«Entweder ich bekomme die Spritze oder ich verrecke im Gefängnis»
Am Dienstag stand ein 74-Jähriger vor dem Luzerner Kriminalgericht, weil er sich über Jahre an minderjährigen Buben sexuell vergangen haben soll. Die Taten gab er teilweise zu. Unklar war, wie viel eine allfällige Therapie bringen würde.
Über einen Zeitraum von mindestens sechs Jahren soll ein heute 74-Jähriger minderjährige Buben zu sich nach Hause geholt und sexuell missbraucht haben. Gemäss der Luzerner Staatsanwaltschaft soll er jeweils vorher mit ihren Eltern oder Mittelsmännern ausgemacht haben, welcher Knabe wie lange zu ihm kommen soll. Dafür habe er der osteuropäischen Familie jeweils Geld bezahlt (zentralplus berichtete). Als während Corona die Grenzen geschlossen waren, soll er seine sexuellen Bedürfnisse per Videotelefonate ausgelebt haben. So soll er die Knaben angewiesen haben, sich zu entblössen und zu befriedigen.
So weit die Vorwürfe, weswegen der Rentner am Dienstagmorgen auf der Anklagebank vor dem Luzerner Kriminalgericht sass. Der Mann – blaue Jacke, schwarze Hose, schwarze Sneaker – war vor dem dreiköpfigen Richtergremium teilweise geständig. Die sexuellen Handlungen an den Kindern gab er zu: «Das sind keine Vorwürfe, das sind Tatsachen.» Allerdings bestritt er in der Befragung, die Kinder oder deren Eltern für die sexuellen Dienste bezahlt zu haben. Er habe ihnen zwar Geld gegeben – dies war jedoch zur Begleichung der Fahrtkosten und für die Verpflegung gedacht. Und die Überweisungen an die Mutter seien als Zustupf gedacht gewesen, damit sich die Familie Essen kaufen könne.
Von Zwang will er ebenso nichts gewusst haben. Die Buben hätten jederzeit gehen können, sagte er. Einer der Knaben, der bei den ersten Vorfällen elfjährig war und in den er sich auch verliebt habe, hätte ihn gar etliche Male angerufen und ihn gebeten, ihn zu sich zu holen. «Er wollte ja bei mir bleiben. Ich bin überzeugt, wir wären heute noch zusammen.»
Beschuldigter verweist auf unbekannte Dritte
Auch wehrte er sich gegen den Vorwurf des Menschenhandels. Er fand diesen «an den Haaren herbeigezogen». «Man kann nicht mit sich selbst handeln. Dann müsste ja noch jemand anderer auch auf der Anklagebank sitzen.» Zudem habe er die Buben nie bestellt und auch nie mit jemandem diesbezüglich Kontakt gehabt, beteuert der Beschuldigte. «Die sind gekommen und gegangen, wie sie wollten. Plötzlich sind sie jeweils vor meiner Wohnung gestanden.»
«Mir ist bewusst, dass bestellen und liefern in Zusammenhang mit Menschen grauenvoll klingt, in diesem Zusammenhang kann man das aber nicht beschönigen.»
Staatsanwalt
Wieso er diese dann in die Wohnung gelassen und mit ihnen Sex hatte, dafür hatte der Angeklagte keine Erklärung. Jedenfalls keine, die er den Richtern sagen wollte. «Ihr könnt euch nicht vorstellen, unter welchem Druck ich war. Ich wollte das gar nicht. Mein vorheriges Leben war für mich schöner.» Wer ihn dazu gebracht haben soll, könne er jedoch nicht verraten, um niemanden zu belasten. Jedoch habe er sich auch von der Familie unter Druck gesetzt gefühlt. «Indem sie immer geweint und ihren leeren Kühlschrank gezeigt haben», so der Angeklagte.
«Buben wurden wie Waren behandelt»
Dass der Luzerner der Familie aus reiner Gutmütigkeit Geld überwiesen habe, seien «reine Schutzbehauptungen», entgegnete der Staatsanwalt in seinem Plädoyer. «Der Beschuldigte ist weit entfernt vom weissen Ritter, wie er sich darzustellen versucht.» Ein Nachbar des Angeklagten habe wegen der dünnen Wände Gespräche gehört, in denen er die Buben anwies, sich nackt zu ihm zu legen, und habe Gespräche über eine Bezahlung mitgehört.
Zudem würden Audioaufnahmen bezeugen, dass er ihnen gegenüber Sex als Geschäft bezeichnete oder etwa sagte «wer zahlt, befiehlt». Auch deuteten die Aufnahmen gemäss dem Staatsanwalt darauf hin, dass der Beschuldigte vorgängig mit den Eltern der Buben in Kontakt war. Und Einträge in seiner Agenda hätten darauf hingewiesen, dass er vorgängig gewusst habe, wann die Opfer ungefähr zu ihm kommen würden. Der Vorwurf des Menschenhandels treffe also zu, so der Staatsanwalt. «Mir ist bewusst, dass bestellen und liefern in Zusammenhang mit Menschen grauenvoll klingt, in diesem Fall kann man das aber nicht beschönigen. Die Buben wurden wie Waren behandelt.»
Gutachter geht von hoher Rückfallgefahr aus
Nebst der Diskussion um Menschenhandel war vor Gericht vor allem die Wirksamkeit einer Therapie umstritten. Der Beschuldigte beantragte von sich aus eine sogenannte antiandrogene Therapie, eine chemische Kastration. Nach eigenen Angaben wolle er damit beweisen, dass er bereit sei, etwas zu tun, um nicht mehr rückfällig zu werden.
Wie aus der Behandlung hervorging, ist der Beschuldigte vorbestraft: Bereits Anfang der 2000er Jahre wurde er wegen sexuellen Übergriffen auf Kinder in Zürich verurteilt. Wie er betonte, wollte er die Therapie jedoch ambulant durchführen – sprich: nicht in einer geschlossenen psychiatrischen Institution. Denn nur auf freiem Fuss könne er beweisen, dass er auch wirklich nicht mehr rückfällig werde. Und: Er habe bereits negative Erfahrungen in St. Urban gemacht, da habe man ihn «mit Medikamenten vollgestopft». Für ihn hiess das: «Entweder ich bekomme die Spritze oder ich verrecke im Gefängnis.»
Allerdings ging ein psychiatrischer Gutachter, der in der Verhandlung auch befragt worden war, von einer hohen Rückfallgefahr aus, wäre der Beschuldigte wieder auf offener Strasse unterwegs. Eine antiandrogene Therapie mache zudem nur in Zusammenhang mit einer gleichzeitigen Psychotherapie Sinn. «Jemandem nur chemische Ketten anzulegen», reiche nicht. Allerdings sei fraglich, inwiefern eine Therapie beim Beschuldigten erfolgreich wäre. Zum einen, weil er vor den vorliegenden Delikten wegen seiner pädophilen Neigungen bereits zehn Jahre in Therapie war. Und weil er Symptome einer dissozialen und narzisstischen Persönlichkeitsstörung zeige. Diese senkten die Hemmungen – und erschwerten eine Therapie seines grundlegenden Problems, der pädophilen Neigung, so seine Einschätzung.
Beschuldigter sei kein «Gewalttäter»
Der Verteidiger betonte in seinem Plädoyer, der Beschuldigte sei «kein Monster, Massenmörder oder sonstiger Gewalttäter». Das Gutachten des Psychiaters, das wegen Verweigerung des Beschuldigten nur über Aktennotizen gemacht werden konnte, sei «mangelhaft». Insbesondere die hohe Rückfallgefahr erschliesse sich beim Angeklagten nicht.
Weiter betonte der Verteidiger, der Beschuldigte habe sich mit einem der Buben in einer Liebesbeziehung befunden. Und bei einigen der sexuellen Handlungen sei der Knabe auch nicht mehr im Schutzalter gewesen, was sich strafmildernd auswirken solle. Eine solch hohe Freiheitsstrafe, wie von der Staatsanwaltschaft gefordert, würde für den Beschuldigten «faktisch eine lebenslange Verwahrung ohne Perspektive, gar das Todesurteil» bedeuten.
Gefängnis oder Therapie?
Die Verteidigung forderte daher eine Freiheitsstrafe von viereinhalb Jahren unter Anrechnung der bereits abgesessenen Zeit der Sicherheits- und Untersuchungshaft. Deren Vollzug soll zugunsten einer ambulanten Psychotherapie mit gleichzeitiger antiandrogener Therapie verschoben werden.
Die Staatsanwaltschaft fordert für all die Vorwürfe hingegen eine unbedingte Freiheitsstrafe von zwölf Jahren. Hinzu kommt eine Geldstrafe von zwölf Tagessätzen à 30 Franken und eine Busse von 200 Franken wegen der Verstösse gegen das Waffengesetz. Sollten die Richter eine therapeutische Massnahme erwägen, soll der Beklagte diese stationär antreten.
Zusätzlich fordert eine Privatklägerin für die Opfer eine Genugtuung: Für den am meisten betroffenen Buben 20’000 Franken samt Zinsen, für zwei seiner Brüder je 20’000 Franken und für drei weitere Brüder je 7000 Franken.
Das Urteil wird den Parteien voraussichtlich am Mittwochabend mündlich verkündet. Es gilt die Unschuldsvermutung.
Update: Das Kriminalgericht sprach den Beschuldigten am Mittwoch schuldig. Die Tatbestände des Menschenhandels und der sexuellen Nötigung seien erfüllt. Der 74-Jährige wird zu acht Jahren und elf Monaten Haftstrafe verurteilt. Den Antrag auf eine antiandrogene Therapie lehnt das Gericht ab. Mehr dazu findest du hier.
- Teilnahme an der Verhandlung am Luzerner Kriminalgericht
- Anklageschrift
- Schweizer Strafgesetzbuch