FCL- gegen FCB-Fans – so urteilt das Gericht

Luzerner Fussballprozesse: Ein Richter im Clinch

Die FCL-Fankurve am Heimspiel vom 2. April gegen den FC Sion. (Bild: Freshfocus/Martin Meienberger)

Vor dem Bezirksgericht Luzern bestreiten vier Männer, sich mit anderen Fussballfans geprügelt zu haben. Die Öffentlichkeit schreit nach Strafe, die Beschuldigten nach dem Rechtsstaat, was überwiegt? Diese Frage hat das Gericht jetzt beantwortet.

Leichter Regen fällt aus schweren Wolken über Luzern. Vier Männer steigen 20 Treppenstufen empor; Sekunden später schwingt die Tür zum Patrizierhaus an der Grabenstrasse 2 auf, hinter dessen blassrosa Mauern Recht gesprochen wird.

Und zwar von Männern wie Roland Huber: Richter am Bezirksgericht Luzern, schlaksig, schwarzhaarig – und an diesem 11. April mit einer Aufgabe konfrontiert, wie er sie im Frühling 2023 mehrmals lösen muss.

17 Verfahren eröffnet, 13 eingestellt

Binnen drei Wochen verhandelt das Luzerner Bezirksgericht vier Fälle von Landfriedensbruch. Schon Ende März standen ein 22- und ein 28-jähriger Schweizer zusammen vor Richter Huber, um sich gegen einen Strafbefehl der Luzerner Staatsanwaltschaft zu wehren (zentralplus berichtete). Diese war zur Überzeugung gelangt, dass die Luzerner am 28. November 2021 an einer Massenschlägerei teilgenommen haben sollen: Vor der Partie des FC Luzern und des FC Basels gingen laut Angaben der Strafverfolger «ca. 15 Fans des FC Luzern» und «ca. 15 Fans des FC Basel» aufeinander los. Rund 45 Sekunden wüteten die Vandalen vor den Augen der Öffentlichkeit auf dem Luzerner Rathausquai (zentralplus berichtete).

Nach dem Aufeinandertreffen eröffnete die Luzerner Staatsanwaltschaft 17 Strafverfahren. 13 hat sie eingestellt, weil sie den Beschuldigten die Teilnahme an der Schlägerei nicht beweisen konnte. Und die 22- und 28-jährigen Luzerner sprach das Gericht frei: «Den Beschuldigten kann nicht in rechtsgenüglicher Weise nachgewiesen werden, an der Schlägerei (…) teilgenommen zu haben», hielt Huber in seiner Kurzbegründung zum schriftlichen Urteilsdispositiv fest (zentralplus berichtete).

Vom Entscheid weiss der 26-jährige, schmale und schnauzbärtige Mann aus Basel nichts, der an diesem Aprildienstag mit Anwalt und zwei Kollegen das Gerichtsgebäude betritt. So beginnt für Roland Huber die zweite von drei Verhandlungen, die sich wie ein und dieselbe anfühlen muss: Jede ist nach höchstens einer Stunde vorbei, weil die Beschuldigten die Aussagen verweigern. An jeder bleibt ein Platz vor dem Richter leer, weil die Staatsanwaltschaft auf eine Teilnahme verzichtet. Und jedes Mal lautet ein Hauptargument der Verteidigung: Dem Staat fehlen die Beweise für eine Verurteilung.

Zahnschutz, Winterkappe, Coronamaske, Sturmhaube

Die Staatsanwaltschaft stützte ihre Strafbefehle auf Gegenstände, die nach der Schlägerei sichergestellt und den Beschuldigten zugeordnet wurden: eine Winterkappe, eine Coronamaske, einen Zahnschutz und eine Sturmhaube. Dem entgegnen die Verteidiger, die vermeintlichen Beweisstücke belegten einzig, dass sie sich an diesem Sonntag in Luzern befunden haben. Doch sie bewiesen nicht, dass ihre Mandanten an der Schlägerei teilgenommen und einen Landfriedensbruch begangen hätten.

Mal ums Mal hört der Richter die gleichen Argumente, Mal ums Mal die Forderung nach einem Freispruch. Und Huber, seit 2016 am Bezirksgericht und Mitglied der SVP, weiss: Er muss eine Entscheidung in einem Gebiet treffen, das kaum stärker im öffentlichen Fokus stehen kann.

Kantonsrat fordert härteren Umgang mit Fussballchaoten

Immer wieder kommt es in Luzern zu Schlägereien und Ausschreitungen nach Heimspielen des FCL, zuletzt am 15. April. Damals demolierten FCZ-Anhänger Autos an der Voltastrasse und bewarfen die Polizei mit Flaschen (zentralplus berichtete).

Regelmässig sind die Krawalle Politikum. Erst im November behandelte der Luzerner Kantonsrat einen Vorstoss aus dem Mitte-Lager, der die Regierung auffordern wollte, personalisierte Tickets und Rayonverbote für Gästefans zu prüfen (zentralplus berichtete).

Dem Ruf nach Härte entgegen steht das Recht. Dieses schreibt dem Staat vor: Er darf nur jemanden bestrafen, wenn er ihm oder ihr eine Tat beweisen kann. Bis das den Behörden gelingt, sind Beschuldigte unschuldig. Das gilt vor und während eines Strafverfahrens. Und erst recht gilt es nach einem Freispruch, wie er für den 22- und den 28-jährigen Luzerner ergangen ist.

Chaoten rennen schnell und sprechen selten

Öffentlicher Druck versus Rechtsstaat – Richter wie Roland Huber stünden regelmässig in diesem Spannungsfeld, sagt Benjamin Meier, Experte für Fangewalt, seit er 2017 an der Universität Zürich zum Thema promoviert hat.

Für die Strafverfolgungsbehörden sei es immer eine Herausforderung, ein konkretes Delikt zu beweisen, sagt Meier: «Bei Delikten im Rahmen von Fan-Auseinandersetzungen ist die Ausgangslage nochmals anspruchsvoller. Meist sind gewaltbereite Fans in grösseren Gruppen unterwegs, tragen ähnliche Kleider, sind vermummt und zerstreuen sich sehr schnell, sobald die Polizei anrückt.» Zudem könnten sich Gerichte selten auf verwertbare Aussagen stützen, da sich die Beschuldigten auf ihr Recht beriefen, die Aussage zu verweigern.

Benjamin Meier, Experte für den Umgang mit Fangewalt.

Ist der Staat also machtlos, wenn sich Fussballchaoten vermummen und nicht mit ihm sprechen? Meier: «Wenn jemand eine Straftat begangen hat, man sie ihm aber nicht beweisen kann, ist das ärgerlich. Aber die Alternative wäre ein System, in dem Beschuldigte ihre Unschuld beweisen müssten. Davon sind wir glücklicherweise weit entfernt.»

Die Staatsanwaltschaften stellten rund einen Drittel aller Fälle ein, das müsse ein Rechtsstaat aushalten können: «Anders als etwa Wirtschaftsdelikte ist Fangewalt sehr sichtbar. Stellen die Behörden in solchen Fällen Verfahren ein oder kommt es zu Freisprüchen mangels Beweisen, passiert das viel stärker im Licht der Öffentlichkeit.» Mitunter deshalb komme aus der Politik die Forderung nach härteren Massnahmen.

Kantonsrat fordert 72 Stunden Polizeihaft

Wie von Daniel Rüttimann, Hochdorfer Mitte-Kantonsrat und Verfechter einer härteren Gangart bei Ausschreitungen: «Fakt ist, dass bei den meisten Fan-Krawallen praktisch keine Anzeigen erstattet werden. Somit haben diese Personen für ihr Fehlverhalten keine Konsequenzen zu befürchten.»

«Die absolute Sicherheit, bei der jede Straftat ausgeschlossen werden kann, wird es niemals geben. Nicht im Fussball und nicht in der Gesellschaft.»

Benjamin Meier, Experte für Prävention und Repression im Umgang mit Fangewalt

Es brauche ein «klares und gleichzeitig faires Konstrukt», um Randale und Sachbeschädigungen zu verhindern, sagt Rüttimann: «Auf Bundesebene müsste die Strafprozessordnung so angepasst werden, dass es in Zukunft möglich ist, eine Person auf Antrag eines Staatsanwalts oder Richters bis zu 72 Stunden in Polizeigewahrsam zu nehmen.»

Diese Forderung komme immer wieder auf, sei aber mit der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht vereinbar, entgegnet Experte Benjamin Meier. Für einen Freiheitsentzug von 72 Stunden müssten Haftvoraussetzungen erfüllt sein, die nach Fankrawallen oft nicht gegeben seien.

In Meiers Augen hat der Staat genügend Mittel. Noch grössere Polizeiaufgebote oder weiterreichende Kompetenzen würden das Problem nicht lösen: «Gewaltbereite sind ein Bruchteil aller Fussballfans, genauso wie Kriminelle ein Bruchteil der Gesellschaft sind. Die absolute Sicherheit, bei der jede Straftat ausgeschlossen werden kann, wird es niemals geben. Nicht im Fussball und nicht in der Gesellschaft.»

Experte empfiehlt, positive Grundstimmung zu schaffen

In und um die Stadien müsse es darum gehen, Massengewalt zu verhindern. Diese entstehe aus einer Dynamik. Und Dynamiken hätten Auslöser: «Ein Beispiel: Werden moderate Fussballfans bei Eingangskontrollen restriktiv angegangen, kann das dazu führen, dass die gewaltbereiten die anderen Fans verteidigen, sie in Schutz nehmen wollen. Dass sie sich dadurch also legitimiert fühlen, etwas gegen eine vermeintliche Ungerechtigkeit zu unternehmen.»

Solche Situationen gelte es zu vermeiden, sagt Meier und spricht vom «Dynamiken brechen» und «Good Hosting» – also dem Versuch der Fussballvereine, eine willkommende Atmosphäre zu schaffen und gar nicht erst Raum für Aggressionen zu bieten. Der FCL gab bekannt, er registriere keine Zunahme von Pyros, seit er dieses Good-Hosting-Konzept eingeführt hat (zentralplus berichtete).

Doch Meier sagt auch, dass damit alleine das Problem nicht aus der Welt geschafft werden kann: «Es gibt kein Patentrezept. Gäbe es eines, würden es die Behörden wohl längst anwenden.»

«Wie auch immer das hier ausgeht, ich wünsche Ihnen für Ihre Zukunft alles Gute.»

Roland Huber am Ende der jeweiligen Verhandlungen am Bezirksgericht Luzern

Freisprüche für die zwei weiteren Beschuldigten

«Good Hosting» kann für Roland Huber am Bezirksgericht Luzern die gleiche untergeordnete Rolle spielen wie die Forderung nach längerer Polizeihaft. Er muss mit dem Gesetz arbeiten, das ihm jetzt zur Verfügung steht.

Das hat er getan, vor wenigen Tagen wurden die zwei ausstehenden Urteile in den Luzerner Fussballprozessen veröffentlicht. Auch diese lauten auf Freispruch. Laut dem Gericht hat die Staatsanwaltschaft ihre Beweise rechtswidrig erlangt, weshalb es diese nicht gelten lassen könne. Zwar hatte sich die DNA des 26-jährigen Baslers und eines 28-jährigen Luzerners, der als letzter vor Richter Huber stand, an einer Coronamaske und einer Wollmütze befunden.

Da die Polizei die Beweisstücke aber ohne Beschlagnahmebefehl sichergestellt habe, seien sie nicht verwertbar, sagt das Gericht. «Aufgrund der Unverwertbarkeit der oben genannten Beweise», heisst es in den Urteilen, «liegen keinerlei Beweise oder Indizien für die Teilnahme des Beschuldigten an der genannten Schlägerei vor. Mit diesem Beweisergebnis hat das Gericht den Beschuldigten in Anwendung der Beweiswürdigungsregel in dubio pro reo (...) freizusprechen.»

Während die Urteile gegen die 22- und 28-jährigen Luzerner rechtskräftig sind, können die beiden unlängst veröffentlichten Entscheide ans Luzerner Kantonsgericht weitergezogen werden. Egal, ob sie angefochten werden oder nicht, für Richter Huber sind schwierige, vielleicht auch eintönige Wochen vorbei. Denn so ähnlich die Verhandlungen abgelaufen sind, so ähnlich gingen sie zu Ende. Ob Basler oder Luzerner, jedem der Beschuldigten gab der Richter dieselben Wünsche mit auf den Weg: «Wie auch immer das hier ausgeht, ich wünsche Ihnen für die Zukunft alles Gute.»  

Verwendete Quellen
  • Strafbefehle SA3 22 2088 32, SA3 22 2095 32, SA3 22 2097 32 und SA3 22 2102 32 der Staatsanwaltschaft Sursee
  • Besuch der Hauptverhandlungen am Bezirksgericht Luzern vom 29. März, 11. und 13. April 2023
  • Urteile 2Q1 22 106 und 2Q1 23 1 vom 3. April 2023 sowie Urteile 2Q 1 22 113 und 2Q 1 22 108 vom 24. April 2023
  • Schriftliche Anfrage bei der Medienstelle der Luzerner Staatsanwaltschaft
  • Medienmitteilung der Luzerner Polizei
  • Postulat von Daniel Rüttimann und Mitunterzeichnern vom 21. März 2022
  • Protokoll der Kantonsratsdebatte vom 29. November 2022
  • Telefonischer Austausch mit Benjamin Meier
  • Telefonischer und schriftlicher Austausch mit Daniel Rüttimann
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3 Kommentare
  • Profilfoto von Manfred Heini
    Manfred Heini, 07.05.2023, 12:53 Uhr

    Zusammengefasst:
    Man hat null Sachschäden, keine Unbeteiligten, die mit hineingezogen wurden und somit einfach gleichgesinnte Spinner, die einigermassen unzivilisiert ein Kräftemessen durchführen.
    Wieso überhaupt die Justiz bemühen? Lasst die doch..
    Es gab keine Anzeigen von Unbeteiligten. Die Ressourcen kann man anderweitig besser nutzen.

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  • Profilfoto von Hegard
    Hegard, 07.05.2023, 09:11 Uhr

    So wie in Basel die Vermummten einkesseln und Identität prüfen ,Platzverbot oder Stadtverbot
    aussprechen!
    Zudem ,für was haben wir für das Vermmungsverbot abgestimmt

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  • Profilfoto von Remo
    Remo, 07.05.2023, 06:11 Uhr

    Entweder eingreifen und die täter an ort und stelle packen (erwischten beim randalieren) oder einfach lassen und die polizei kosten einsparen.
    Was momentan läuft kostet nur und bringt nix.

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