtproblem.»

«Die Kinder müssen dauernd lügen, dürfen keine Freunde mit nach Hause nehmen und werden oft als komisch wahrgenommen.»

Natalie Ehrenzweig, Buchautorin

Das Problem sei, dass die Kinder oft in einer angespannten, unberechenbaren Situation aufwachsen. «Sie können sich auf nichts verlassen», so Ehrenzweig. Mal sind die Eltern da, mal nicht, manchmal werden Grenzen gesetzt, mal sind die Kinder völlig auf sich allein gestellt. «Die Sicherheit und Geborgenheit, welche Kinder dringend brauchen, ist oftmals nicht da.»

Immer noch sind Familien mit einer Suchtproblematik ein Tabuthema, weiss Natalie Ehrenzweig. Es werde weder zu Hause noch in der Öffentlichkeit angesprochen, wenn der Vater oder die Mutter trinkt, Tabletten oder illegale Drogen konsumiert. «Die Kinder müssen dauernd lügen, dürfen keine Freunde mit nach Hause nehmen und werden oft als komisch wahrgenommen.»

Sucht als Familiengeheimnis

Kinder mit süchtigen Eltern entwickeln rasch ein Sensorium und merken sofort, wenn die Stimmung kippt. «Oft glauben sie, dass sie Schuld an der Situation sind, darum möchten sie besonders brav sein», so Ehrenzweig. Die Kinder denken, dass das normal sei, was sie erlebten. Die Sucht wird zu einem Familiengeheimnis und die Isolation gehört zum Alltag.

Deshalb sei es wichtig, dass das Umfeld nicht einfach wegschaue, so Ehrenzweig. Freunde, Nachbarn oder Lehrer sollten hellhöriger und empathischer werden und genauer hinschauen, wenn etwas «komisch» sei, wenn ein Kind etwa erzähle, dass die Eltern die ganze Nacht weg waren.

Wenn ein Kind wegen der Sucht der Eltern vernachlässigt wird, ist eine Gefährdungsmeldung bei der Kesb angebracht. «Das bedeutet noch lange nicht, dass das Kind den Eltern weggenommen wird», sagt Stephan Germundson vom Verein für Suchttherapie «Die Alternative». Die Kesb leitet es dann zum Beispiel an die Jugend- und Familienberatungsstelle weiter.

Zudem gibt es verschiedene Suchtberatungsstellen, welche zum Teil auch Angebote für Kinder und Jugendliche haben. Auch der Schulpsychologische Dienst und diverse Familienberatungsstellen könnten helfen, so Germundson. «Wichtig ist es, mit den Eltern ins Gespräch zu kommen, häufig braucht es familienergänzende Massnahmen, welche für die Kinder eine Entlastung von ihrer Situation bedeuten.»

 

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