Im Wald mit «Hexer» Stefan Wiesner

«Ich habe wohl das ganze Entlebuch gekocht»

Stefan Wiesner ist nicht nur privat, sondern vor allem auch beruflich viel in der Natur unterwegs.

(Bild: pbu)

Stein, Holz, Moos oder Schnee: Was bei Spitzenkoch Stefan Wiesner auf dem Teller landet, bringen andere nicht einmal in die Nähe eines Kochtopfes. Manche nennen den «Hexer aus dem Entlebuch» deshalb einen Spinner. Unterwegs mit dem eigenwilligen Sternekoch, der sich selbst als «Sensibeli» bezeichnet.

«Nicht alle sehen es gern, wenn ich hier umherstreife. Aber das ist mir egal», sagt Stefan Wiesner, während er uns trittsicher über den feuchtweichen Untergrund der Entlebucher Moorlandschaft lotst. Wir waten geradezu über den mit Grün-, Braun- und Rottönen marmorierten Moosboden. «Man läuft wie auf einem Wasserbett», umschreibt es Wiesner, bevor er sich zwischen weissen Birkenstämmen hindurchschlängelt und einige Kleeblätter vom Waldrand pflückt.

Hier im Tellenmoos, einem seiner Lieblingsorte, einen guten Steinwurf von seinem Gasthof Rössli in Escholzmatt entfernt, fühlt sich Wiesner wohl. Hier ist er in seinem Element. Stundenlang könne er sich in der mystischen Moorlandschaft aufhalten. Immer auf der Suche nach neuen Zutaten für seine ausgefallenen Rezepte.

Viele seiner Ideen, die Menschen aus der ganzen Schweiz und dem angrenzenden Ausland ins hinterste Eck des Kantons Luzern locken, haben hier in der Entlebucher Unesco-Biosphäre ihren Ursprung. «Mittlerweile habe ich wohl das ganze Entlebuch gekocht», meint Wiesner und lässt dabei eines seiner eher spärlich gesäten Lächeln aufblitzen, während Hund Levi freudig über den Moorboden tanzt.

Das Tellenmoos, Moorlandschaft nahe Escholzmatt.

Das Tellenmoos, Moorlandschaft nahe Escholzmatt.

(Bild: Anja Sidler)

Stefan Wiesner pflückt Kleeblätter vom Waldrand.

Stefan Wiesner pflückt Kleeblätter vom Waldrand.

(Bild: pbu)

Mit Stein, Moos und Schnee zum Spitzenkoch

Belächelt wurde Wiesner oft. Spinner oder Esoteriker nennen ihn einige auch heute noch. «Das geht mir schon nahe», sagt er, der sich selbst als «Sensibeli» bezeichnet und seinen dicken Schutzpanzer nur selten ablegt. Wiesner bleibt sich aber treu. Er ist ein eigensinniger Mensch, der unbeirrbar seinen Weg geht – und das mit Erfolg. Heute gilt er mit seiner «avantgardistischen Naturküche» als einer der besten und ungewöhnlichsten Köche der Schweiz.

17 Gault-Millau-Punkte und einen Michelin-Stern hat sich der «Hexer», wie man ihn auch nennt, zwischenzeitlich erkocht. Wiesner ist definitiv ein Unikat. Was bei ihm auf dem Teller landet, bringen andere nicht einmal in die Nähe eines Kochtopfes: Stein, Holz, Farn, Moos, Torf, Teer und Stroh sind nur einige der Ingredienzen, mit denen Wiesner seine Gäste immer wieder aufs Neue zu verblüffen vermag.

Mit seiner «geräucherten Schneesuppe» zum Beispiel. Bei Schneefall entfacht Wiesner ein Feuer aus Lärchenholz. Die Schneeflocken nehmen die Aromen des aufsteigenden Rauchs an und sammeln sich in einem Gefäss über dem Feuer. Mit Rinderknochen und Gemüse wird dieses «aromatisierte» Schneewasser schliesslich zu einer Bouillon verkocht. Wiesner, ein Poet in der Küche.

Wenn die Welt auf der Zunge zergeht

Die starke Verbundenheit mit der Natur hatte Wiesner schon in seiner Kindheit. «Ich war ein schlechter Schüler», sagt er rückblickend. «Mit Rechnen und Deutsch hatte ich grosse Mühe. Die Schule war ein Albtraum für mich, viel lieber habe ich mich draussen aufgehalten.» Sein Lehrmeister war die Natur – und sie ist es bis heute.

Überall lauern Gerüche und Geschmäcke.

Überall lauern Gerüche und Geschmäcke.

(Bild: pbu)

«Die Küche ist tabulos.»

Kochen auf der Baustelle

Stefan Wiesner, Jahrgang 1961, wuchs in Escholzmatt im Entlebuch im elterlichen Gasthof Rössli auf. Nach der Kochlehre im «Chateau Gütsch» war er in verschiedenen Betrieben vorwiegend in der Stadt Luzern tätig. 1984 kehrte er ins «Rössli» zurück, 1989 übernahm er den Gasthof zusammen mit seiner Frau Monica. Zurzeit kocht er mit 17 Gault-Millau-Punkten und 1 Michelin-Stern.

Wiesner gilt als einer der originellsten Köche der Schweiz. In seine Kochtöpfe kommt alles, was er auf seinen Streifzügen findet. Hinter jeder verwendeten Ingredienz stehen eine Idee und eine Geschichte. So kocht er zum Beispiel mit Steinen eine Suppe, kombiniert diese mit Moos und lässt eine Forelle darin schwimmen.

Ab Dezember steht das neue Winter-Menü auf der Speisekarte. «Baustelle» heisst dieses und wartet wiederum mit einigen Sonderlichkeiten auf. Gekocht wird diesmal nämlich unter anderem mit Asphalt. Das «Rössli» ist allerdings kein reines Gourmet-Restaurant. Gut-bürgerliche Hausmannskost steht nach wie vor auf dem Speiseplan.

«Essen ist Kunst und kulturelle Technik zur Wissensaneignung», betont Wiesner, der die Welt über den Gaumen erkennen möchte, so wie wir das alle als Kinder gemacht haben, als wir uns einen Klumpen Dreck in den Mund schoben und genüsslich darauf herumkauten. Dieser unbefangene Weltzugang würde sich uns mit dem Älterwerden zunehmend verschliessen, meint der Koch-Philosoph.

«Für mich ist Essen zunehmend zu einer Sprache geworden», führt er aus. Holz essen? Wieso nicht, fragt Wiesner: «Mit Holzfässern wird ja Wein veredelt.» Mit Steinen kochen? Kein Ding, schliesslich ist Mineralwasser nichts anderes als Steinwasser. «Die Küche ist tabulos. Gourmet ist wie Theater, man geht hin, um Kultur zu geniessen. Den physischen Hunger stillt man in der Gaststube, den geistigen im Gourmet-Restaurant.» Wiesner, der Theaterregisseur. Das Servicepersonal, sein Ensemble.

Verloren im Gourmet-Dschungel

Stefan Wiesner ist ein poetisch-sinnlicher Künstler, stets gefangen in einem Dschungel aus Assoziationen. Kein Wunder, zog es den Feingeist eigentlich an die Kunstschule. Doch er wurde Koch. «Meine Eltern haben mir alles andere ausgeredet. So war das damals.» Wiesner sagt dies ohne Gräuel. Ein klein wenig Wehmut lässt sich seiner Stimme aber doch entnehmen. Der melancholische Grundtenor gehört zu seinem Wesen.

Die Lehre absolvierte er im «Chateau Gütsch» in Luzern. Danach tingelte Wiesner in der Stadt umher, von Restaurant zu Restaurant, ohne genau zu wissen, wonach er eigentlich suchte. Bis er bei Roman Stübiger im damaligen «Le Manoir» in der Luzerner Neustadt landete. «Stübiger hat mir die Augen geöffnet», sagt Wiesner. «Er hat mir gezeigt, was eine fadengerade Küche ist. Das war eine der prägendsten Zeiten für mich.»

1989, das Jahr, in dem die Berliner Mauer fiel, bedeutete auch für Wiesner einen Wendepunkt. Seine Eltern mussten das «Rössli» wegen Erschöpfung aufgeben. Der Sohn, damals 16-Punkte-Koch im «Le Manoir», hatte keine Wahl und sprang ein. Zusammen mit seiner Frau Monica übernahm er die mehr schlecht als recht laufende Landbeiz am südwestlichen Zipfel des Kantons. Wiesner war damals 27 Jahre alt.

«Hexer»-Werkzeug.

«Hexer»-Werkzeug.

(Bild: pbu)

Über Päckchen-Saucen zum eigenen Stil

«Ich hatte grundsätzlich keine Ahnung, wie so ein Betrieb zu führen ist», erinnert sich der heute 55-Jährige. In der Küche hielt sich Wiesner zu Beginn zurück, kochte so, wie es auch sein Vater getan hatte: währschafte, gut-bürgerliche Hausmannskost. «Er hat mit Päckchen gekocht, also tat ich das auch.»

Wiesners Kreativität wollte allerdings nicht in Zaum gehalten werden. 1997 war er die «Entdeckung des Jahres» im Gault-Millau. «Das war der Zeitpunkt, an dem es endgültig klick gemacht hat. Da fand ich zu meiner Natur-Küche.» Nach und nach sickerte seine Begabung aus ihm raus und mündete schliesslich in seinem ersten Kochbuch «Gold – Holz – Stein», das er zusammen mit Gisela Räber verfasste.

Das Buch habe vieles verändert, sagt er. «Von da an habe ich damit begonnen, meine Menüs genau zu rezeptieren. Mit Erscheinen des Buches habe ich meine eigene Identität erkannt. Es war für mich ein Blick in den Spiegel.» Weitherum erfuhr «Gold – Holz – Stein» hohe Anerkennung. Das Schweizer Fernsehen wurde auf Wiesner aufmerksam und drehte «Der Hexer aus dem Entlebuch». Dem Film hat Wiesner nicht nur sein Pseudonym zu verdanken, sondern auch finanziellen Erfolg: «Wir waren fast jeden Tag ausgebucht.»

Blick in Stefan Wiesners Atelier.

Blick in Stefan Wiesners Atelier.

(Bild: pbu)

Das Geheimnis von Grossmutters Kartoffelsalat

Wir lassen das Moor hinter uns und treten ein in Wiesners Universum. Direkt hinter dem «Rössli» hat er in einer alten Scheune sein Atelier eingerichtet. Es ist eine Mischung aus Bibliothek, Werkstatt, Parfum-Destillerie, Chemielabor und Stube. Unzählige Kräuter, Gräser, Metalle, Harze, Steine, Flechten, Hölzer und Instrumentarien lagern hier. In seinem Studierzimmer stapeln sich Bücher aus allen Sparten bis unter die Dachschräge.

«Mit meinen Menüs versuche ich, unterschiedlichste Kulturerrungenschaften der Menschheit zu erklären. Von Art Deco bis zum Kartoffelsalat der Grossmutter.»

Über die Jahre hat sich der Autodidakt ein immenses Wissen angeeignet: Botanik, Heilkunde, Mythologie, Geschichte, Literatur, Sensorik, Astronomie, Musik. Garniert mit viel Kreativität und Zutaten aus Bergen, Wäldern und Wiesen landet dieses gebündelte Wissen auf den Tellern der Gourmet-Gäste. Alljährlich kreiert Wiesner vier neue Mehrgänger – Frühling, Sommer, Herbst, Winter. Seinen Rhythmus bestimmen die Jahreszeiten.

«Mit meinen Menüs versuche ich, unterschiedlichste Kulturerrungenschaften der Menschheit zu erklären. Von Art Deco bis zum Kartoffelsalat der Grossmutter», erzählt Wiesner, der es sich auf dem Sofa bequem gemacht hat und seinen nicht wegzudenkenden Hut tief im Gesicht trägt. Mit besonnener Stimme schildert er sein aktuelles Vorhaben, eine Kochakademie auf die Beine zu stellen – eine Lehrstätte ganz nach seinem Geschmack.

Stefan Wiesners Bibliothek.

Stefan Wiesners Bibliothek.

(Bild: Anja Sidler)

Poet, Künstler, Koch: Es ist nicht einfach, Stefan Wiesner in eine Schublade zu stecken.

Poet, Künstler, Koch: Es ist nicht einfach, Stefan Wiesner in eine Schublade zu stecken.

(Bild: pbu)

«Essen in einer anderen Dimension»

Die Schüler sollen dort nämlich nicht nur das Kochen lernen, sondern all das, was für Wiesner einen guten Koch ausmacht: «Von der Pflanzenkunde über das Töpfern, Bierbrauen, Messerschmiden und Käsen bis hin zum Kaffeerösten und der Foodfotografie.» Dazu möchte er Sensoriker, Biochemiker, Alchemisten, Künstler und natürlich Köche als Dozenten rekrutieren.

Mittlerweile ist der Schweizer Kochverband (skv) federführend im Projekt. Doch Wiesner bleibt Initiant und wichtiger Botschafter. «Die Schule sollte so sein, wie ich es hier im kleinen Rahmen mache», so sein ambitioniertes Ziel. «Essen in einer anderen Dimension», nennt er das. Wenn alles gut läuft, dann werde diese Höhere Fachschule fürs Kochen in rund drei Jahren in einem ehemaligen Ferienheim in Heiligkreuz eröffnet.

«Ich brauche keine Pfanne, um zu wissen, ob eine Kombination funktioniert.»

Bis dahin wird Wiesner noch unzählige Skizzen angefertigt und mindestens so viele in den Papierkorb geworfen haben. Denn jedes Gericht, das den Weg auf die Speisekarte im «Rössli» findet, entsteht zunächst mit Stift und Papier. «Ich brauche keine Pfanne, um zu wissen, ob eine Kombination funktioniert», sagt er.

Hexer, Spinner, Erfinder, Poet, Rebell, Philosoph, Esoteriker, Alchemist, Künstler? Es fällt schwer, Stefan Wiesner in eine Kategorie zu pressen. Wahrscheinlich ist er von allem ein bisschen. Er selbst sieht sich «lediglich» als Koch, der immer weiter gehe, sich stets neu erfinde. Ein Koch, der nicht nur Wurst und Rösti auf die Teller bringt, sondern die ganze Welt.

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