Zuger Start-up gegen die Pflegekrise

Von Swiss Re zur Pflege: Adalbert Koch plant die Revolution

Mit seinem neuen Pflegedienstleister «Seneca Projekt» ist Adalbert Koch bereits in Zug und Bern vertreten. Ein drittes Team in Zürich ist in Planung. (Bild: Adobe Stock/zvg)

Adalbert Koch hat Grosses vor. Mit seinem Start-up Seneca Projekt will er von Zug aus die ambulante Pflege in der Schweiz revolutionieren. Sein Vorbild sind die Niederländer.

«Man erkennt den Wert einer Gesellschaft daran, wie sie mit den Schwächsten ihrer Glieder
verfährt», lautet ein viel zitierter Spruch des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Gustav Heinemann. Im Angesicht der schwelenden Pflegekrise sind seine Worte hochaktuell (zentralplus berichtete).

Einer, dem die Situation in der ambulanten Pflege gehörig gegen den Strich geht, ist Adalbert Koch. Mit seinem Start-up Seneca Projekt will er von Steinhausen aus die Veränderung lostreten. Seine Vision? Pflegende, die nicht von einer Wohnung zur nächsten rasen. Die nicht mit der Stoppuhr die Zeiten für Duschen, Medikamentenvergabe und Co. festhalten müssen, damit die Krankenkassen zahlen.

Bei «Seneca» will man sich Zeit nehmen und den Kontakt zu Klienten und Angehörigen pflegen. Koch setzt auf flache Hierarchien, grosse Eigenverantwortung der Pflegenden und digitale Lösungen. Das Vorbild-Modell stammt aus den Niederlanden und trägt den ikonischen Namen «Buurtzorg». Doch Wissenschaftler und die Spitex Schweiz zweifeln, dass sich das Modell auf die Schweiz übertragen lässt.

Von der Swiss Re zur Pflege

Wer kennt sie nicht, die glitzernde 180 Meter hohe «Gurke», The Gherkin, in der Skyline von London? Ihr Hauptmieter ist bis heute die Schweizerische Rückversicherungs-Gesellschaft Swiss Re. Eine Versicherung der Versicherungen. Für ihre Konzernzentrale am Mythenquai in Zürich arbeitet Adalbert Koch seit 14 Jahren. Erst in der Kommunikation, später im Corporate Development. Warum beschäftigt er sich jetzt in der Pflege-Branche?

«Ich will unternehmerisch etwas aufbauen, das Gutes bewirkt.»

Adalbert Koch, Gründer von «Seneca Projekt»

«Als unsere Grossmutter Pflege brauchte, alleine zu Hause nach dem Tod ihres Mannes, habe ich begonnen, mich mit dem Thema zu beschäftigen», erinnert sich Adalbert Koch. Erst kam jedes Mal eine andere Pflegeperson der Spitex. Später, als die Grossmutter ins Heim musste, war klar, dass sie das eigentlich nicht wollte, erzählt der Familienvater aus Luzern.

Adalbert Koch, der Gründer von «Seneca», will die ambulante Pflege in der Schweiz ins 21. Jahrhundert befördern.
Adalbert Koch, der Gründer von «Seneca», will die ambulante Pflege in der Schweiz ins 21. Jahrhundert befördern. (Bild: zvg)

Der Mann von Swiss Re schaute sich privat eine Pflegefirma an, die zum Verkauf stand. Er war schwer überrascht, wie «manuell» die Bürokratie und das Dokumentieren in der Pflege verlaufe und wie «durchgetaktet» der Alltag sei. «Ich war mir sicher: Es muss etwas Besseres möglich sein», sagt Koch heute.

Bei seinen Recherchen stiess Koch auf «Buurtzorg», ein innovatives Pflegemodell aus Holland. Er trat mit den Gründern in Kontakt und liess sich das Modell mit dem Zungenbrecher-Namen erklären. Drei Jahre später trug der Kontakt Früchte. «Seit November 2022 sind wir der erste Partner von ‹Buurtzorg› in der Schweiz», sagt der Geschäftsführer und Gründer von «Seneca Projekt» stolz.

Die Holländer arbeiten in Teams

Was machen die Holländerinnen anders? Während die Spitex meist in privatrechtlichen Vereinen organisiert ist, die im kantonalen oder gemeindlichen Leistungsauftrag stehen, gibt es bei «Buurtzorg» Teams und Coaches. Zwischen einem und zehn Pflegende sind in einem Team und unterhalten selbst Kontakt zu Hausarztpraxen und Klienten. Sie können selbst organisieren, wann und wie viel sie arbeiten, bei Fragen wendet sich das Team an einen Coach.

«In den Niederlanden können sich die Pflegenden mehr Zeit nehmen.»

Adalbert Koch

Das Modell existiert seit 15 Jahren, beschäftigt in den Niederlanden 15'000 Pflegende und wurde fünfmal zum besten Arbeitgeber des Landes gewählt. Adalbert Koch war von der Idee sofort begeistert. «Die Pflegenden finden die Lösungen selbst, sie dürfen unternehmerisch sein.» Dazu sei das Unternehmen enorm effizient, gerade einmal 50 Personen führen die Administration.

Koch bemerkt, dass eine Pflege dieser Art nicht nur für Pfleger attraktiver ist, sondern Patientinnen hilft, schneller gesund zu werden. Oder seltener krank. «Unser Gesundheitssystem ist stark auf Effizienz ausgerichtet, dabei zählt jede Minute. In den Niederlanden können sich die Pflegenden mehr Zeit nehmen. Das wirkt sich positiv auf die Gesundheit der Klienten aus und letztendlich auch auf die Kosten.»

Aus Pflegern werden Bezugspersonen

Die Pflegenden sind bei «Seneca Projekt» angestellt, können aber selbstbestimmt arbeiten. Sie dürfen über ihr Pensum bestimmen und entscheiden, wie viel Zeit sie bei einem Klienten verbringen. Der Lohn ist nicht höher als üblich, dafür wirbt das Projekt mit der Freiheit, die Arbeit in Eigenverantwortung gestalten zu können.

Pflegende als Bezugspersonen für Klienten und Angehörige. So lautet die Vision von Adalbert Koch. Doch dafür brauchen die Pflegenden mehr Zeit. Wie soll das gelingen?

«Seneca» setzt in der Administration an – mit einer App und einem digitalen Backoffice. So können Pflegende entlastet werden und mehr Zeit bei den Klienten verbringen. Bis zu einem Drittel der Arbeitszeit eines Pflegers benötigt die manuelle Dokumentation der Arbeit bisher. Sie dient als Grundlage für die Abrechnung bei den Krankenkassen.

«Die Leistungen, die bei der Krankenkasse abgerechnet werden können, sind zeitlich sehr eng vorgegeben.»

Regula Jenni, Pflegefachfrau bei «Seneca Projekt»

Mit Regula Jenni und Petre Joder gibt es ein erstes kleines Team in Zug. Ein zweites besteht aus vier selbstständigen Pflegefachkräften im Kanton Bern, ein drittes in Zürich ist in Planung. Was auffällt: Fast alle teilnehmenden Pfleger sind bereits älter. Das sei gewollt, bestätigt Koch. «Unser Kernteam an Pionieren bringt Erfahrung und den Willen mit.»

Regula Jenni hofft auf ganzheitliche Pflege

Headhunting im Altersheim, so könnte man beschreiben, wie Regula Jenni zu «Seneca» kam. Die 63-Jährige aus Menzingen leitete im «Alterszentrum Dreilinden» seit vielen Jahren den Pflegedienst. «Aus Leidenschaft», erzählt sie. Bei einem Gespräch zur Pensionsvorbereitung fiel dem Coach aus Zürich auf, dass Jenni nicht ans Aufhören denkt. Und schlug ihr vor, Koch zu kontaktieren.

Die langjährige Pflegefachfrau arbeitet nun einen Tag die Woche bei «Seneca», vorerst in der Akquise. «Ich habe bereits Flyer in Hausarztpraxen verteilt und war im Kantonsspital bei der Patientenberatung. Alle, mit denen ich spreche, sind sehr interessiert», berichtet sie. Besonders bei Demenzerkrankten, die zu Hause leben, könne «Seneca» Angehörige entlasten.

Die Pflegefachkräfte Regula Jenni und Petre Joder bilden das erste Team des «Seneca Projekt» im Kanton Zug.
Die Pflegefachkräfte Regula Jenni und Petre Joder bilden das erste Team von «Seneca» im Kanton Zug. (Bild: zvg)

Jenni hofft, dass mit dem neuen Konzept eine «ganzheitliche» Pflege möglich ist. «Die Leistungen, die bei der Krankenkasse abgerechnet werden können, sind zeitlich sehr eng vorgegeben. Ein Duschvorgang ist mit 40 Minuten definiert, eine Medikamentenabgabe mit 10 Minuten.» Wenn eine Person aber demenzkrank ist, dauerten diese Vorgänge häufig sehr viel länger.

«Die elementaren Bedürfnisse können im Rahmen der Spitex gut abgedeckt werden», meint Jenni. Zu fragen, wie es der Patientin geht und was sie braucht, gehe hingegen meist unter.

Spitex Schweiz hält sich zurück

Adalbert Koch ist nicht der Erste, der mit dem «holländischen Modell» liebäugelt. Drei Schweizer Spitex gaben im Jahr 2016 eine Studie in Auftrag, die Übertragbarkeit des Modells auf die Schweiz zu untersuchen. Die Forscher äusserten sich zwei Jahre später verhalten: Interessant sei «Buurtzorg» zwar. Doch eine 1:1-Übertragung auf die Schweiz sei aus finanziellen und kulturellen Gründen nicht möglich.

«Es ist wichtig, dass die Pflegefachpersonen der Spitex eine grosse Autonomie haben.»

Marianne Pfister, Co-Geschäftsführerin der Spitex Schweiz

Ähnlich sieht es auch die Co-Geschäftsführerin der Spitex Schweiz, Marianne Pfister. Es gäbe zu grosse Unterschiede hinsichtlich «Kultur, Struktur, Rahmenbedingungen und Gesetzen». Besonders hinsichtlich der Finanzierung durch die Krankenkassen. In den Niederlanden sind, laut Studie, sehr viel mehr Pflegeleistungen Teil der obligatorischen Krankenversicherung als hierzulande.

Doch die Idee hinter dem Modell «Buurtzorg» begrüsst auch die Spitex. «Es ist wichtig, dass die Pflegefachpersonen der Spitex eine grosse Autonomie haben, damit sie vor Ort auf die individuellen Situationen reagieren können», meint Pfister. So hätten viele kantonale Spitex die Idee von flachen Hierarchien und stärkerer Nähe zum Klienten bereits aufgenommen. Konkurrenz fürchtet die Spitex Schweiz nicht, die Nachfrage nach Spitexleistungen sei enorm.

«Seneca» will Spitex keine Konkurrenz machen

Auch Adalbert Koch sieht sich nicht als Konkurrenz zur Spitex. «Wir wollen eine Ergänzung sein, eine Alternative», erklärt er. Jetzt gehe es in erster Linie darum, herauszufinden, wie viele Pflegende in der Schweiz eigenverantwortlich und unternehmerisch arbeiten möchten.

Um das Projekt voranzutreiben, hat sich Koch die letzten zwölf Monate unbezahlten Urlaub bei der Swiss Re genommen. Im Februar hat er im Start-up-freundlichen Steinhausen eine Aktiengesellschaft eintragen lassen. Im Handelsregister heisst es, die Firma sei «sinnorientiert», Gewinn werde als «Mittel zum Zweck betrachtet».

«Wir müssen die Kosten sehr gut im Blick behalten», betont der optimistische Gründer. An der Finanzierung seien die meisten ähnlichen Projekte in der Schweiz gescheitert. Wohl um sich abzusichern, beginnt Koch ab Januar wieder Teilzeit bei der Swiss Re zu arbeiten – vorerst. Denn der Traum ist klar: «Unternehmerisch etwas aufzubauen, das Gutes bewirkt.»

Verwendete Quellen
  • Eintrag im Handelsregister Zug
  • Telefonat mit Marianne Pfister, Co-Geschäftsführerin Spitex Schweiz
  • Website von «Seneca»
  • Telefonat mit Adalbert Koch, Geschäftsführer und Gründer von «Seneca»
  • Website von «Buurtzorg»
  • Telefonat mit Regula Jenni, Pflegefachfrau und erste Pflegerin von «Seneca»
  • Website der Fachhochschule Nordwestschweiz zur zitierten Studie
  • Schriftlicher Austausch mit Enrico Cavedon, Studienautor der Fachhochschule Nordwestschweiz
  • Website der Spitex Schweiz
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