zentralplus-Gastautor aus der Ukraine

«Ich war dabei, als sich die Eltern von ihren Kindern verabschiedeten»

zentralplus-Gastautor Raimond Lüppken war im ukrainischen Lwiw, um über die Situation vor Ort zu berichten. (Bild: Raimond Lüppken)

Der Journalist Raimond Lüppken ist am Mittwoch nach Lwiw in die Ukraine gefahren, um über den Krieg zu berichten. Der zentralplus-Gastautor erzählt im Interview, was er dabei erlebt hat.

zentralplus: Sie sind letzten Mittwoch nach Budapest geflogen, um sich ein eigenes Bild von der Lage an der ukrainischen Grenze zu Ungarn zu machen. Warum?

Raimond Lüppken: Schon als in Syrien der Krieg ausbrach, ist mir aufgefallen, wie wenig wir hier davon mitbekommen. Wir sehen nur die Flüchtlinge, die hier ankommen. Ich wollte selber erfahren, warum die Menschen flüchten, den Weg nachvollziehen und spüren, wie das ist.

zentralplus: Also stiegen Sie kurzerhand in den Nachtzug nach Budapest.

Lüppken: Ich wollte an die ungarische Grenze zur Ukraine, nachdem ich gelesen hatte, dass sich Ministerpräsident Viktor Orban jetzt plötzlich als Flüchtlingshelfer inszeniert. Als die Menschen vor dem Syrien-Krieg flüchteten, war das überhaupt nicht so. Mit diesem Sinneswandel wollte ich mich journalistisch beschäftigen – aber es kam anders.

zentralplus: Was ist passiert?

Lüppken: Die letzten Kilometer vor der Grenze sind Niemandsland, da fährt kein Zug hin. Ich bin deshalb per Anhalter gefahren – und zufällig nahm mich ein Aargauer mit. Er sagte, er fahre über die Grenze, um die Kinder eines befreundeten Ehepaars abzuholen und in die Schweiz zu holen. Also bin ich mitgefahren. Ich war dabei, als sich die Eltern von ihren Kindern verabschiedeten. Es war für mich sehr bewegend. Das Paar hat mich dann in seine Heimatstadt Lwiw begleitet. Das ist im Westen des Landes, rund 70 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. Dort versuchen derzeit Tausende von Menschen einen Zug nach Polen zu bekommen.

Liana und Ramil haben Gastautor Raimond Lüppken für einige Tage bei sich in Lwiw aufgenommen.
Liana Abramowa ist eine Journalismus-Studentin, die zusammen mit Raimond Lüppken Interviews am Bahnhof von Lwiw gemacht hat. (Bild: Raimond Lüppken)

zentralplus: Kamen Sie problemlos in die Stadt?

Lüppken: Ich habe morgens die Grenze zur Ukraine überquert. Die Stadt Lwiw ist eigentlich nur etwa 180 Kilometer entfernt, aber die Fahrt dauerte trotzdem bis zum frühen Abend. Einerseits sind die Strassen in einem schlechten Zustand und andererseits mussten wir auf dem Weg etliche Kontrollposten des Militärs passieren. Ich konnte mich mit den beiden auf Englisch unterhalten – und ich glaube, sie waren froh über die Ablenkung nach dem Abschied von ihren Kindern. Sie nahmen mich dann für ein paar Tage bei sich auf – im Schlafzimmer ihres Sohnes.  

zentralplus: Sind die Kinder gut in der Schweiz angekommen?

Lüppken: Ja. Ein regionaler Fernsehsender hat über ihre erfolgreiche Flucht berichtet. Ich habe mir den Bericht zusammen mit den Eltern angeschaut. Es war sehr berührend, da dabei zu sein.

zentralplus: Wie gefährlich ist die Situation derzeit für die Eltern?

Lüppken: Im Moment konzentrieren sich die Kämpfe auf den Osten der Ukraine. Lwiw liegt nah an der polnischen Grenze. Noch besteht die Hoffnung, dass die Russen die Stadt nicht angreifen, um den polnischen Luftraum nicht zu verletzen. In den letzten Tagen geht aber die Angst vor russischen Terroranschlägen um. Die Botschaft an die ukrainische Bevölkerung ist klar: Ihr seid nirgendwo sicher vor uns.

zentralplus: Was haben Sie in Lwiw vom Krieg mitbekommen?

Lüppken: In der zweiten Nacht gab es Fliegeralarm und wir mussten uns in einer Tiefgarage in Sicherheit bringen. Bei einem Angriff wird in allen Städten Alarm geschlagen, weil die Flieger sehr schnell sind. Nach 45 Minuten kam die Entwarnung. Die Familien haben sich dort aber für einen längeren Aufenthalt eingerichtet. Sie haben aus Holzpaletten Bänke gebaut und einen Holzofen aufgestellt, um sich zu wärmen, wenn sie länger ausharren müssen.

zentralplus: Wie ist die Stimmung tagsüber in der Stadt?

Lüppken: Von 22 bis 7 Uhr ist Sperrstunde, da darf keiner draussen sein. An meinem ersten Tag bin ich zum Bahnhof und habe dort die riesigen Mengen an Flüchtlingen gesehen (zentralplus berichtete). Hilfsorganisationen haben Dutzende von Zelten aufgestellt. Die Restaurants geben kostenlos Essen aus. Jetzt ist nicht die Zeit, um Geld zu verdienen, da scheinen sich alle einig zu sein. Die Flüchtlinge harren den ganzen Tag draussen in der Kälte aus. Wenn sie keinen Zug erreichen, kehren sie am Abend in eine der Massenunterkünfte zurück und versuchen am nächsten Tag ihr Glück.

Die Flüchtlinge warten am Bahnhof von Lwiw auf den nächsten Zug, der sie nach Polen und in Sicherheit bringt.
Die Flüchtlinge warten am Bahnhof von Lwiw auf den nächsten Zug, der sie nach Polen und in Sicherheit bringt. (Bild: Raimond Lüppken)

zentralplus: Was haben diese Bilder bei Ihnen ausgelöst?

Lüppken: Es hat mich sehr mitgenommen, die erschöpften Mütter mit ihren Kindern zu sehen. Sie waren teilweise schon tagelang unterwegs. Sie schliefen auf den Koffern, in die sie ihr ganzes Leben gepackt hatten.

zentralplus: Haben Sie schon mal etwas Vergleichbares erlebt?

Lüppken: Nein, ich bin kein Kriegsreporter, deshalb habe ich mich auch nicht in den Osten der Ukraine vorgewagt. In Lwiw ist die Situation vergleichsweise friedlich, aber man bekommt eine Ahnung, was Krieg bedeutet und was er mit den Menschen macht.

zentralplus: Wie ist die Hilfe vor Ort organisiert?

Lüppken: Ich war mit meiner Gastgeberin im Hauptquartier von Plast, der grössten ukrainischen Pfadfinder-Organisation. Auch sie organisiert Hilfe für die Menschen im Osten – wie das alle derzeit machen. Da sind junge Menschen in einer Telefonzentrale oder an Computern und koordinieren Hilfslieferung. Die Regale sind voll mit medizinischer Ausrüstung, Schlafsäcken, Isomatten und Lebensmittel, die auf Lastwagen geladen und durchs Land transportiert werden. Meine Sorge ist, dass diese Hilfe wegfällt, wenn sich der Krieg auf die ganze Ukraine ausweitet. Eindrücklich fand ich, dass die Leute bei der Arbeit Lieder gesungen haben, die sie sonst wohl am Lagerfeuer mit der Gitarre singen.

zentralplus: Bereiten sich die Menschen in der Stadt darauf vor, diese zu verteidigen?

Lüppken: Ja, und das fühlt sich aus westlicher Sicht komisch an. An einer Bushaltestelle hing beispielsweise ein Zettel, auf dem russische Fahrzeuge abgebildet waren. Darauf waren die Schwachstellen eingezeichnet, wo man die Molotowcocktails hinwerfen muss. Bei Häusern und Siedlungen stehen diese teils palettenweise bereit. Der zivile Widerstand ist vorbereitet, die Leute sind sich einig darin, dass sie selber handeln müssen, wenn das Militär nicht helfen kann. Dass sich normale Bürger so auf einen Kampf vorbereiten, ist für uns unvorstellbar, weil wir es uns gewohnt sind, in Frieden zu leben.

zentralplus: Wie sieht die Medienarbeit vor Ort aus?

Lüppken: Es hat sehr viele Journalisten in Lwiw, die Stadt ist voll davon. Alle, die nicht kampferprobte Kriegsberichterstatter sind, sind jetzt dort. Ich habe polnische, französische und deutsche Teams getroffen. Die Reporter ohne Grenzen sind dabei, dort das internationale Pressezentrum aufzubauen. Ich selber war mit einer jungen ukrainischen Journalismus-Studentin unterwegs und habe kurze Interviews mit den Menschen gemacht, die auf der Flucht sind.

zentralplus: Wie sind Sie von der Ukraine wieder zurück in die Schweiz gereist?

Lüppken: Es war um einiges schwieriger, als hin zu kommen. Ich bin erneut in Ungarn über die Grenze. Meine Gastgeber haben mir geholfen, über eine Mitfahrzentrale eine Rückfahrt zu organisieren. Diese war aber mit einem Umweg von fast 300 Kilometern verbunden. Es war eine ziemliche Tortur. Das hat mir bewusst gemacht: In der Schweiz regen wir uns auf, wenn der Zug fünf Minuten Verspätung hat, hier sind die Leute froh, wenn es irgendwie vorwärts geht.

An einer Haltestelle erklärt ein Flyer, wo sich die Schwachstellen der russischen Fahrzeuge befinden.
An einer Haltestelle erklärt ein Flyer, wo sich die Schwachstellen der russischen Fahrzeuge befinden. (Bild: Raimond Lüppken)

zentralplus: Wie war die Lage an der ungarischen Grenze?

Lüppken: Beim Grenzübergang war ich in einer Schlange mit den Frauen und Kindern, die das Land derzeit über diesen Weg verlassen. In Ungarn werden sie sehr freundlich empfangen. Es sind Dolmetscher vor Ort. Ein Gemeindezentrum wurde zu einer Verpflegungsstation umgebaut, es hat reihenweise Kinderwagen für die Mütter, die ihre Kinder bis dahin getragen haben. Die Flüchtlinge werden dann mit Bussen nach Budapest gefahren.

zentralplus: Jetzt sind Sie zurück. Was hat diese Reise mit Ihnen gemacht und wie geht es nun weiter?

Lüppken: Ich werde die beiden Kinder, die ich an der Grenze gesehen habe, besuchen. Und für mich steht fest, dass ich nochmals in die Ukraine fahren werde. Als Journalist sehe ich es als meine Aufgabe, den Menschen hier zu erzählen, was da passiert.

Verwendete Quellen
  • Telefonat und Mailverkehr mit Journalist Raimond Lüppken
  • Video Tele M1: Familie aus dem Seetal nimmt zwei Jugendliche auf
  • Artikel «Die Zeit»: Ungarn: Enorme Hilfsbereitschaft für Geflohene
  • Artikel «BBC»: Chaos and tears as thousands try to catch a train out of Ukraine
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