Querschnittsgelähmt – und dann? Zwei Männer testen neue Wege
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Mit Activ360 bieten Philipp Rüf und Simon Züst in Rothenburg Trainingsformen nach US-amerikanischem Vorbild an, die vor allem die nicht mehr ansteuerbare Muskulatur trainieren. Die beiden Direktbetroffenen verstehen ihr Angebot als Ergänzung zum bestehenden Therapieangebot für Querschnittsgelähmte.
Unglücklich verunfallt sind sie beide. Philipp Rüf hat sich 2020 infolge eines missglückten Kopfsprungs ins Wasser eine Tetraplegie mit Lähmung bis auf Brusthöhe zugezogen. «Auf meinen Unfall will ich nicht eingehen», sagt der im selben Jahr zum Paraplegiker gewordene Simon Züst. «Es ist einfach sehr dumm gelaufen.»
So wie eben in den meisten Fällen. Beide waren sie in der Folge in Nottwil (LU), wo sie sich kennengelernt haben. Im Paraplegiker-Zentrum werden 60 bis 70 Prozent aller schweizweit von Paraplegie und Tetraplegie Betroffenen nach ihren Unfällen und Krankheiten behandelt.
Und nun sitzen sie beide im Rollstuhl in ihrem grossen Trainingsraum Activ360 an der Stationsstrasse in Rothenburg, gar nicht so weit weg vom Schweizer Paraplegiker-Zentrum. Ein Zufall ist das nicht.
Fünf gebündelte Trainingsformen, die so kombiniert neu sind in der Schweiz
Sie bieten eine ergänzende Therapie mit fünf gebündelten Trainingsformen, die ganz gezielt jene Muskeln, Nerven, Sehnen und Bänder trainieren, die aufgrund des schwer verletzten Rückenmarks nicht mehr ansprechbar sind. Die Betroffenen haben kein Gefühl in diesen Körperbereichen. Währenddessen richten sich konventionelle Therapieformen vor allem an die funktionstüchtigen Körperbereiche.
«Heute einem verunfallten Skifahrer zu sagen, dass er nie mehr läuft, ist verantwortungslos», sagt Simon Züst. Der aus dem Zürcher Oberland stammende gelernte Elektroinstallateur mit Zusatzausbildungen sagt weiter: «Die Neuromedizin und die Therapieformen entwickeln sich derart rasch, dass eine Betroffene in naher Zukunft trotzdem wieder gehen kann. Nur müssen Knochen, Muskulatur, Nerven, Sehnen und Bänder dann dafür bereit und nicht verkümmert sein.»
Eigenverantwortlich ausgeübte Wiederherstellungstherapie
Der aus der Ostschweiz stammende Betriebswirt und Digital-Marketing-Spezialist Philipp Rüf stösst ins gleiche Horn. Man müsse die Sache selbst in die Hand nehmen. «Dass Betroffene für Betroffene innovative Therapien anbieten, ist hierzulande die Ausnahme.»
Beide kennen sie das Reha-Angebot Nottwil von innen. Doch so einen richtigen «Mind Blow», so Rüf, hätten sie in den USA erlebt. Weil das Gesundheitssystem dort auf viel mehr Eigenverantwortung abstützt, müssen sich Querschnittsgelähmte ganz anders helfen, nämlich mit eigens entwickelten, möglichst auf Wiederherstellung ausgerichteten Therapieformen.
Beide haben in Kalifornien über längere Zeit fast täglich trainiert und konnten dadurch spürbare Fortschritte in der Rumpfmuskulatur und den unteren Extremitäten erzielen. «Das war nicht nur körperlich, sondern auch mental sehr anstrengend, die motorische Steuerung im Gehirn wurde enorm angeregt. Über die dreieinhalb Monate hat mich das sehr ermüdet», so Simon Züst.
Amerikanischer Trainingstherapeut zu Besuch in Rothenburg
«Hi, my name is Jeff», begrüsst einen denn auch gleich der Therapie-Guru, der eigens aus Los Angeles eingeflogen ist, um zwei frisch angestellte Physiotherapeutinnen an der selbst entwickelten «Mobility Activation Station» zu instruieren. Jeff Lefkovic ist nun eine ganze Woche hier, um den klassisch ausgebildeten Physiotherapeutinnen Mareike von Euw und Petra Grünenfelder diese unkonventionellen Trainingsmethoden näherzubringen.
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Denn diese arbeiten hier mit Patienten, deren Körper teilweise bis zu 70/80 Prozent funktionsuntüchtig sind. Zum Vergleich: In der gängigen Physiotherapie, die sich an über 99 Prozent der Bevölkerung richtet, sind nur zwei bis fünf Prozent der Körperfunktionen eingeschränkt. Verständlicherweise sind im Therapieprogramm von Activ360 ganz andere Herangehensweisen gefragt, um die Genesung der Patientinnen zu unterstützen.
Im Anfang Dezember 2024 eröffneten Trainingscenter Activ360 im vierten Stock eines neuen Gewerbegebäudes mit barrierefreiem Zugang hat sich bis jetzt am frühen Montagmorgen noch keine Kundschaft eingefunden. Der Betrieb steckt noch in der Aufbauphase. Die Geräte sind aber bereits in Betrieb genommen und werden lediglich noch durch kleinere Anschaffungen ergänzt.
Schlingentherapie, Vibrationsplattentraining und Elektrostimulation
Das «Push the Limit – Verschiebe deine Grenzen»-Trainingsgprogramm besteht aus fünf Teilbereichen. In der Schlingentherapie geht es zunächst mal darum, durch Schlingen das Körpergewicht zu reduzieren, wodurch Bewegungen der unteren gefühllosen Regionen möglich werden.
Als Zweites kann das Vibrationsplattentraining dazu führen, die Nervenbahnen der gefühllosen Partien des Rückenmarks zu aktivieren, was zu einer erhöhten Neuroplastizität, also einer verbesserten Funktionsbereitschaft der nicht mehr angesprochenen Nervenfunktionen, führt.
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Als drittes Element kann die Elektrostimulation ganz gezielt Muskeln durch elektrische Impulse kontrahieren und so ebenfalls Muskelkraft aufbauen. Und zwar auch, ohne dass die Person diese Muskulatur durch spezifische Bewegungen anspricht.
Gezielter Sauerstoffentzug und spezifische Reize in hoher Frequenz
Das vierte Element ist die Hypoxie, wobei diese Behandlungsform meist am Anfang eingesetzt wird. Hier wird der Luft bei der Einatmung sechs bis neun Prozent Sauerstoff entzogen, wodurch ein Höhentrainingseffekt entsteht. Dadurch wird nachweislich das Zentralnervensystem angeregt.
Als fünfter Teilbereich folgt dann das spezifische Training der Körperteile, die nicht mehr funktionieren, und zwar in hoher Frequenz mit steigender Intensität. Es geht darum, diese Körperregionen unterhalb der Läsion respektive der Verletzung möglichst stark zu erregen. So gibt es entsprechende Trainingsresultate.
Medizinische Massagen lösen belastende Verkrampfungen
Das ganze Trainingsprogramm wird ergänzt durch ein Angebot für medizinische Massage, um die angespannte Muskulatur wieder zu lösen. Das ist genau das, was ein Querschnittsgelähmter jeweils gar nicht bemerkt, weil hier die Nervenbahnen beschädigt sind. Er fühlt sich einfach unwohl.
Die beiden Gründer und Inhaber von Activ360 finden, das Training müsste mehrmals pro Woche angewandt werden, um einen wirklich optimalen Effekt zu erzielen. Wer das mache, sei danach in der Regel erschöpft, aber glücklich. «Die meisten, die unser Angebot bis jetzt getestet haben, möchten das Training weiterführen», so Philipp Rüf.
Doch sei das auch eine finanzielle Frage. Er erwartet innert der nächsten zwei Monate, dass das Training als Physiotherapie anerkannt wird, was Abhilfe schaffen würde. Gleichzeitig möchten die beiden mithilfe von Sponsoren und Gönnerinnen einen Topf bilden, aus dem Trainingswillige mit begrenzten Finanzen unterstützt werden können.
Bereitschafts- und Präventivtraining
Die beiden Querschnittsgelähmten erwähnen ein Problem, das der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt ist. Mit zunehmendem Alter haben Querschnittsgelähmte nämlich öfter mit Knochenbrüchen zu kämpfen, weil die Knochen sich infolge Nichtgebrauchs zurückgebildet haben.
Mit dem Training, das sie mit Activ360 anbieten, lassen sich nicht nur das Wohlbefinden spürbar steigern, die Funktionstüchtigkeit verbessern und die Bereitschaft herstellen, wieder gehen zu können. Es wirkt eben auch präventiv, denn so bildet sich die Muskulatur nicht nur zu normalem Bindegewebe zurück, die Knochendichte bleibt ebenso durch stete Belastung erhalten.
Jetzt braucht es vor allem noch mehr Anlaufzeit
Wie Simon Züst betont, kann ihr Trainingszentrum auch nicht alles leisten. «Leute, die beispielsweise ihre Hände wieder funktionstüchtig machen wollen, verweisen wir auf das Paraplegiker-Zentrum Nottwil.» Noch befindet sich das Activ360 in Rothenburg in der Aufbauphase. Es werden weitere innovative Gerätschaften und Technologien angeschafft, ein Exoskelett eines Schweizer Start-ups ist bereits bestellt.
Zudem pflegen Philipp Rüf und Simon Züst den Kontakt zu führenden Neurowissenschaftlern, Koryphäen in der Elektrostimulation und zu Hochschulen wie der ETH in Zürich oder zu ihrem Pendant, der EPFL in Lausanne.
Wichtiger ist jetzt aber, das Angebot bekannt zu machen, damit es richtig ins Laufen kommt und die Physiotherapeutinnen gut ausgelastet sind. Aussergewöhnlich viele Direktbetroffene haben sich nach der Rehabilitation im SPZ Nottwil in der unmittelbaren Umgebung des Sempachersees niedergelassen. Rothenburg verfügt über das ideale Einzugsgebiet.
Jetzt braucht es nur noch Zeit, damit sich die Klientel vom Nutzen des Angebots überzeugen kann.
- Medienmitteilung des Therapiezentrums Activ360
- Persönliches Gespräch mit Simon Züst und Philipp Rüf und Augenschein vor Ort