Wie eine Luzernerin sexuelle Belästigung erlebte

«Ich hatte Angst, die Situation noch schlimmer zu machen»

#MeToo hat einen öffentlichen Diskurs über sexuelle Belästigung losgetreten.

(Bild: Montage jav)

Aus einem Post wird eine weltweite Debatte, die die Medien beherrscht – die Rede ist von #MeToo. Nun wird rund um das Thema der sexuellen Belästigung der Schrei nach einem Pranger laut. Die Luzernerin Lorena Stocker hält davon, trotz eigener Erlebnisse, nichts.

Ein eindrücklicher Aufschrei geht seit Tagen durch die sozialen Medien und die Presse: #MeToo. Und alle wollen mitreden. Psychologen äussern sich, Opferberater, Gewaltberater und zahlreiche Journalisten und Blogger greifen das Thema in Kolumnen auf. Männer müssten mit ihren Söhnen reden, Zivilcourage sei gefragt, einige Stimmen fordern einen Pranger, Gegenstimmen werden laut, die Opfer werden lächerlich gemacht – es geht in alle Richtungen.

Doch nur wenige Frauen trauen sich, ihre eigene Geschichte zu erzählen und sich mit ihrem Gesicht in die Öffentlichkeit zu stellen. zentralplus wollte von Luzernerinnen, die #MeToo gepostet haben, wissen, was dahinter steht.

Die 20-jährige Lorena Stocker, Präsidentin der Juso Kanton Luzern, hat sich unseren Fragen gestellt.

zentralplus: Ihr #MeToo – wofür steht es?

Lorena Stocker: Es ging mir vor allem darum, zu zeigen, wie oft sexuelle Belästigung vorkommt. Aber natürlich hatte auch ich gleich mehrere Momente im Kopf, in welchen ich selbst betroffen war.

zentralplus: Was für Momente waren das?

Stocker: Es sind Erlebnisse, wie sie wohl fast jede Frau kennt. Im letzten Jahr war ich früh an einem Sonntagmorgen mit einer Freundin in einem leeren Zug-Wagon unterwegs, als sich ein Mann ins Abteil nebenan setzte. Nach einer Weile, als meine Freundin mir deutete, ich solle rüberschauen, sah ich, dass er sich einen runterholte, während er uns angrinste. Wir sind sofort aufgestanden und beim nächsten Halt ausgestiegen. Wir haben uns anschliessend ziemlich darüber aufgeregt, dass wir den Mann nicht konfrontiert haben.

zentralplus: Weshalb haben Sie den Mann nicht zurechtgewiesen?

Stocker: In dem Moment wollte ich einfach nur weg. Ich hatte auch Angst, die Situation noch schlimmer zu machen. Wir waren unsicher, ob der Mann nicht betrunken war, und wollten nicht riskieren, dass er aggressiv werden und uns körperlich angreifen könnte. Es war auch niemand im Zug, den wir hätten zu Hilfe holen können.

Doch schlimmer war das Erlebnis mit jemandem, der mir nicht fremd war.

«Ich wollte seine Rechtfertigungen nicht hören.»
Lorena Stocker

zentralplus: Was haben Sie da erlebt?

Stocker: Ich war bei einem Kollegen zuhause. Er hatte mir angeboten, dass ich bei ihm übernachten könne. Doch trotz mehrfachem «Nein» versuchte er immer wieder, mich zu küssen und anzufassen. Ich solle ihm doch etwas zurückgeben, als Gegenleistung für den Schlafplatz, meinte er. Er hat sich dann schliesslich angepisst schlafen gelegt und wir haben nie wieder darüber gesprochen. Er hat sich auch nie entschuldigt.

zentralplus: Und weshalb haben Sie ihn nie damit konfrontiert?

Stocker: Ich glaube, mir fehlte der Mut, es anzusprechen. Ich wollte es nicht nochmals durchleben. Zudem wollte ich seine Rechtfertigungen nicht hören, die ich mir gut vorstellen kann: der Alkohol, wahrscheinlich.

Millionen von Tweets

Einmal mehr ist das Thema der sexuellen Belästigung und des Sexismus im Fokus. Diesmal hat der Aufruf von Schauspielerin Alyssa Milano zu den Enthüllungen um den Hollywood-Filmproduzenten Harvey Weinstein die Debatte ausgelöst.

Die Reaktionen sind weltweit gewaltig. Innerhalb von wenigen Tagen werden über eine Million Tweets abgesetzt. Abertausende Frauen berichten von sexueller Belästigung und zeichnen mit dem Hashtag #MeToo ein trauriges Bild auf den Startseiten der sozialen Medien.

zentralplus: Wie würden Sie heute reagieren, sollten Sie wieder in eine solche Situation kommen?

Stocker: Ich denke, ich würde mich nicht mehr einfach zurückziehen, sondern die Person konfrontieren. Allerdings kann ich das auch nicht zu hundert Prozent sagen. Wenn der Moment wirklich kommt, ist es immer anders und einfacher gesagt als getan. Auf jeden Fall würde ich mir aber danach Hilfe holen oder mit einer vertrauten Person darüber reden, anstatt es für mich zu behalten.

zentralplus: Wie häufig erleben Sie das Thema in Ihrem Freundeskreis?

Stocker: Ich höre fast wöchentlich Geschichten von Belästigungen und Übergriffen von meinen Freundinnen. Im Club beispielsweise wird Frauen teilweise einfach zwischen die Beine gegriffen. Ich bin aber froh, dass in meinem Umfeld viel darüber diskutiert wird. Früher dachte ich, dass das sowieso keinen interessiert. Doch durch die Arbeit bei der Juso hab ich gelernt, nicht alles runterzuschlucken. Es tut gut, darüber sprechen zu können.

zentralplus: Doch bringt denn das etwas? Ist auch dieser Hashtag nur ein Trend auf den sozialen Medien? Eine Empörung, die bald wieder verflogen ist?

Stocker: Natürlich ist jetzt gerade ein grosser Aufschrei da, der sich nicht sehr lange halten wird. Doch jeder öffentliche Diskurs bringt das Problem stärker in den Fokus der Gesellschaft – jedes #MeToo regt den Diskurs an. Und das ist wichtig für Veränderung.

«Ich glaube nicht, dass eine öffentliche Anklage die Lösung des Problems ist.»
Lorena Stocker

zentralplus: Mario Stübi aus Luzern postete einen Artikel zum Thema und fordert: «Lasst euren Hashtags Taten folgen. Ich würde an eurer Stelle noch weiter gehen und Namen nennen – für etwas weniger ‹Harveys› in Luzern.» Was sagen Sie dazu? Braucht es einen Pranger?

Lorena Stocker

Lorena Stocker

Stocker: Das ist ein schwieriges Thema. Bestimmt hätten es einige verdient und vielleicht würde es bei wenigen auch etwas bringen. Doch ich glaube nicht, dass eine öffentliche Anklage die Lösung des Problems ist.

zentralplus: Was wäre denn nötig, damit sich tatsächlich etwas ändert?

Stocker: Es sind Strukturen in unserer Gesellschaft, die sich verändern müssen. Vor allem müssen wir ansetzen, wie wir als Frauen und Männer sozialisiert werden. 

zentralplus: Was heisst das konkret?

Stocker: Es fängt damit an, dass man Mädchen sagt, sie sollen nachts nicht alleine nach Hause laufen, oder keinen zu kurzen Rock tragen. Doch wir sollten nicht ihnen beibringen, wie sie scheinbar weniger Gefahr laufen, Opfer sexueller Belästigung oder von Gewalt zu werden. Wir sollten den Tätern beibringen, von Beginn weg die Grenzen zu akzeptieren, die von der Gegenseite gesetzt werden. Doch damit sich solche Strukturen verändern, braucht es viel Aufklärung, viele Gespräche und ein Bewusstsein für die Grenzen. Und das passiert nicht von einem Tag auf den anderen.

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