Kolumne

Kindsein: Warum früher eben doch alles besser war

Was wohl Isa jetzt wieder umtreibt? (Bild: Mike Bislin)

Alte Bilder und Relikte aus der Kindheit lösen immer viel aus. In der neuesten «Isa, garantiert kompliziert»-Kolumne geht's um ihr jüngeres Ich – und was sie daran vermisst.

Letztens fand ich in meinem Estrich eine Box mit alten Dingen drin. Fotos, erhaltene und niemals verschickte Liebesbriefe. Briefe von Freunden, ein Haar eines Pferdeschweifes – sowie mysteriöse Protokolle unseres damaligen «James-Bond-Clubs». Denn ich war Wendy und James Bond in einem.

An den Wochenenden striegelte ich den einäugigen Freiberger-Wallach Harry. Lernte mit ihm, ohne Sattel und Zaum über weite Wiesen zu galoppieren, über gefällte Tannenbaumstämme zu springen, während ich meine kleinen Hände in seine schwarze, lockige Mähne grub. Meine Haare dufteten nach Heu, meine Hände nach Pferd, meine Hosentaschen nach Pferdeleckerlis. Mama fluchte jeweils beim Waschen, wenn ich ein Leckerli in einer Tasche vergass und dieses beim Waschen wie ein Hefekloss aufging.

Auf der Suche nach Mord und Totschlag im 1000-Seelen-Dorf

An den Abenden nach der Schule zog ich mit meiner besten Freundin durch die Strassen Nüderefs. Wir gründeten einen James-Bond-Club. Einen richtigen Club mit Klubhaus, Geheimsprache, Statuten und Mitgliederverträgen, die wir auf der antiken Schreibmaschine zuhause tippten. Wir kamen uns schrecklich erwachsen vor.

Wir drangen in alte Scheunen ein, waren überzeugt, dass unter den Blachen irgendwo eine Leiche versteckt sei, spionierten den Nachbarn mit einem Feldstecher aus, führten Protokoll unserer Streifzüge. Abends sassen wir aufs Dach der Velogarage in der Schule, vor uns das 1000-Seelen-Dorf, rauchten Nielen.

Wir waren schrecklich-schön naiv und das war gut so. Wir dachten nicht an das, was morgen ist. Allerhöchstens an das, was in fünf Minuten sein könnte. Wir fingen Spitzmäuse mit unseren nackten Händen, um sie vor dem Tod durch einen Kater zu bewahren. Dachten nicht so weit, dass dieses wilde, verängstigte Wesen mit seinen Knopfaugen messerscharfe Zähne hat.

Die Sache mit den Damhirschen

Die Erwachsenen wollten uns vor dem Bösen bewahren. Vor der ganzen Brutalität und dem Hass, den Arschlöchern und Trumps dieser Welt. Oder von einem «Schaggel», der die armen Damhirsche vor unserem Haus abknallte.

Hinter meinem Elternhaus war eine grosse Wiese mit einem Gehege voller Damhirsche. An den Sommerabenden stellte ich meine Holzharasse ans Gehege. Sammelte Äpfel von unserem Garten, schnitt sie in Stücke, die ich den fordernden Mäulern durchs Gitter reichte. Ich bewunderte das mächtige Geweih von Leo – so hiess der Anführer der Herde.

Ich gab den Tieren Namen, erzählte ihnen von mir. Dass es alle Jahre ein neuer Leo war, der mir mit seinem sanften Mund die Apfelschnitte von den Fingern schlang, wusste ich nicht. Wahrscheinlich habe ich um die 13 verschiedene Leos gefüttert. Denn diese bekamen jeweils Besuch von einem Jäger «Schaggel», Leo kam zerstückelt auf den Teller. Das erzählten meine Eltern mir aber erst, als ich älter war. Seit diesem Tag grüsste ich Schaggel nicht mehr.

Die High Heels vom Mami stibitzt

Mit meiner besten Freundin stibitzten wir die High Heels unserer Mütter, malten unsere Lippen rot an, tranken Sirup aus Champagnergläsern, tanzten auf der Strasse, drehten Pirouetten. Wir zogen den Geruch des warmen Sommerregens, der vom Strassenasphalt aufstieg, tief in unsere Nasen ein.

Als Kind waren wir die ehrlichste Form unseres Selbsts. Wir lachten und wir weinten, manchmal beides gleichzeitig. Ohne uns dafür zu schämen. Weil wir ja zu gefühlsduselig sein könnten.

Wir waren fasziniert von Kleinigkeiten, fragten uns immer wieder, wie so ein Schneckenhaus auf dem schleimigen Körper einer Schnecke hält. Warum fällt eine Spinne, die ihr Netz webt, nicht zu Boden, wenn doch hinten der Faden rauskommt und sie nach vorne läuft?

Von der hässlichen Räbe, die schön war

Von Äusserlichkeiten liessen wir uns nicht blenden. Beim Räbeliechtli-Schnitzen im Kindergarten griff ich zu der Räbe, die Valentina – die es ja immer besser wissen musste – als die hässlichste bezeichnete. Mir war das egal. Meine Räbe war die schönste.

Wir gingen zu Fremden und setzten uns neben sie. Wie zu dem bärtigen Mann, der seinen verfilzten Hut tief in sein von der Sonne gegerbtes Gesicht zog, den ich immer wieder am Vierwaldstättersee beim Seebistro Luz sah, wie er den Schwänen Brot zuwarf. Stunden bei den Vögeln verbrachte und mit ihnen redete.

PMS-freie Zeiten

Als Kinder waren wir pickel- und PMS-frei, hatten keine Haare an Stellen, wo wir sie heute wegmachen. Wir neckten denjenigen, dessen Namen wir in unsere Schulhefte kritzelten, schrieben Liebesbriefe an unsere Schwärme, während wir zu Backstreet Boys mitsangen. Ohne zu wissen, was wir da sangen, aber es hörte sich nach Liebe an. «Doesn't really matter if you're on the run, it seems like we're meant to be …» Und US5. «And we all go, oh, oh, oh.» Zuallererst war ich in Richie von US5 verschossen. Dann malte ich auf dem Bravo-Poster ein Herz um den Kopf von Chris. Dann Mikel. Schliesslich Jay und Izzy – meine rebellische Phase. Ich wollte meine Haare zu Dreads formen, meine Lippen piercen. Selbstverständlich schrieb ich der Boygroup auch Liebesbriefe. Ich schickte sie ab. Heutzutage überlege ich nur schon zwei Mal, einem Crush ein «Hoi, gohds guet?» zu schreiben, um die Nachricht dann doch zu löschen.

Meine Freundin Saskia und ich bedienten uns in unseren Teenie-Jahren an der Bar ihrer Eltern, wenn sie sturmfrei hatte. Campari, Bacardi, irgendwelche Whiskeys – von jeder Flasche träufelten wir einen Schluck in ein Glas. Eben so, dass möglichst nichts auffällt. Unser Glas aber war voll. Wir dann auch bald. Wir hatten unseren ersten Rausch. Kotzten aus dem Fenster (nicht empfehlenswert). An den Wochenenden fuhren wir in die Stadt, schmuggelten uns in angesagte Clubs. Sie nannte sich auf Facebook – oder Netlog? – Saskia Bacardi, ich Isabelle Jack Daniel’s (Old No. 7).

Wir fühlten uns frei, taten das, was wir wollten. Was andere über uns dachten, zählte nicht.

Warum sind wir so fasziniert von der Kindheit und Jugend eines jeden? Weil sie uns sicherlich formte, zu den Menschen, die wir wurden. Weil wir uns immer wieder danach sehnen, nochmals so naiv, unbefleckt und unbeschwert zu sein. Wohl aber, weil wir ehrlich zu uns selbst waren.

Wir wollten verstehen. Alles und jeden. Wir hörten zu, und wenn wir von etwas genug hatten, dann gingen wir. Ohne festhalten zu müssen.

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