Rechtlich wäre der Fall eigentlich klar: Der Konkurs des Erdgas-Unternehmens Nord Stream 2 AG wäre am 10. Januar besiegelt. Doch ein Zuger Einzelrichter setzt eine weitere «letzte Frist» – obwohl er zuvor betonte, dass dies nicht möglich sei.
Ein Zuger Einzelrichter setzt eine «Gnadenfrist» für die Nord Stream 2 AG. Das Déjà-vu-Gefühl, das zentralplus-Leser nun haben könnten, ist berechtigt. Denn eine solche Meldung über den russischen Energielieferanten mit Sitz in Steinhausen gab es bereits im vergangenen Sommer (zentralplus berichtete).
Das Erdgas-Unternehmen, das eine Pipeline zwischen Russland und Deutschland gebaut hat, kämpft seit über zweieinhalb Jahren gegen den Konkurs. Wegen der internationalen Sanktionen gegen Russland steckt das Unternehmen, das mehrheitlich dem russischen Energiegiganten Gazprom gehört, in einer finanziellen Bredouille. Das Nachlassverfahren, mit dem ein drohender Konkurs aufgeschoben werden kann, wurde bis zum letztmöglichen Tag – 10. Januar 2025 – ausgereizt.
Das Schweizer Recht schreibt unmissverständlich vor: «Auf Antrag des Sachwalters kann die Stundung auf zwölf, in besonders komplexen Fällen auf höchstens 24 Monate verlängert werden.» Diese 24 Monate laufen am heutigen Freitag aus. Und doch ist das Unternehmen nicht konkurs. Ein Zuger Einzelrichter verlängerte am Donnerstag die Nachlassstundung «ausnahmsweise» bis 9. Mai 2025, wie zentralplus in Erfahrung bringen konnte. Obwohl ein Richter an der Verhandlung im Dezember 2024 noch betont hatte, er habe «keinen rechtlichen Spielraum», die Frist erneut zu strecken (zentralplus berichtete).
In diesem Zeitstrahl ist der inzwischen bald drei Jahre dauernde Kampf von Nord Stream 2 gegen den drohenden Konkurs zusammengefasst:
Lichtblick für Kleingläubiger
Auf die Fragen, wieso und auf welcher rechtlichen Grundlage die Verlängerung fusst, heisst es vom Zuger Kantonsgericht: «Aufgrund des laufenden Verfahrens werden vom Kantonsgericht keine weiteren Auskünfte erteilt.»
Ist der Grund Mitleid? Mitleid für die zahlreichen kleinen Unternehmen, die noch immer auf Geld des Erdgas-Unternehmens warten? Beispielsweise installierten sie Leitungen oder bauten Büros und sitzen nun auf offenen Rechnungen.
Die erneute Verlängerung hat der Richter an eine Bedingung geknüpft: Innert 60 Tagen – bis zum 10. März 2025 – müsse die Nord Stream 2 AG sämtliche Kleingläubiger in voller Höhe entschädigen. Als Beweis muss das Unternehmen die entsprechenden Zahlungsbelege an das Zuger Kantonsgericht schicken. Kommt die Nord Stream 2 AG dem nicht nach, eröffnet das Zuger Kantonsgericht «ohne Ansetzung einer Nachfrist» den Konkurs.
Für die Kleingläubiger ein Lichtblick, denn bei ihnen geht es um viel. Einige reisten extra für die Verhandlung im Dezember aus Deutschland an, um dem Richter ihre Situation zu schildern. «Wir stehen mit dem Rücken zur Wand. Wenn wir die Summe nicht kriegen, können wir Konkurs machen», sagte etwa ein Vertreter einer Firma, bei der es um 835’000 Franken geht. Doch das dürften längst nicht alle Gläubiger sein. Der Norddeutsche Rundfunk berichtet von Unternehmern, die ihre Ansprüche noch nicht mal angemeldet haben, weil sie nicht damit rechneten, das Geld je zu sehen.
Kommt der Vertrag noch zustande?
Unklar ist derweil, wie es um den Nachlassvertrag steht. Bei diesem verzichten die grössten Gläubiger freiwillig auf einen Teil der Forderungen, um den Konkurs eines Unternehmens abzuwenden. Im Falle der Nord Stream 2 AG müssten die fünf grössten Gläubiger – die europäischen Energieunternehmen Engie (Frankreich), OMV (Österreich), Shell (Grossbritannien), Uniper und Wintershall Dea (beide Deutschland) – und die Eigentümerin Gazprom auf viel Geld verzichten. Bei ihnen geht es um Milliardensummen – doch sie würden je elf Millionen Franken erhalten und allenfalls einen Anteil am Erlös, sollte die Nord Stream 2 AG ihre Pipelines verkaufen.
Zum Zeitpunkt der Verhandlung im Dezember hätten zwei Unternehmen den Vertrag abgelehnt, wie der Einzelrichter damals sagte. Wie es inzwischen um die Unterschriften steht, sagt das Kantonsgericht nicht. Auch der Sachwalter Philipp Possa lässt sich auf Anfrage nicht in die Karten blicken. Er zeigte sich vor Gericht jedoch zuversichtlich, die benötigten Zustimmungen noch zu erhalten.
So oder so: Zukunft unklar
Selbst wenn der Vertrag zustande käme, steht in den Sternen, was mit der 9,5-Milliarden-Franken-Pipeline passiert. Eine Sprecherin des deutschen Wirtschaftsministeriums sagte gegenüber zentralplus, dass russisches Gas für Deutschland kein Thema mehr sei. Zumal die Leitungen nach dem Anschlag im September 2022 noch immer beschädigt sind.
Aufgegeben hat die Nord Stream 2 seinen künftigen Betrieb noch nicht. Für allfällige Reparaturen hat das Unternehmen Rückstellungen von 633 Millionen Euro gemacht. Und gemäss Sachwalter Possa plant die Nord Stream 2 in einem Szenario eine Inbetriebnahme im Jahr 2030. Ein Verkauf ist aber nicht ausgeschlossen. Bereits haben mehrere – auch nicht russische Akteure – Interesse angemeldet (zentralplus berichtete).
Der zähe Kampf der Nord Stream 2 gegen den Konkurs zieht sich also weiter. Am 9. Mai – also fast auf den Tag genau drei Jahre nach Start des Nachlassverfahrens – entscheidet sich das Schicksal des Unternehmens. Voraussichtlich.
- Schriftlicher Austausch mit Zuger Kantonsgericht
- Schriftlicher Austausch mit Zuger Kantonsrichter Pascal Stüdli
- Schriftlicher Austausch mit Philipp Possa, Sachwalter der Nord Stream 2 AG
- Teilnahme an der Verhandlung vom 20. Dezember 2024
- Schweizer Schulden- und Konkursrecht
- Austausch mit Redaktor des NDR
- Medienarchiv zentralplus