Zuger Arzt ist über 80 Jahre alt – und macht weiter
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Seit einem halben Jahrhundert behandelt der 81-jährige Joachim Henggeler Patienten. Eigentlich würde er gerne aufhören – wäre da nicht der Ärztemangel.
Seit 47 Jahren ist Joachim Henggeler in Oberägeri als Hausarzt selbstständig. Obwohl er mit 81 Jahren schon längst im Pensionsalter ist, arbeitet er in einem 30-Prozent-Pensum im Gesundheitspunkt Oberägeri. Den Ort hat er 2020 auf Drängen der Gemeinde mit dem ähnlich alten Hausarzt Emil Schalch aufgebaut.
Henggeler würde sich gerne zur Ruhe setzten – doch das geht nicht.
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- wie sich sein Blick auf Patientinnen und Patienten verändert hat
- wieso er nicht aufhören kann – trotz seines Alters
Es ist Dienstagmorgen. Joachim Henggeler, den viele nur Jöchel nennen, war bereits mit seinen beiden Hündinnen draussen. Nun bellen sie, weil es an der Tür geklingelt hat. Henggeler öffnet sie, bittet freundlich herein.
zentralplus: Joachim Henggeler, als Sie 1977 die Praxis Ihres Vaters hier in Oberägeri übernahmen, hätten Sie wohl nicht gedacht, dass Sie auch im Jahr 2025 noch arbeiten werden?
Joachim Henggeler: Nein, eigentlich nicht. Mein Wunsch ist es, die Praxis abzugeben. Doch mein Verantwortungsgefühl ist gross. Es würde mir das Herz abdrücken, wenn Oberägeri keine medizinische Grundversorgung mehr hätte. Und trotzdem muss man sagen: Nach wie vor habe ich Spass an meinem Beruf. (Er schmunzelt.)
zentralplus: Sie finden also nicht, dass der Beruf Hausärztin verglichen mit anderen medizinischen Fachrichtungen unattraktiv sei?
Henggeler: Nein, ich finde diesen Bereich super. Er bietet so ein breites Spektrum. Dies trifft jedenfalls zu, wenn man sich interessiert und nicht abschottet. Als Hausarzt hat man viel mehr mit dem Mensch zu tun als in anderen Bereichen. Wir erfahren vieles im Gespräch. Wir haben von der Schilddrüse bis hin zur Psyche mit allem zu tun. Ich habe lange auch gynäkologisch gearbeitet und Hausgeburten gemacht. «Büezen», also Wunden nähen, machen wir älteren Ärzte noch immer selber. Auch begleite ich Menschen ab und zu palliativ. Das ist eine schöne Arbeit. Zunehmend findet jedoch im Hausarztbereich eine Fragmentierung statt, sodass Patientinnen schneller zum Spezialisten weiterverwiesen werden. Das ist bedauerlich.
zentralplus: Gibt es Patienten, die sie bereits seit Ihren Anfangszeiten als Arzt in Oberägeri begleiten?
Henggeler: Tatsächlich hatte ich schon vier Generationen der gleichen Familie bei mir. Mittlerweile ist die Pädiatrie jedoch ausgegliedert, was bedeutet, dass Kinder unter 12 Jahren nur noch in Notfällen zu uns kommen.
zentralplus: Was hat sich in den letzten fast 50 Jahren seitens der Patienten verändert?
Henggeler: Gewisse Leute sind heute fordernder. Es kann sein, dass ein junger Mensch drei Tage Kopfweh hat und dann eine Computertomografie verlangt. Früher hat man noch eher darüber diskutiert, ob das wirklich nötig sei. Heute kann es sich keiner mehr leisten, nein zu sagen. Wenn man eine Diagnose verpasst, ist der Jurist oft nicht weit. Und das wiederum generiert Kosten. Auch kommt es häufiger vor, dass Menschen keinen Checkup möchten, bei dem abgeklopft, gehorcht, geschaut wird. Vielmehr ist man an Laborwerten interessiert. Man will wissen, wie es der Schilddrüse geht, dem B12, dem Eisen. In solchen Fällen antworte ich: «Ich würde gerne Sie betreuen, nicht Ihren Laborwert.» Um eine verlässliche Diagnose machen zu können, muss ich mit den Patienten sprechen und diesen untersuchen. Auch etwas anderes fällt mir auf.
zentralplus: Ja?
Henggeler: So viele junge Suchtkranke wie jetzt hatte ich nie. Es gibt Jugendliche, die haben noch keine Lehre, nichts, aber schon Erfahrungen mit Kokain und anderen Substanzen und waren bereits zweimal in der Psychiatrie. Es gibt Leute, die sind 22 und beziehen schon IV. Viele Jugendliche scheinen den Belastungen des Arbeitsplatzes nicht gewachsen zu sein. Ob es an den Lehrmeistern liegt, die härter sind, oder an den Jungen, die weniger resilient sind, kann ich nicht sagen. Aber mir scheint, dass es seit Corona schlimmer geworden ist. Für viele müssen wir Psychotherapeutinnen suchen. Auch das ist nicht einfach.
Henggeler wird von einem Telefonanruf unterbrochen. Ein Hausarzt, der 20 Prozent im Gesundheitspunkt Oberägeri arbeitet, fällt aus. Ob Henggeler den Donnerstag übernehmen könne? Dieser blickt auf den Wandkalender, murmelt etwas vor sich hin und sagt dann zu. Begeisterung sieht anders aus.
Henggeler: Einen Tag einzuspringen ist in Ordnung. Insbesondere, da die Praxis am Tag darauf, Karfreitag, geschlossen ist. Da gibt es jeweils einen gewissen Stau. Ich werde mir also Mühe geben, mich am Tag davor einzulesen, denn ich kenne ja die meisten Patienten des zu vertretenden Arztes nicht. Nein zu sagen kommt für mich jedoch nicht infrage, da mein Verantwortungsbewusstsein zu gross ist. Ausserdem spielt immer auch die ökonomische Komponente rein. Wir brauchen den Umsatz.
zentralplus: Die Praxis ist für Sie ein finanzielles Risiko?
Henggeler: Emil Schalch und ich haben sehr viel Geld in die AG gebracht. Uns fehlen jedoch die Ärzte, um die Leistungen zu erbringen. Zwar haben wir von der Gemeinde eine Defizitgarantie. Sie war es schliesslich auch, die uns innig bat, das Ärztezentrum zu eröffnen. Dennoch kontrolliere ich jeden Abend, ob wir das Tagessoll eingebracht haben. Wenn ich sehe, dass jemand nur 10 Minuten verrechnet hat, obwohl der Patient über 30 Minuten da war, muss ich das nachtragen. Dieses Optimieren der Tarife entspricht mir eigentlich nicht, ist aber finanziell notwendig. Ich kann schlicht nicht mehr so sozial sein wie früher.
zentralplus: Was meinen Sie damit?
Henggeler: Bauern verfügten früher vor dem neuen KVG meist über keine Krankenkasse. Entsprechend kamen sie nur, wenn etwas Schlimmes war. Da liess ich die Fünfe oft gerade stehen und verrechnete nichts. Dafür erhielt ich immer wieder mal einen Hasen, Eier oder Butter.
zentralplus: Was wäre Ihr Wunsch für Ihr Gesundheitszentrum?
Henggeler: Wir möchten es verkaufen. Von der Gemeinde Oberägeri haben wir einen Leistungsauftrag. Es steht zur Diskussion, dass die Gemeinde eine eigene AG gründet und diese AG dann durch eine externe Betriebsgesellschaft organisatorisch führen lässt, die verschiedenenorts medizinische Praxen betreibt. Dazu hat die Gemeinde zunächst einen externen Berater beauftragt, der alles geschätzt hat. Über das Thema wird vermutlich an der kommenden Gemeindeversammlung diskutiert.
zentralplus: Einige ländliche Gemeinden im Kanton Zug haben seit Jahren Probleme, die medizinische Grundversorgung sicherzustellen. Allen voran Oberägeri. Warum ist es so schwierig?
Henggeler: Ich weiss es nicht. Gemäss einem gemeinderätlichen Beschluss erhalten wir 30'000 Franken im Jahr, um eine Nachfolgeregelung zu finden. Wir suchen und suchen, doch finden wir schlicht keine Ärzte, die hier arbeiten möchten. Gemäss OECD bräuchte es 0,8 Ärzte auf 1000 Einwohner. In Oberägeri kommen wir gerade mal auf 0,3. Gleichzeitig hat Walchwil 1,0. Die lokale Verteilung ist schlecht.
zentralplus: Gemäss einem Bundesentscheid von 2023 können Kantone selbstständig entscheiden, ob sie Ausnahmen machen wollen bei ausländischen Ärzte, damit diese schneller selbstständig an einem neuen Ort arbeiten dürfen. Der Zuger Regierungsrat hält jedoch an der bestehenden Gesetzesklausel fest. Gemäss ihm stehe der Kanton Zug insgesamt gut da, was die medizinische Versorgung angehe. Was halten sie davon?
Henggeler: Ich bin dafür, dass die Klausel über Bord geworfen wird. In der Region sind wir der einzige Kanton, der daran festhält, dass beispielsweise deutsche Hausärzte in Zug zuerst drei Jahre als Assistenzärzte arbeiten müssen, damit sie hier selbstständig sein dürfen. Wir hatten in den letzten Jahren sicher fünf ausländische Ärzte, die wir aus diesem Grund an Luzern und Schwyz verloren, wo die Regelung nicht mehr gilt.
zentralplus: Was bräuchte es sonst noch?
Henggeler: Es bräuchte Anreize, damit sich Hausärztinnen auch in ländlichen Gegenden niederlassen. Dies etwa mit Stipendien oder Rückzahlungsmodellen für jene, die sich verpflichten, eine bestimmte Zeit in einer ländlichen Zuger Gemeinde zu arbeiten. In Zukunft wird es vermutlich so, dass gewisse Tätigkeiten wie zum Beispiel Ohrenspülen, von einer ausgebildeten Pflegefachperson übernommen wird und nicht mehr von Ärztinnen.
zentralplus: Gehen wir davon aus, dass bald eine Lösung gefunden wird und Sie sich aus dem Berufsleben zurückziehen können. Worauf freuen Sie sich?
Henggeler: Dass ich mehr Zeit für meine Frau haben werde. Es tut mir für sie leid, wenn ich, wie diesen Donnerstag, spontan einspringen muss. Wenn ich aufhöre, bleibt mehr Zeit für Ausflüge, aber auch für die Hunde. Hobbys hingegen hatte ich nie. Ausser Wasserskifahren und eben meinen Beruf!