Fall am Zuger Obergericht

IV-Gutachter pfuscht – Staatsanwaltschaft guckt weg

Das Obergericht Zug hat entschieden, dass die Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren gegen einen Psychiater fortsetzen muss. (Bild: Symbolbild Adobe Stock)

Ein Gutachten, auf das sich der IV-Rentenentscheid einer Zugerin stützen sollte, strotzte vor Fehlern. Trotzdem sah die Staatsanwaltschaft keinen Handlungsbedarf. Dafür gibt's jetzt einen Rüffel vom Obergericht.

Psychiater werden von Juristinnen hinter vorgehaltener Hand gern «Richter in Weiss» genannt. Denn die Gerichte sind weitgehend an ihre Empfehlungen gebunden – und können nur mit einer guten Begründung davon abweichen (zentralplus berichtete).

Das ist ein Problem, wie ein Fall zeigt, mit dem sich kürzlich das Zuger Obergericht beschäftigen musste. Geklagt hatte eine Zugerin, die im Auftrag der Invalidenversicherung (IV) von einem Psychiater begutachtet worden war. Als der Bericht vorlag, musste sie feststellen, dass Aussagen von ihr wiedergegeben wurden, die sie nie gemacht hatte.

Cannabistropfen? Hä?

So stand in dem Gutachten beispielsweise, dass sie Cannabistropfen konsumiere und ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern habe – was nachweislich nicht stimmt, wie Audioaufnahmen der Befragung belegen. Dies geht aus dem Gutachten des Obergerichts hervor. Dass die Frau hingegen Schlaftabletten nimmt, liess der Gutachter unter den Tisch fallen. Dabei hatte sie das klar so angegeben.

Hinzu kommt, dass im Gutachten die Ergebnisse von Testverfahren enthalten sind, die der Psychiater gar nicht durchgeführt hatte. Er füllte den Fragebogen nachträglich aus, sodass gar nicht nachvollzogen werden kann, ob die relevanten Informationen überhaupt abgefragt wurden.

Falsch verstanden oder falsch verstehen wollen?

Dass dies nicht den Standards entspricht, ist klar. Der Experte gab an, dass er die Patientin offenbar falsch verstanden habe. Die Zugerin glaubte ihm nicht. Sie hat den Psychiater deshalb wegen Urkundenfälschung angezeigt.

Die Staatsanwaltschaft jedoch sah keinen Grund, Anklage zu erheben. Sie argumentiert, dass es zwar Diskrepanzen zwischen den Aussagen der Frau und dem Gutachten gibt. Aber: Dem Beschuldigten könne nicht vorgeworfen werden, bewusst dass er Tatsachen bewusst falsch beurkundet habe. Anders gesagt: Vielleicht war das Ganze ein Versehen.

Gutachten entscheiden über den Rentenanspruch

Eines, das massive Auswirkungen auf das Leben der Zugerin haben könnte, wenn die IV aufgrund des Gutachtens zum Schluss kommt, dass sie keinen Rentenanspruch hat. Nicht umsonst kritisieren diverse Behindertenorganisationen die fehlende Sorgfalt, mit der die Expertisen teilweise erstellt werden.

So weit kam es allerdings nicht. Im Gegenteil. Vielmehr zeigten sich im sozialversicherungsrechtlichen Verfahren gemäss dem Obergericht noch mehr Anhaltspunkte, dass sich weitere Mitarbeitende der Firma strafbar gemacht haben könnten, bei der das polydisziplinäre Gutachten in Auftrag gegeben wurde. Grund: Die einzelnen Teilgutachten widersprachen sich, was die Arbeitsfähigkeit anging.

Rüffel für die Zuger Staatsanwaltschaft

Nachdem die Staatsanwaltschaft das Strafverfahren einstellte, wehrte sich die Frau dagegen vor dem Obergericht. Dieses gibt der Zugerin recht. Es unterstellt den Gutachtern zwar nicht, dass sie den Gesundheitszustand der Frau vorsätzlich falsch festgehalten hätten. Aber: Es gibt neben der klassischen Urkundenfälschung noch die Urkundenfälschung im Amt. Und eine solche wird auch bestraft, wenn sie fahrlässig begangen wurde.

Wer beim Schreiben eines Gutachtens nicht sorgfältig arbeitet, erstellt eine «echte, aber unwahre Urkunde», schreibt das Obergericht Zug in seinem Entscheid. Ob das hier der Fall ist, hat die Staatsanwaltschaft nicht geprüft. Sie muss deshalb über die Bücher, das Strafverfahren weiterführen und die Gutachter im Zweifelsfall anklagen.

Fragen zur Sexualität sind heikel

Für die psychisch belastete Zugerin – die sich ohne Anwältin zur Wehr setzen musste – dürfte der Entscheid eine Genugtuung sein. Sie hatte sich bereits im Gespräch mit dem Gutachter unwohl gefühlt – weil dieser Fragen zur Nationalität und ihrem Sexualleben stellte, die aus ihrer Sicht nichts mit der Sache zu tun hatten.

Tatsächlich sind solche Fragen nicht in den Vorgaben des Bundes, was der Fragenkatalog eines Gutachters umfassen soll (zentralplus berichtete). Auch diesem Vorwurf wird die Staatsanwaltschaft also nachgehen müssen.

Das sind deine Rechte

Wer Leistungen der IV beantragt, hat eine Mitwirkungspflicht. Das heisst: Die Personen müssen bei der Begutachtung mitmachen, sonst entscheidet die IV aufgrund der Akten. Allerdings: Nicht alle Fragen sind zulässig. Seit Anfang dieses Jahres müssen Gutachter zudem die Gespräche mit der Person auf einer Tonaufnahme festhalten, wenn sie diese zu ihrem Gesundheitszustand befragen. Dies soll die Nachvollziehbarkeit der Expertisen sicherstellen.

Der Dachverband der Behindertenorganisation «Inclusion Handicap» führt eine Meldestelle. Wer im Zuammenhang mit einer Begutachtung nicht anständig behandelt wird, kann ein entsprechendes Online-Formular ausfüllen. Wichtig zu wissen: Du hast ein Akteneinsichtsrecht. Das heisst: Du hast Anspruch darauf, die Gutachten zu lesen – so kannst du dich frühzeitig bei der IV-Stelle wehren, wenn darin etwas steht, was für dich nicht stimmt.

Verwendete Quellen
Deine Ideefür das Community-Voting

Die Redaktion sichtet die Ideen regelmässig und erstellt daraus monatliche Votings. Mehr zu unseren Regeln, wenn du dich an unseren Redaktionstisch setzt.

Deine Meinung ist gefragt
Deine E-Mailadresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert. Bitte beachte unsere Netiquette.
Zeichenanzahl: 0 / 1500.


5 Kommentare
  • Profilfoto von Mirjam
    Mirjam, 30.12.2022, 08:45 Uhr

    Liebes zentralplus, kennt ihr den Namen des Gutachters? Falls es sich um xy handelt… wäre dies einmal
    mehr verwerflich. Er ist bekannt für solche Fragen, was die Sexualität betrifft und wurde schon wegen einfacher Körperverletzung rechtskräftig verurteilt.

    👍0Gefällt mir👏0Applaus🤔0Nachdenklich👎0Daumen runter
    • Profilfoto von Lena Berger
      Lena Berger, 01.01.2023, 09:00 Uhr

      Vielen Dank für den Hinweis. Wir haben einen Antrag gestellt, das nicht anonymisierte Urteil einzusehen. Das Obergericht hat dies abgelehnt und so weitere Recherchen vorerst verhindert.

      👍0Gefällt mir👏0Applaus🤔0Nachdenklich👎0Daumen runter
      • Profilfoto von Mirjam
        Mirjam, 02.01.2023, 15:09 Uhr

        Danke Frau Berger, es kann jedoch nicht sein, dass dieser Gutachter ungeschoren davonkommt. Wenn er Fragebogen absichtlich falsch ausfüllt, handelt es sich letztlich um Urkundenfälschung und dies darf nicht als Bagatelle verbucht werden. Solche Mauscheleien müssen geahndet werden. Es kann und darf nicht sein, dass Betroffene hilflos diesem Vorgehen ausgeliefert sind.

        👍0Gefällt mir👏0Applaus🤔0Nachdenklich👎0Daumen runter
  • Profilfoto von Franz Fischer
    Franz Fischer, 29.12.2022, 14:28 Uhr

    Danke für diesen Bericht. Ich habe in meiner anwaltlichen Praxis gegen einige Falschgutachten von solch fürchterlichen psychiatrischen „Experten“ kämpfen müssen. Es wäre gut, wenn solch kriminelles Verhalten strafrechtlich sanktioniert würde.

    👍1Gefällt mir👏1Applaus🤔0Nachdenklich👎0Daumen runter
  • Profilfoto von Muriel Schnyder
    Muriel Schnyder, 28.12.2022, 21:48 Uhr

    Genau diese Erfahrung musste ich leider auch machen. Für mich hatte es grosse finanzielle Konsequenzen, da das Gutachten nicht auf Band aufgenommen wurde und Aussage gegen Aussage stand.

    👍2Gefällt mir👏0Applaus🤔0Nachdenklich👎0Daumen runter
Apple Store IconGoogle Play Store Icon