«Exoten im Paradies» – Teil 2

Jüdin in der Schweiz: «Ich war ein huärä Sauschwab»

Die junge Claudia Litten mit ihren Eltern und ihrer Grossmutter. (Bild: Privatarchiv)

In Luzern war die jüdische Flüchtlingsfamilie Litten fester Bestandteil der Kulturszene. Aber die Nachkriegszeit entpuppt sich als Prüfstein für die Exoten. Denn Fremdenhass gibt es auch im Schweizer «Paradies», wie Tochter Claudia Litten erfahren muss.

Ihre Eltern flohen vor den Nazis nach Luzern. Am Stadttheater haben sich Rainer Litten und Hannelore Eisenbart schnell zu Publikumslieblingen gemausert. Die jüdischstämmigen Eltern und ihre Tochter Claudia werden 1948 eingebürgert. Aber auch im vermeintlichen «Paradies» beginnt die Fassade zu bröckeln, wie du im ersten Teil der Reihe «Exoten im Paradies» lesen kannst.

1948 besucht Claudia Litten die versehrte Welt jenseits der intakten Schweizer Grenze. Sie ist erst fünf Jahre alt, doch die Eindrücke aus dem Mannheim der Nachkriegszeit werden ihr ein Leben lang erhalten bleiben. Sie verbringt ein halbes Jahr bei ihren Grosseltern mütterlicherseits, die in einer Trümmerwüste leben: «Ihre Wohnung war noch stabil, aber im obersten Stockwerk war alles ausgebombt», erinnert sie sich.

Die Trümmerbahn fährt durchs zerbombte Mannheim.
Die Trümmerbahn fährt durchs zerbombte Mannheim. (Bild: MARCHIVUM, Bildsammlung, AB05011-058 / Roden Press)

Die Stadt ist 151 Luftangriffen der Alliierten zum Opfer gefallen. Ein Viertel der Bevölkerung der beiden Schwesterstädte Mannheim und Ludwigshafen hat im Zweiten Weltkrieg ihr Leben gelassen. Die Stimmung, die das junge Mädchen wahrnimmt, ist schwer in Worte zu fassen. Schon im Zug hatte es nur so von «Amis» gewimmelt und auch in der Ruinenstadt trifft man sie häufig an. Für die einen sind sie die Befreier, für die anderen noch immer der Feind.

Claudia Litten wird sich an Menschen erinnern, die mit schmerzverzerrten Gesichtern und Kriegsverletzungen durch die Strassen der Ruinenstadt humpeln. Als sie einmal krank ins Spital muss, wird sie schnell wieder nach Hause geschickt. Alle Betten sind belegt. Die kleine Claudia wird von den Grosseltern verwöhnt. Zum einen, weil sie noch ein Kind ist, aber auch, damit die vorherrschende Atmosphäre sie nicht erdrückt.

Claudia Littens Märchen bröckelt

Bis vor Kurzem war die Realität noch paradiesisch gewesen. Doch Claudia Littens Märchen rast auf den Abgrund zu. Eingeläutet hatte den Wendepunkt die plötzliche Entlassung ihres Vaters Rainer Litten am Stadttheater Luzern. Darauf folgte der Besuch bei den Grosseltern in Deutschland und bald die Geburt einer kleinen Schwester, die von liebevollen Eltern innig erwartet wurde – womöglich etwas zu innig, für Claudia Littens Geschmack. «Ich habe meine grosse Schwester damals entthront», wird Patricia Litten eines Tages zugeben.

«Ich habe abgesehen von Fotos keine Erinnerungen an Luzern.»

Patricia Litten, Tochter von Rainer

Ihre grosse Schwester wird lachen und nicken. Die Fünfzigerjahre bringen nicht nur familiäre Veränderungen mit sich: Luzern erhält 1953 einen neuen Stadtpräsidenten, nachdem Max Sigmund Wey im Sommer verstorben ist.

Die Theaterclique fällt auseinander

Neu amtiert jener Paul Kopp, der die Entlassung von Hermann Brand und Rainer Litten aus dem Luzerner Stadttheater während einer Ratssitzung verteidigt hatte, weil sich die beiden in Vergangenheit mehrfach falsch verhalten hätten – eine Anschuldigung, für die keine Beweise vorgebracht werden konnten. Kopp macht sich wie schon sein Vorgänger für das Theater und die Musikfestwochen stark, fährt aber einen strikten Kurs in seiner Ausländerpolitik. So führt er beispielsweise die Staatsbürgerkurse für Immigranten im Kanton Luzern ein.

Langsam löst sich die internationale Clique des Ensembles am Stadttheater auf und mit ihr der Zauber der Boheme. Patricia Litten hat den paradiesischen Zustand, den ihre ältere Schwester erlebt hat, verpasst. «Ich habe abgesehen von Fotos keine Erinnerungen an Luzern», wird sie eines Tages gestehen müssen. «Und ich habe meine Eltern nie im Luzerner Stadttheater spielen sehen.» Zum Glück bedeutet die Kündigung für ihren Vater nicht das Ende seiner Karriere, sodass sie ihn wenigstens noch andernorts in seinem Element erleben wird.

Familienvater Litten ist weit, weit weg

Rainer Litten ist in den Fünfzigerjahren viel unterwegs. Ab 1957 übernimmt er die Leitung des Theaters am Central in Zürich. Dazu moderiert er die Radiosendung «Theater Heute» in Basel. Seine Familie lebt noch immer in Luzern. Er kehrt spätabends aus der einen Stadt mit dem Auto zurück und verlässt sein Zuhause frühmorgens in Richtung der anderen.

Das Pendeln setzt ihm zu: Die ältere Tochter Claudia erlebt ihn nicht mehr so glücklich wie vorher. Und auch seine Frau, die ihm um zwei Uhr nachts noch Abendessen kochte, wünscht sich Veränderung herbei. 1959 fasst die Familie deshalb den Entscheid, nach Zürich umzuziehen. In Herrliberg finden die Littens eine passende Wohnung.

Blick von Herrliberg über den Zürichsee. In der Ferne Eiger, Mönch und Jungfrau. Und die heile Welt.
Blick von Herrliberg über den Zürichsee. In der Ferne Eiger, Mönch und Jungfrau. Und die heile Welt. (Bild: Gemeinde Herrliberg)

Harziger Neubeginn in Zürich

Die Umzugskartons und Möbel sind bereits in den Zimmern des neuen Zuhauses verteilt. Rainer Litten steht auf dem Balkon und blickt in die Ferne. Seine fünfjährige Tochter Patricia erkennt die Wehmut in seinem Ausdruck. «Als Kind bist du wie ein Seismograf. Du nimmst Stimmungen auf und machst sie zu deinen eigenen», wird sie eines Tages reflektieren.

Beide schauen sie über den Zürichsee auf das Bergpanorama; dorthin, wo Pilatus und Rigi an den Wolken kratzen, wo sich einst die heile Welt verbarg. Tröstend spricht die Tochter zu ihrem Vater: «Schau mal, Papa! Von hier sieht man sogar in die Schweiz!» Ein liebevoller Versuch, die Welt wieder ein Stück heiler werden zu lassen.

Während Claudia Litten bereits eine KV-Lehre begonnen hat, kommt ihre kleine Schwester Patricia in die Primarschule. Schnell wird ihr bewusst, dass sie sich im ländlichen Zürich als Tochter aus Künstlerhaushalt deutscher Abstammung von ihren Mitschülerinnen unterscheidet. «Ich war eine komplette Exotin.» Warum das so ist, versteht sie als Kind noch nicht. Bisher hatte sie sich nie anders gefühlt. «Der Fall aus dem Paradies beginnt, wenn du merkst, du bist anders.»

Die Littens spüren die Deutschfeindlichkeit

Dieses Gefühl erreicht seinen Höhepunkt während einer Mathematiklektion in der vierten Klasse. Als der Lehrer die Kinder fragt, was die Summe von 17 und 8 sei, strecken alle auf. Auch Patricia Litten. Sie darf antworten. «Fünfundzwanzich», sagt sie und ihr Lehrer geht in die Luft: «Hör uuf mit dem huärä verdammtä Sauschwabe! Das chasch dänn uf dä Bühni machä. Bi eus heisst das ‹Fünfundzwanzig›.» Die Klasse bricht in Gelächter aus.

Ähnliche Erfahrungen macht in dieser Zeit auch ihr Vater Rainer Litten, wenn er im Radio Gedichte vorträgt. Sagt er «Könich», gibt es grosse Diskussionen. Die Aversion gegen dieses anders klingende Deutsch ist einerseits auf klassische Fremdenfeindlichkeit, andererseits auch spezifischer auf die Deutschfeindlichkeit in der Nachkriegszeit zurückzuführen.

Der «huärä Sauschwab» leidet

Das Erlebnis in der Schule beschäftigt die zehnjährige Patricia. Sie liegt abends wach im Bett, während ihre Schwester bereits schläft. Draussen sitzen ihre Eltern mit den Nachbarn und diskutieren laut. Die Littens sind nicht die einzigen Exoten in diesem Mehrfamilienhaus. Im unteren Stockwerk lebt eine italienische Familie, daneben eine englisch-holländische.

Mit ihnen verstehen sich Hannelore und Rainer Litten ausgesprochen gut. Sie trinken viel und führen leidenschaftliche Diskussionen. Immer wieder dringen Wortfetzen in das Kinderzimmer: «Die sitzen alle noch in Amt und Würden!», «Mit diesen Faschisten will ich nie wieder etwas zu tun haben.», «Ich will keine Diskussion über die Wiedergutmachung!». Was die jüngere Tochter hört, lässt sie zusammenfahren. «Ich dachte mir: Ich bin ‹en huärä Sauschwab› und das ist es doch, was mein Vater so verachtet.»

Patricia Litten erzählt ihren Eltern nichts von dem Ereignis in der Schule. Zu sehr fürchtet sie sich davor, was passieren könnte, wenn ihr Vater erfährt, dass sie «en Sauschwab» ist. Stattdessen beginnt sie, «das aller beschissenste Hochdeutsch» zu sprechen. Und wenn die Grosseltern aus Mannheim auf Besuch kommen, antwortet sie ihnen strikt auf Schweizerdeutsch. Sie verstehen kein Wort. Das ist ihr aber immer noch lieber als die Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft, über die sie so wenig weiss.

Was Patricia Litten eines Tages als «selbstauferlegte Amnesie» beschreiben wird, umhüllt ihre Familiengeschichte mit einem Schleier, der sich erst lüften wird, wenn keine Fragen mehr gestellt werden können.

Dies ist der zweite Teil der dreiteiligen Serie «Exoten im Paradies» über das Leben der Familie Litten in Luzern.

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