Martin Hafen über die «brave Jugend»

Jugend ohne Rebellion – erzogen, um keine Fehler zu machen

Martin Hafen ist nicht irritiert von der braven Jugend. Ihn irritiert die Gesellschaft. (Bild: jav)

Angepasst, apolitisch, brav. So wird die heutige Jugend oft beschrieben. Und sie ist es auch, wie der Experte an der Luzerner Hochschule bestätigt. Über die Gründe jedoch müsste sich die Gesellschaft definitiv Gedanken machen.

Es wird pubertiert, es wird rebelliert, gekifft und rumgehangen.

Nicht doch. Die heutige Jugend zeigt sich arbeitsam, sportlich, gesund und angepasst. Eine Entwicklung, die von der einen Seite mit Wohlwollen, von der anderen mit Besorgnis wahrgenommen wird.

Der 59-jährige Soziologe und Sozialarbeiter Martin Hafen doziert an der Luzerner Hochschule für soziale Arbeit. Der Präventionsfachmann ist Vater von drei Söhnen und war jahrelang Teilzeit-Hausmann. Im Interview schildert er seine Wahrnehmung der «Jugend von heute».

zentralplus: Die heutige Jugend wird immer schlimmer! Ein Ausruf, den wir alle kennen. Stimmt er überhaupt nicht?

Martin Hafen: (Lacht.) Tatsächlich kann man dazu sogar Aristoteles zitieren. Und seit den Griechen gab es in jeder Epoche Gelehrte, die genau das gesagt haben. Doch das hat nur etwas mit der Wahrnehmung zu tun. Ich bin gegenüber diesen plakativen Jugendkonstruktionsversuchen allgemein sehr skeptisch. Einmal sind alles Egomanen, einmal sind sie total angepasst. Selbstverständlich verändert sich das immer wieder ein wenig, doch so krass, wie es öffentlich thematisiert wird, ist es selten.

zentralplus: Angepasst. Verstummt. Pragmatisch. Wie steht es wirklich um unsere junge Generation? Ist sie viel braver als die Jugendlichen vor ihnen?

Hafen: Verglichen mit den 80ern zum Beispiel kann man ohne Frage sagen, dass derzeit eine sehr grosse Anpassungsbereitschaft bei der Jugend herrscht.

«Leistungsbereitschaft und Konsumbereitschaft – die Jugend entspricht diesen Bildern perfekt.»

zentralplus: Woran liegt das?

Hafen: Da müssen wir nur unsere Gesellschaft betrachten. Die zentralen Werte unserer Gesellschaft sind Leistungsbereitschaft und Konsumbereitschaft – die Jugend entspricht diesen Bildern perfekt. Sie folgen genau dem, was die Gesellschaft ihnen zeigt. Die AHV-Diskussion, die Drohung einer weiteren Weltwirtschaftskrise. Man muss sich die beste Ausgangsposition sichern, um in dieser Welt zu bestehen und in dem gnadenlosen Wettbewerb mitzuhalten.

zentralplus: Der Schriftsteller Sreten Ugricic hat über die Zuger Jugendlichen geschrieben: «Wie kann man jung sein und nicht gegen etwas sein? Wie kann man jung sein und keine Veränderung wollen?» Warum irritiert uns eine brave und angepasste Jugend?

Hafen: Gegenfrage: Wen irritiert das wirklich? Es sind die eher gesellschaftskritischeren Genossen, die sich das Gegenteil wünschen. Der Grossteil der Gesellschaft will keine belehrende Jugend, will seine Weltbilder nicht in Frage gestellt haben. Sonst würde man Kinder auch anders schulen. Dann würde man es sich leisten, selbständig denkende Menschen zu erziehen. Es sagen zwar alle, dass sie das wollen, aber es tut keiner ernsthaft etwas dafür. Das ist eine typische kognitive Dissonanz.

zentralplus: Kognitive Dissonanz? Können Sie uns diesen Wissenschaftsjargon übersetzen?

Hafen: Wir erzählen etwas und machen das Gegenteil. Wir folgen Werten und Leitbildern wie Kreativität, Selbstbestimmung und Kritikfähigkeit, handeln aber widersprüchlich. Wir sagen: «Wir müssen auf die Umwelt achten, Armut vermeiden.» Konkret kaufen wir massenhaft Produkte, die unter menschenrechtswidrigen Bedingungen hergestellt werden, wir erlauben Konzernen, die Natur und die Menschen in Entwicklungsländern auszubeuten und ihre Gelder steuerfrei bei uns zu parkieren. Logisch stehen dann die Jugendlichen da in ihren Schlappen, die in Vietnam für ein paar Rappen hergestellt worden sind, und sagen: «Die Umwelt ist mir sehr wichtig.» Sie kopieren den Rest der Gesellschaft.

«Nicht ‹die Jugend› ist apolitisch, die ganze Gesellschaft ist apolitisch.»

zentralplus: Können Sie diese Beobachtungen auch konkret in Luzern mit einem Beispiel benennen?

Hafen: Wir wollen eine umfassende Bildung für unsere Kinder und streichen gleichzeitig Fächer wie Musik oder Ethik aus dem Lehrplan. Wir wollen eine sozial gerechte Gesellschaft und führen Steuersenkungen ein, die vor allem die Begüterten bevorzugen. Die Auswirkungen gehen zu Lasten der sozial Schwächsten. Es ist himmelschreiend: kognitive Dissonanzen ohne Ende. Und die Politik hält sich vornehm raus.

Andere Zeiten, andere Jugendliche: politisches Engagement auf Rädern.
Andere Zeiten, andere Jugendliche: politisches Engagement auf Rädern.

(Bild: Emanuel Ammon/AURA)

zentralplus: Zur Politik: Weshalb ist politische Teilhabe für Jugendliche so unattraktiv geworden? Geht es ihnen zu gut?

Hafen: Eine weitere Frage, die man nicht auf die Jugend beschränken kann. Nicht «die Jugend» ist apolitisch, die ganze Gesellschaft ist apolitisch. Rund 50 Prozent der Bevölkerung nimmt die Demokratiemöglichkeiten nicht wahr. Ein Grund dafür kann sein, dass Grosskonzerne, die nicht an nationale Grenzen gebunden sind, oft einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Politik haben. Eine Resignation ist demnach verständlich. Und auch unser Bildungssystem ist nicht darauf ausgerichtet, Kinder zur Demokratie zu erziehen.

«Die Schule ist eine Fehlervermeidungsmaschine.»

zentralplus: Inwiefern?

Hafen: Unser Bildungssystem tut exakt das Gegenteil, als Kinder zu gesunder Kritikfähigkeit zu erziehen, diese wird eher unterdrückt. «Scole» heisst altgriechisch «Musse» – damit hat die Schule nicht mehr viel zu tun. Sie ist darauf ausgerichtet, die Jugendlichen dazu zu erziehen, keine Fehler zu machen. Die Schule ist eine Fehlervermeidungsmaschine. Man lehrt die Kinder, genau das zu denken und zu antworten, was man hören will. Und die Jugendlichen passen sich dem an. Das widerspricht übrigens sämtlichen Lehrmeinungen zur Förderung einer innovativen Gesellschaft.

zentralplus: Nicht nur beruflich und politisch sind die Jugendlichen angepasst. Die eidgenössische Jugendbefragung 2017 hat ergeben: Herkömmliche Familien- und Geschlechterrollen sind hoch im Kurs. Der Mann in der Ernährerrolle, die Frau kümmert sich um die Familie. Beobachten Sie das ebenfalls?

Hafen: Es ist tatsächlich so, dass die Tendenz derzeit zu konservativeren Rollenmodellen geht. Ich persönlich finde das erstaunlich, auch weil es für die Wirtschaft nicht günstig ist, dass rund 50’000 hochqualifizierte Frauen einer Teilzeit-Arbeit nachgehen, die nicht ihren Qualifikationen entspricht. Ökonomisch gesehen ist das eine Katastrophe. Und wieder ist die Politik nicht bereit, dem abzuhelfen – mit einer zeitgemässen Familienpolitik, welche die familienergänzende Kinderbetreuung angemessen unterstützt.

Mehr zum ThemaAktuelle Jugendstudien zeichnen ein besorgniserregendes Bild der Generation Y: Leistungsdruck, Selbstzweifel und Zukunftsängste erreichen schon die Jüngsten unserer Gesellschaft. Zudem sollen heutige Jugendliche das Engagement in Politik und Gesellschaft als out betrachten. Doch stimmt dieses Bild?Martin Hafen hält am 2. Mai 2018 um 13.30 ein Referat im Rahmen des 100-Jahr-Jubiläums der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit. Der Vortrag findet in Sarnen im alten Gymnasium statt. Mit Begrüssung und Einführung von Dorothee Guggisberg, Direktorin Departement Soziale Arbeit, und dem Regierungsrat Christoph Amstad im Gespräch mit Jugendlichen aus dem Kanton Obwalden.

zentralplus: Haben wir verpasst, die Jugend für Gleichberechtigung und neue Familienmodelle zu sensibilisieren?

Hafen: Es gibt so viele Faktoren, die hier eine Rolle spielen. Junge Frauen werden heute in eine Welt hineingeboren, in welcher ein gewisses Mass an Gleichberechtigung durch ihre Vorkämpferinnen erreicht wurde. Sie nehmen das als selbstverständlich hin, wollen das Angenehme geniessen und ärgern sich über die kämpferische Semantik gewisser Feministinnen, die betonen, dass ein angemessenes Mass an Gleichberechtigung bei weitem noch nicht reicht. Was übrigens auch meine Meinung ist und sich auch beim neuesten OECD-Vergleich zeigt, wo die Schweiz im Hinblick auf Gleichberechtigung Platz 26 von 29 Ländern einnimmt, hauchdünn vor der Türkei.

zentralplus: Inwiefern hat die Digitalisierung Einfluss auf die Angepasstheit der Jugend?

Hafen: Die Digitalisierung hat unsere Welt radikal verändert. Viele Menschen haben Mühe, sich mit sich selbst zu beschäftigen, und finden mit ihren Smartphones in jedem Moment Ablenkung. Zudem führt die Digitalisierung zu einer noch grösseren Beschleunigung, weniger Verlässlichkeit, aber auch immer mehr Optionen, die manche Leute bereichern und andere überfordern. Und die Jugendlichen tun, was wir tun: Sie konsumieren ohne Ende und nutzen alle Optionen, weil die Gesellschaft darauf ausgerichtet ist.

«Für unsere Welt wünsche ich mir viel mehr Unbravheit.»

zentralplus: Jugendrebellionen und politische Jugendbewegungen waren immer wieder Anstoss für sozialen Wandel. Würden Sie das unterschreiben?

Hafen: Grundsätzlich ja. Wenn es zu einer grösseren Bewegung kommt, dann birgt das für den Rest der Gesellschaft ein Irritationspotenzial. Dieses wird jedoch masslos überschätzt, wenn man sich die Entwicklung seit den 1950er-Jahren anschaut. Damals herrschte der Traum der idealen Kleinfamilie, es ging vom Konsum zur Befriedigung der Alltagsbedürfnisse hin zum Konsumieren um des Konsums willen. Das wurde um 1968 von einer grossen Gruppe in Frage gestellt. Die Abkehr vom Konsum, ein zentrales Anliegen der 68er-Bewegung, hat nicht stattgefunden. In anderen Bereichen, der Akzeptanz für andere Lebenskonzepte, Familienmodelle, Sexualitäten hingegen hat die Bewegung etwas ausgelöst.

Nicht nur getanzt wurde in den 80ern anders.
Nicht nur getanzt wurde in den 80ern anders.

(Bild: Emanuel Ammon/AURA)

zentralplus: Kommen wir zurück zur heutigen Jugend. Ist brav sein zwangsläufig etwas Schlechtes?

Hafen: Es gibt zwei Arten von «brav sein». Bravheit gegenüber Gesetzen als Erstes und Bravheit in der Form, dass man allgemeinen Normen und Werten nachlebt und diese nicht in Frage stellt. Jugendliche haben die Tendenz, sich gegen bestehende Normen aufzulehnen – was derzeit beschränkt stattfindet. Bravheit gegenüber den Gesetzen ist in einer Gemeinschaft notwendig. Aber es ist gerade für Jugendliche auch wichtig, Normen zu überschreiten, sie zu hinterfragen und sich daran zu reiben. Für unsere Gesellschaft und unsere Welt wünsche ich mir viel mehr Unbravheit. Mehr Experimentierlust. Mehr Selbstkritik.

zentralplus: Sie wünschen sich mehr Unbravheit. Doch ist diese «Nicht-Rebellion» vielleicht eben genau die Rebellion einer Generation, deren Eltern Rebellieren als wichtig ansehen?

Hafen: Ich glaube wirklich nicht, dass die Jugendlichen so reflektiert sind. (Lacht.) Natürlich ist die Auflehnung gegen die Eltern etwas, das in Wellen mal stärker und mal schwächer auftaucht. Derzeit ist sie eher schwächer. Ich gehe aber davon aus, dass es bei massiven gesellschaftlichen Umwälzungen wie bei einer Weltwirtschaftskrise so weit käme, dass die Jugendlichen zu den Eltern sagen: «Ihr macht die Welt kaputt.» Ich schliesse nicht aus, dass es dann wieder zu einem grösseren Bruch kommen wird, wie es 1968 der Fall war. Doch solange die «Vorteile» gegenüber den «Nachteilen» scheinbar überwiegen, werden die Jugendlichen genau dem folgen.

zentralplus: Welche Vorteile und Nachteile meinen Sie konkret?

Hafen: Die immer grössere Wahl von Möglichkeiten, der stetig steigende Wohlstand. Dem gegenüber stehen die steigende Stressbelastung, die versickernde Altersvorsorge, die weltweit wachsende Ungleichheit und die Stigmatisierung von Menschen, die wegen psychischen Problemen aus der Leistungsgesellschaft herausfallen. Mehr als 50 Prozent der Menschen, die frühzeitig aus der Arbeitswelt ausscheiden, tun dies wegen der Psyche, nicht wegen des Körpers. Hier zeigt sich die Überlastung. Doch eine gesellschaftsweite Protestbewegung wird erst entstehen, wenn die Nachteile für eine Mehrheit überwiegen. Und die Jugend bringt am meisten Energie auf, um negative Entwicklungen aufzubrechen –  mit einem ganz kleinen Schüfeli. Wohlgemerkt.

zentralplus: Apropos Körper: Rauchen und Trinken sind out. Gute Ernährung und Fitness sind Trend. Das fügt sich perfekt in die Leistungsbereitschaft ein.

Hafen: Es entspricht den Idealen. Der Körper rückte in den letzten 150 Jahren immer mehr in den Fokus. Durch die Mode und den Konsum wurde der Körper wichtiger. Es entstand eine Wechselwirkung zwischen der profitierenden Wirtschaft und dem immer konsumfreudigeren Menschen. Der Körper wurde zudem zum Ankerpunkt in einer Welt, in welcher auch die Religion immer weniger Sicherheit stiftet. Auch deshalb wird Krankheit immer mehr dämonisiert. Und Gesundheit glorifiziert. Schönheit und Fitness bringen mehr Erfolg im Beruf und im Sozialen. Auch hier passen sich die Jugendlichen sehr stark und konsequent an, werden körperlich leistungsfähiger und stylen ihre Körper, um sexy und fit auszusehen. Weil ihnen Belohnung versprochen wird.

zentralplus: Ein topfitte und gesunde Gesellschaft ist doch eine tolle Sache?

Hafen: Natürlich ist es von Vorteil, wenn wir uns gesund halten. Aber wenn das Körperstyling zur Sucht oder zur Norm wird, dann ist das problematisch für diejenigen in der Gesellschaft, die der Norm nicht entsprechen. Das Gleiche gilt für die psychische Gesundheit – wenn «Gut-drauf-Sein» zur Norm wird. Wir können die Psyche und den Körper nicht immer weiter ausbeuten und unter Druck setzen.

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1 Kommentar
  • Profilfoto von mebinger
    mebinger, 18.03.2018, 19:18 Uhr

    Bin nicht überzeugt, das unsere Jugend so ist. Sie ist daran unsere Werte grundlegend über den Haufen zu werfen und das ist gut so

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