Welches Schicksal drohte der 13-Jährigen?

Kesb schützt junge Luzernerin vor einer Zwangsheirat

Die Kesb hat ein Mädchen fremdplatziert – es besteht der Verdacht, dass ihre Eltern sie zwangsverheiraten wollten. (Bild: Adobe Stock)

Zwangsheirat – das gibt es bei uns nicht. Wer so denkt, irrt sich. Im Kanton Luzern sind Dutzende junger Menschen betroffen. Ein Urteil des Kantonsgerichts gibt Einblick, wie die Behörden im Verdachtsfall reagieren.

Die Sommerferien rücken näher. Ein Grund zur Freude für Tausende von jungen Luzernerinnen. Für manche von ihnen aber ganz und gar nicht. Weil für sie nicht der Übertritt von der Schule ins Berufsleben ansteht, sondern eine Hochzeit wider Willen (zentralplus berichtete).

Gemäss der Luzerner Fachstelle Koordination Gewaltprävention werden Jahr für Jahr junge Frauen – und teils auch Männer – gegen ihren Willen verheiratet. Was machen Behörden, wenn sie von so einem Fall Wind bekommen? Einen seltenen Einblick bietet ein Urteil, welches das Kantonsgericht Luzern kürzlich gefällt hat.

Die Schule schaltet sich ein – und das Mädchen taucht unter

Der Fall nimmt seinen Anfang in einem anonymen Anruf, der bei der Schulsozialarbeiterin eingeht. Eine der Schülerinnen soll morgen zwangsverheiratet werden, sagt die Frau am Telefon. Und hängt wieder auf.

Die Fachfrau reagiert sofort. Sie holt das Mädchen aus der Klasse und redet mit ihr. Die 13-Jährige bestätigt den schlimmen Verdacht. Ihre Eltern hätten vor, sie mit einem 17-Jährigen zu verheiraten. Dies, weil ihr Vater mit ihrem Exfreund nicht einverstanden gewesen sei. Er wolle selber den Mann für seine Tochter auswählen.

Der Schulleiter schaltet die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) ein. Nach der Gefährdungsmeldung wegen der Zwangsheirat ergreift das Mädchen die Flucht. Es taucht unter, wird von der Luzerner Polizei aber kurze Zeit später aufgegriffen. Als sie zu ihren Eltern ins Auto steigen soll, weigert sie sich. Die Polizistinnen bringen sie daraufhin – im Einvernehmen mit den Eltern – in die Notaufnahme eines Kinderheims.

Hat das Mädchen die Zwangsheirat erfunden?

Die Luzerner Kesb muss nun rasch handeln und geht der Sache auf den Grund. Aber es ist schwierig. Im Erstgespräch sagt das Mädchen, sie habe die Sache mit der Zwangsheirat frei erfunden, weil sie Streit mit den Eltern gehabt habe.

Ein paar Wochen später – das Mädchen ist weiterhin im Kinderheim – sagt die 13-Jährige, es stimme doch. Ihr Vater habe ihr befohlen, die Vorwürfe zurückzunehmen. Es sei tatsächlich eine Hochzeit geplant. Der Mann, den sie heiraten solle, habe schon in ihrem Kinderzimmer übernachtet. Und dort Dinge mit ihr gemacht, die sie nicht wollte.

Ihrer Mutter habe sie vom Missbrauch erzählt. Doch diese habe gar nicht reagiert. Das Gleiche erzählte das Mädchen einer Mitarbeiterin der Fachstelle Zwangsheirat. Gemäss dieser kommt es häufig zu Vergewaltigungen, wenn ein Mädchen zwangsverheiratet werden soll. Die Eltern seien darüber in der Regel im Bild und unterstützten dies oft.

Sexueller Missbrauch im Kinderzimmer

Hat das Mädchen diesen Alptraum erleben müssen? Die Aussagen ergeben kein klares Bild. Denn einige Wochen nach dem Gespräch mit der Fachfrau sagt das Mädchen der Heimleitung mehrfach, dass sie wieder zu ihren Eltern zurückwolle. Sie bleibt – im Einverständnis mit den Eltern, die der Unterbringung freiwillig zugestimmt haben.

Die Ambivalenz, die unterschiedlichen Wünsche und Aussagen des Mädchens, lassen sich psychologisch erklären. Es scheint hin- und hergerissen zu sein zwischen dem Wunsch, nach Hause gehen zu können – und der Angst davor.

Die Situation eskaliert ein paar Wochen später. Denn plötzlich ist das Mädchen verschwunden. Haben die Eltern sie ins Ausland gebracht? Wurde sie verheiratet? Ist sie «nur» auf Achse? Vielleicht bei ihrem Exfreund?

Kesb greift zur Ultima Ratio

Um Schlimmeres zu verhindern, entzieht die Kesb den Eltern das Aufenthaltsbestimmungsrecht. Das ist die Ultima Ratio, die einschneidendste Massnahme, um die Gefährdung des Kindswohls abzuwenden. Den Eltern wird das Kind weggenommen.

Das Mädchen taucht glücklicherweise wieder auf. Es kehrt freiwillig ins Kinderheim zurück, fortan aber nicht mehr mit dem Einverständnis der Eltern. Die Eltern, die zuvor dem Aufenthalt zugestimmt haben, können nun nicht mehr darüber bestimmen. Und wehren sich deswegen vor dem Kantonsgericht.

Kantonsgericht Luzern will weitere Abklärungen zur Zwangsheirat

Gemäss den Ausführungen vor Gericht, sind sie zwar nach wie vor für die Fremdplatzierung und stehen dahinter. Zum Schutz ihrer Tochter, der aus ihrer Sicht eher eine Gefährdung vonseiten des Ex-Freundes droht. Aber: Der massive Eingriff in die Elternrechte ist aus ihrer Sicht unverhältnismässig.

Was also tun? Die Abklärungen der Kesb haben kein klares Bild ergeben. Hat das Mädchen den Behörden eine falsche Geschichte aufgetischt, wie die Eltern das behaupten? Oder ist das Mädchen Opfer eines Missbrauchs und lassen sich die widersprüchlichen Aussagen so erklären?

Das Kantonsgericht Luzern entscheidet, die Beschwerde der Eltern abzuweisen. Die Kesb soll den Fall weiter abklären und danach entscheiden, wo das Mädchen am sichersten aufwachsen kann. Bis dahin bleibt das Kind im Heim. Die Beiständin soll den Eltern parallel dabei helfen, die Probleme in der Familie zu lösen und sie mit «Rat und Tat» unterstützen.

Wie ist dieser Artikel entstanden?

In der Schweiz gilt die Justizöffentlichkeit. Das heisst: Urteile sind grundsätzlich öffentlich und können von interessierten Personen und Journalistinnen eingesehen werden.

zentralplus sieht regelmässig Urteile des Luzerner Kantonsgerichts ein, um über dessen Arbeit zu berichten und so Transparenz zu schaffen, wie die Justiz funktioniert. Als Medium sind wir dabei verpflichtet, die Personen so weit zu anonymisieren, dass die breite Öffentlichkeit keine Rückschlüsse ziehen kann, um wen es sich handelt.

Verwendete Quellen
  • Urteil 3H 21 79 / 3U 21 84
  • Flyer Zwangsheirat des Kantons Luzern
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12 Kommentare
  • Profilfoto von Hans Hafen
    Hans Hafen, 31.05.2022, 09:17 Uhr

    Nicht nur wünschenswert sondern kausal absolut notwendig, wäre die Nennung der Nationalität der Involvierten! Wer diese aus ideologischen Gründen verschweigt, macht sich gehörig mitschuldig an dieser Entwicklung.

    Zudem: Die horrenden Kosten für die Allgemeinheit, die so entstehen, sind ein Skandal für sich.
    Inwiefern beteiligen sich die verursachenden Eltern daran, die diesen Zustand wissentlich und willentlich und absichtlich herbeigeführt haben?

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    • Profilfoto von Lena Berger
      Lena Berger, 31.05.2022, 11:27 Uhr

      Eine Nationalität ist nicht die Ursache für ein Verbrechen (und genau das bedeutet das Wort «kausal«). Der Vorwurf, wir hätten diese aus «ideologischen Gründen» verschwiegen, ist genauso Quatsch. zentralplus nennt bei Strafrechtsfällen die Nationalität der Beschuldigten. Hier handelt es sich aber nicht um ein strafrechtliches Urteil, sondern um einen Entscheid über Kinderschutzmassnahmen. Und selbst wenn wir wollten: Die Nationalität der Familie wird im Urteil gar nicht erwähnt. Das Gericht hielt sie wohl nicht für relevant.

      Was die angeblich «horrenden Kosten» angeht: Diese betragen 1500 Franken – und müssen grundsätzlich von der unterliegenden Partei getragen werden – in diesem Fall die Eltern.

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      • Profilfoto von Peter Bitterli
        Peter Bitterli, 31.05.2022, 12:13 Uhr

        Sie merken nicht einmal, wovon Hafen redet. Gerichtskosten? A bas! Unterbringung, Heim, Kesb… dutzendfach.

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  • Profilfoto von Peter Bitterli
    Peter Bitterli, 31.05.2022, 08:43 Uhr

    Wieso wird die Religionszugehörigkeit dieser „Familie“ und der Dutzenden anderer nicht genannt? Sie ist ja wohl die zentrale Ursache für deren Verhalten. In Konsequenz müssten dann im Sinne eines gezielten Profiling die Anhänger genau dieser Religionsgemeinschaft im Sinne des Kinderschutzes scharf und eng überwacht werden.

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    • Profilfoto von Lena Berger
      Lena Berger, 31.05.2022, 11:18 Uhr

      Sie mögen staunen, aber die Religionszugehörigkeit ist im Urteil kein Thema und wird mit keinem Wort erwähnt. Spielt aus Sicht des Gerichts wohl keine Rolle. Ihr Vorschlag, Menschen mit einer bestimmten Religionszugehörigkeit zu «eng zu überwachen», ist einfach nur gruselig.

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        Party Sahne, 31.05.2022, 11:28 Uhr

        Gruselig finde ich, dass das Gericht dem keinerlei Beachtung schenkt. Quasi sehenden Auges bewusst ausspart, ausklammert. Die PC lässt grüssen!
        Offensichtlich ist die politische Indoktrination – auf welchem Auge man unbedingt blind zu bleiben hat – bei der Judikate ebenfalls bereits weit fortgeschritten!
        Die laizistische Grundhaltung des Staates wird so ad absurdum geführt.

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          Lena Berger, 31.05.2022, 16:20 Uhr

          Ich bin sehr froh, dass an den Schweizer Gerichte kein Platz ist für Diskriminierung aufgrund der Religionszugehörigkeit. Steht ja immerhin in unserer Bundesverfassung, da sollten sich die Richter schon mehr oder weniger dran halten.

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      Pontifex, 31.05.2022, 15:26 Uhr

      Als Kirchengänger tut es mir weh sowas vorschlagen zu müssen: rein von den Zahlen her müsste die Überwachung bei den Christen anfangen.

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      • Profilfoto von Peter Bitterli
        Peter Bitterli, 31.05.2022, 18:45 Uhr

        Nein, die Überwachung muss nicht bei den Christen anfangen, denn die gehören ja hierher. Wer wollte denn auch die „Überwachung“ der Christen besorgen? Im Hinblick worauf? Halal/haram?

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    Dunning-Kruger, 31.05.2022, 07:40 Uhr

    Zustände wie sie hier schon Gang und Gäbe sind. Und viele weitere Verwerfungen werden folgen, resp. finden bereits Tag für Tag statt. Stichwort: Infibulation.

    Politisch ganz offensichtlich so gewollt. Multikulturalismus um jeden Preis. Cui bono?

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    • Profilfoto von Verdingt und misshandelt
      Verdingt und misshandelt, 31.05.2022, 09:10 Uhr

      Wir Schweizer sind da mit der Verdingkindergeschichte auf jeden Fall ein super Vorbild.

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      • Profilfoto von Talbot Freiherr von Lummerland
        Talbot Freiherr von Lummerland, 31.05.2022, 14:55 Uhr

        Immerhin hat die Schweiz dieses betrübliche Kapital Geschichte gründlich aufgearbeitet und mittlerweile als schändlich und falsch taxiert. Opfer wurden entschädigt. Man zeigt sich lernfähig, die richtigen Lehren daraus zu ziehen…

        Können die Involvierten in dieser Causa das ebenfalls behaupten?

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