Fall am Bezirksgericht Willisau

Sexueller Missbrauch: Trägt die Mutter eine Mitschuld?

2015 kam der Verdacht auf, dass sich ein Luzerner an seiner Stieftochter vergeht – die Familie hüllte darüber den Mantel des Schweigens. (Bild: Adobe Stock)

Eine Luzernerin erfährt, dass ihr Ehemann ihre Tochter sexuell missbraucht haben könnte. Sie geht dem Verdacht nach, unternimmt aber nichts, um das Kind zu schützen. Jetzt steht sie wegen Verletzung der Fürsorgepflicht vor dem Bezirksgericht.

Es war ein Anruf ihrer langjährigen Freundin, der das Leben der Luzernerin für immer veränderte. «Dein Mann hat eine Affäre», sagte sie ihr am Telefon. «Mit meiner minderjährigen Tochter.» Und auch mit seiner Stieftochter, ihrem Kind, soll was gewesen sein.

Das war 2015. Für die heute 47-Jährige muss sich das angefühlt haben wie ein Alptraum. Schlimme Erinnerungen kamen wieder hoch. An den eigenen Missbrauch, den sie erlebte. Hatte sie nicht immer versucht, ihre Töchter genau davor zu schützen?

Erst der Rauswurf, dann die Verdrängung

Das traumatische Erlebnis der Frau zu kennen, ist wichtig, um zu verstehen, was danach geschah. Der Anruf war der Beginn intensiver «Ermittlungen» durch die Mutter. Konnte es wahr sein? War es möglich, dass sie jahrelang das Bett mit einem Mann geteilt hatte, der sich an Minderjährigen vergeht?

Sie wollte nicht glauben, was geschehen war. Konnte es nicht. Die Frau «verhörte» ihre Tochter. Sie war mit dem betroffenen Mädchen eng befreundet. Die Mutter wollte von ihr wissen, ob sie etwas von der angeblichen Affäre zwischen ihrer besten Freundin und ihrem Stiefvater wisse. Und: Hat er etwas mit ihr gemacht? Sie rief auch das 13-jährige Mädchen selbst an. Sie konfrontierte ihren Mann.

Da ist nichts, sagten sie alle. Eine Lüge, wie wir heute wissen. Doch wie gern glaubte die Frau daran?

Fadenscheinige Ausflüchte

Die Frau setzte ihren Mann zunächst vor die Tür. Wäre sie bei dieser Haltung geblieben, stünde sie an diesem Dienstagnachmittag nicht vor dem Bezirksgericht Willisau.

Doch der Familienvater ist ein Meister der Manipulation. Er lullte seine Gattin ein. Machte ihr weis, das junge Ding habe für ihn geschwärmt. Sie habe gedroht zu behaupten, er habe sie angefasst, wenn er ihr keine romantischen Nachrichten schicke. Da sei er zum Schein darauf eingegangen. Deshalb wirke es nun so, als habe er eine Affäre mit ihr.

«Ich habe von überall gehört, da sei nichts. Und da habe ich gedacht: Da ist nichts gewesen.»

Mutter des Opfers

So fadenscheinig diese Ausflüchte heute wirken: Die Frau schenkte ihnen Glauben und liess den Vater wieder ins Haus. Das wirft ihr die Staatsanwaltschaft nun vor. Sie habe von den pädophilen Neigungen ihres Mannes gewusst – und nichts unternommen, um ihre eigene Tochter davor zu schützen.

Ein Whatsapp-Chat bringt die Wahrheit ans Licht

Die Frau sagt vor Gericht: «Ich habe alles in meiner Macht stehende getan, um alles aufzudecken und herauszufinden, was die Wahrheit ist und was nicht.» Das ist schwer zu glauben, wenn man die Whatsapp-Chats ihres Mannes liest, die ihr gemäss Staatsanwaltschaft zu dem Zeitpunkt bereits vorlagen.

Die Nachrichten, die zwischen ihm und dem jungen Mädchen hin und her geschrieben wurden, lassen keinen Raum für Zweifel. Er nennt das Mädchen «meine Maus». Sie unterhalten sich über Sex und wie das erste Mal mit ihm war. Sie schickt Nacktbilder. Sie will wissen, ob er die Bilder seiner Tochter gelöscht habe, weil er jetzt nur noch sie liebe. Nur noch von ihr habe er Fotos, schreibt er. Sie glaubt ihm, lässt sich weiter auf ihn ein. Er nutzt die kindlich-naive Liebe aus.

Trägt die Mutter eine indirekte Mitschuld am sexuellen Missbrauch?

Die Gerichte haben im Gegensatz zur Ehefrau keine Zweifel: Der Lastwagenfahrer hat seine Stieftochter und deren beste Freundin mehrfach vergewaltigt. Erstere über Jahre hinweg, seit sie etwa zwölf Jahre alt war (zentralplus berichtete). Das Kantonsgericht hat ihn weiter wegen sexueller Nötigung, sexuellen Handlungen mit Kindern, verbotener Pornografie und einfacher Körperverletzung verurteilt. Letzteres, weil er seine Tochter mit einer Geschlechtskrankheit ansteckte.

Eine Gutachterin diagnostiziert bei ihm Hebephilie, eine sexuelle Vorliebe für pubertierende Mädchen. Sechs Jahre Freiheitsstrafe, lautet das Verdikt (zentralplus berichtete). Es ist rechtskräftig.

2017 versuchte die Freundin, die Stieftochter da rauszuholen

«2015 habe ich nicht das ganze Ausmass gewusst, das muss ich ehrlich sagen», sagt seine Ex-Frau nun vor dem Bezirksgericht Willisau. Sie hat sich inzwischen scheiden lassen – über die Gründe schweigt sie sich aus. «Ich habe das erst mitgekriegt, als er verhaftet wurde», behauptet sie.

«Wir haben sehr guten Kontakt, sie kommt mit allen Fragen und Anliegen zu mir.»

Mutter des Opfers

Das war 2017. Da schlug die beste Freundin Alarm, nachdem sie aufgrund einer Instagram-Nachricht von der Tochter erfuhr, dass der Stiefvater sich noch immer an ihr vergeht. Sie schaltete die Behörden ein. Zwei Jahre lang hatte die Familie nach dem eingangs erwähnten Telefonanruf einfach so getan, als wäre nichts passiert. «Ich habe von überall gehört, da sei nichts. Und da habe ich gedacht: Da ist nichts gewesen», sagt die Mutter heute dazu.

Vor Kriminalgericht machte die ganze Familie Druck

Noch vor dem Kriminalgericht wollte die Frau nichts von den Vorwürfen gegen ihren Mann wissen. Alle hatte sie mobilisiert: Die Schwester, mehrere Söhne aus früheren Beziehungen und auch den Stiefsohn. Die ganze Familie stärkte dem Lastwagenfahrer den Rücken, weil die Frau von seiner Unschuld überzeugt war (zentralplus berichtete).

Mittendrin: die Stieftochter. Sie sollte an jenem Tag gegen ihren Papa aussagen. Unter was für einem Druck muss sie gestanden haben? Sie hielt ihm nicht stand. Zog völlig überraschend die Vorwürfe gegen ihren Stiefvater zurück. Behauptete, er habe sie nie angefasst. Die Freundin lüge. Er sei der Vater, den sie sich immer gewünscht habe. Ein bedrückender Moment.

Ein enges Verhältnis – bis heute

Die Staatsanwaltschaft wirft der Mutter vor, auf ihre Tochter eingewirkt zu haben. Weiter habe sie Therapieversuche torpediert, um das Familiengeheimnis zu schützen und den Ernährer nicht zu verlieren. Auch diese Vorwürfe weist die Frau von sich. Das Gegenteil sei der Fall. Vor dem Bezirksgericht beteuert die Mutter, alles dafür getan zu haben, dass ihre Tochter psychologische Unterstützung bekomme. «Ich habe mit Engelszungen auf sie eingeredet, aber sie wollte nicht.»

«Sie sagt bis heute: ‹Mama, da war nichts.› Ich frage sie immer wieder.»

Mutter des Opfers

Das Verhältnis der beiden ist heute noch auffällig eng. Gemäss der Mutter sehen sie sich mehrmals im Monat. «Wir haben sehr guten Kontakt, sie kommt mit allen Fragen und Anliegen zu mir», erzählt die Mutter. Die inzwischen 20-Jährige hat keine Freundinnen. Die Mutter übernimmt diese Rolle.

«Manchmal fragt sie mich intime Sachen, wir reden über ihren Freund und ihre Beziehung. Was das betrifft, braucht sie viel Unterstützung», meint die Mutter. Dass das für eine junge Frau in dem Alter eher ungewöhnlich ist, scheint ihr nicht bewusst zu sein.

Noch immer: Da war nichts

Ihrem Stiefvater schreibt die Tochter Briefe ins Gefängnis. Sie würde ihn gern besuchen, aber das sei schwierig, meint die Mutter. Die Familie hält trotz rechtskräftiger Verurteilung  an der fixen Idee fest, dass nicht war, was nicht gewesen sein darf. «Sie sagt bis heute: ‹Mama, da war nichts.› Ich frage sie immer wieder», meint die Mutter.

Die Staatsanwaltschaft fordert, dass die Frau wegen Verletzung der Fürsorgepflicht zu einer Geldstrafe sowie einer Busse verurteilt wird. Die Verteidigung fordert einen Freispruch. Das Urteil steht noch aus.  

Verwendete Quellen
  • Verhandlung vor Bezirksgericht Willisau vom 15. März 2022
  • Strafbefehl SA4 17 502 43 vom 28. September 2021
  • Urteil 4M 20 27 vom Kantonsgericht vom 8. April 2021
  • Verhandlung vor Kriminalgericht am 29. Oktober 2019
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