Junges Kochtalent zaubert mit Fake-Gerichten
Feinschmecker pilgern auf den Bürgenstock und ins Park Hotel Vitznau. Im Kampf der grossen Hotels um die Gourmets hat der kleine Vitznauerhof einen Coup gelandet: Der junge Amsterdamer Jeroen Achtien lässt mit seiner Kochkunst eine neugierige Klientel staunen.
«Ich möchte, dass der gepflegte Anzugsträger spätestens nach dem zweiten Gang seinen Kittel auszieht und locker die Ärmel hochkrempelt!» Es ist Mitternacht, als der schlaksige Koch mit der trendigen Frisur Zeit zum Schwatz findet.
Seit 19 Uhr hat Jeroen Achtien (30) seine 20 Gäste bekocht. Und wer entweder das 4-, 6- oder 8-Gang-Menü bestellt hat, wurde am Schluss mit rund der doppelten Anzahl an Gängen satt. Es sind lauter kulinarische Überraschungen.
Coolness und Lockerheit
Also dauert es auch gerne eine gute Stunde, bis nach den ersten Amuse-Bouches der zweite Gang serviert wird und ein Gast im Anzug sich zum Nebentisch vis-à-vis wendet. Er beginnt mit der locker lachenden britischen Gesellschaft zu plaudern, die extra wegen der neuen Kochbrigade ins kleine Haus bei Vitznau angereist ist.
«Wir wollen ein unkompliziertes, urbanes Publikum anziehen.»
Hoteldirektor Raphael Herzog
Man merkt schnell: Während in anderen Gourmetrestaurants oft eine steife Brise der Reserviertheit weht, mag eine jugendliche Klientel hier im Restaurant «Sens» des Hotels Vitznauerhof die unkomplizierte Atmosphäre.
«Das ist unser Konzept, mit dem wir ein unkompliziertes, urbanes Publikum anziehen wollen», erklärt Hoteldirektor Raphael Herzog, der im Sommer in Vitznau ist und im Winter das Waldhotel in Davos führt. Und stolz sein neues Küchenteam präsentiert.
Der gute Ruf ist dieser kreativen Kochbrigade um Jeroen Achtien vorausgeeilt: Der Holländer übernahm zuletzt die Küchenleitung des Restaurants «De Librije», ein Drei-Sterne-Restaurant in Zwolle bei Amsterdam, bevor ihn Hoteldirektor Herzog abwarb. Und das will etwas heissen, wenn ein Starkoch von der Weltmetropole in die Luzerner Pampa wandert.
Bereits hat das Team um Jeroen Achtien seine Schweizer Fanschar: Irma Dütsch, die Grande Dame der Schweizer Haute Cuisine und zweimal beste Köchin des Landes (1994 und 2001), ass schon mehrfach hier. Und Marion Michels, Chefredaktorin des Essmagazins «La Tavola», lobt nach einem langen Abend: «Ein elegantes Restaurant, in dem der Küchenchef seine ambitionierte Crossover-Küche mit deutlichem Augenmerk auf vegetarische Gerichte zelebriert. Traumschön die dem Restaurant vorgelagerte kleine Holzinsel mit drei Tischen. Eine exzellente Weinkarte macht das Nachhausefahren nach solch einem Abend fast unmöglich.»
«Diese Berge – anders als unsere berühmten Dutch Mountains.»
Koch Jeroen Achtien
Und was liebt Achtien hier? «Vor allem den Garten mit seinen Kräutern und Magnolienbäumen, auch den See mit seinen frischen Fischen. Und dann erst diese Berge – anders als unsere berühmten Dutch Mountains, wie wir die flachen Hügel Hollands belächeln …» Der Koch im körperbetont geschnittenen schwarzen Gwändli lacht aus vollem Herzen.
Er serviert auch ein spitzbübisches Lächeln, wenn er sein «Rindstartar» bringt. Ein Fake-Gericht! Denn was an die Konsistenz von rohem Fleisch erinnert, ist in Tat und Wahrheit eine «bissige» Essenz der Wassermelone, zusätzlich mit einem falschen Eigelbhut aus Kurkumasauce getürkt. Und über dieses täuschende, aber keineswegs enttäuschende Werk verstreut der Küchenchef die mit Kapern gerösteten Briochestückchen. «Viel Spass!» wünscht er.
Gewitter und Entenpärchen
Das «Sens» bietet nicht nur gute Küche. Auch das Setting ist speziell: Man blickt durch das Fenster auf die Nase, wie der Abhang des Bürgenstocks heisst, der sich hier steil in den See wirft. Ein heftiges Gewitter naht, und auch das Entenpärchen am kleinen Strand schüttelt sich. Die Tische an der grossen Glasfront garantieren so was wie exquisites Verzehrkino: Geniessen zum packenden Ausblick.
Es folgen weitere Gänge aus der kleinen Handwerkerküche, in der vier Köche ihrem Boss Achtien zur Hand gehen: etwa der rohe Saibling mit Sprossen und eingelegten Tomaten, über das geräucherte Rinderherz geraffelt wird. Oder die rohe Languste, im Stil von südamerikanischem Ceviche in Zitronen eingelegt, darüber eine intensive Mango-Papaya-Essenz, die dank Schweineblut wie eine Schoggisauce daherkommt. Achtiens Wolfsbarsch schmiegt sich an Sauerkraut und Speck, die Taube wurde lange im Jeninser Pinot noir «gebadet».
Das Sauerampfereis ist noch nicht der Abschluss, denn Jeroen Achtien erweitert den Dessertreigen um einen Zusatzgang, einen gefrorenen und geraffelten Mascarpone in der Grapefruithälfte. Die Nachspeise, am Nebentisch mit Juchzen begrüsst, wird vor den Gästen zubereitet.
Achtien trimmte Heerscharen von Köchen
Dem Koch macht seine Arbeit in Vitznau sichtlich Freude, denn wenn er von seiner Vergangenheit erzählt, dann stöhnt er fast ein bisschen: Für die Kreuzfahrtgesellschaft Holland American Line mit ihren 15 Schiffen war Achtien bei der Umsetzung des nach seinem Edelrestaurant genannten Gourmetmenüs «Taste of De Librije» verantwortlich. Also trimmte er Heerscharen von Köchen, doch dabei musste er «365 Tage immer dieselben Zutaten verarbeiten. Weder Ausscheren noch Experimentieren waren möglich». Das sei keine Herausforderung mehr für ihn gewesen.
Heute zieht er es vor, für eine kleine achtsame Klientel statt für Tausende angeheiterte All-inclusive-Amüsierwillige zu kochen. Hier im Vitznauerhof experimentiert er, und er wirkt zufrieden. Achtien war auch schon bei der Konkurrenz im Park Hotel Vitznau essen und hat da bereits neue Freunde gefunden. Schwellenangst wie dort im grossen Konkurrenzhaus gibt es bei ihm im «Sens» nicht. Weil der neue Chef so unkompliziert und naturverbunden ist.
«Die Magnolienblätter aus unserem Garten finden sich auch in den Amuse-Bouches wieder.»
Jeroen Achtien
Die Natur am See, deshalb sei er so gerne hier: «Ich hole mir die feinsten Bärlauchfrüchte aus dem Muothatal, frische Kräuter von der Rigi oder den frischesten Fisch vom Berufsfischer Martin Zimmermann im Dorf.» Und noch viel mehr Exotik ist auf dem Teller zu haben: «Die Magnolienblätter aus unserem Garten finden sich auch in den Amuse-Bouches wieder.»
Ach ja, einen Wermutstropfen gibt es, nämlich die Kosten: 115, 165 oder 185 Franken, je nach Anzahl der Gänge. Aber gewisse Dinge gönnt man sich ja nur einmal im Leben.
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