Jana* ist 24 Jahre alt, leidet unter einer diagnostizierten Angststörung und ist depressiv. Während der Pandemie lief ihr Leben aus dem Ruder, woraufhin sie sich professionelle Hilfe suchte und ihre Diagnose erhielt. Damals wartete sie zwei Monate auf den ersten Termin.
Sie bezeichnet dies als Glück, denn viele junge Luzerner und Luzernerinnen warten länger auf einen Therapieplatz. Im Verlauf der Therapie äusserte Janas Therapeutin den Verdacht, dass ihre Depression und Angststörung Folgeerscheinungen einer bisher noch nicht erkannten Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) sein könnten.
Weiterlesen, sonst verpasst du:
wie sich Jana während der Wartezeit fühlt
was ein Chefarzt der Luzerner Psychiatrie zur momentanen Lage sagt
wann mit einer Entspannung der Therapieplatzsituation zu rechnen ist
«So lange auf Hilfe zu warten, war hart»
Deshalb braucht die junge Luzernerin jetzt einen Termin für eine ADHS-Abklärung. Der Termin dafür ist für den Juli 2025 geplant. «Insgesamt muss ich also rund sieben Monate auf den Termin warten», erzählt Jana. Auch hier habe sie Glück. Abklärungen dieser Art hätten teilweise Wartefristen von über einem Jahr.
Die Wartezeit während der Pandemie und jetzt für die Abklärung empfindet Jana – obwohl sie sich glücklich schätzt, relativ «schnell» einen Therapieplatz gefunden zu haben – als sehr frustrierend. Für sie war der Leidensdruck sehr hoch und bereits zwei Monate Wartezeit hätten sich angefühlt wie eine Ewigkeit. «So lange auf Hilfe zu warten, war hart.»
Wartezeiten bis zu neun Monate sind in Luzern normal
Ihre Erfahrung sei keineswegs ein Einzelfall. Viele Personen in ihrem Umfeld würden zwischen vier und sechs Monate auf einen Termin bei einem Therapeuten warten. Die Wartelisten im Kanton Luzern seien voll.
Dies bestätigt Oliver Bilke-Hentsch, Chefarzt des Luzerner Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes (KJPD), auf Anfrage. Kinder und Jugendliche würden im Kanton Luzern in der Regel drei bis neun Monate auf den Start ihrer Therapie warten. Zum Vergleich: Erwachsene würden im Normalfall innert sechs bis sieben Wochen einen Therapieplatz finden, so der Chefarzt.
Wie überall in der Medizin müsse man Patienten triagieren. Für absolute Notfälle finde sich stets sofort ein Termin. Bei weniger akuten Störungsbildern müssten Betroffene hinten anstehen. Auch wenn dies für viele negative Folgen mit sich ziehen kann, wie das Beispiel von Jana zeigt.
Dass sich für gewisse Patientinnen aufgrund der Triage der Leidensdruck erhöhe, lasse sich leider nicht vermeiden, führt Bilke-Hentsch aus. Doch gebe es auch positive Aspekte in der verzwickten Situation: «Betroffene Familien entdecken aufgrund der Wartezeiten vermehrt eigene Ressourcen.»
Bei psychisch kranken Kindern und Jugendlichen spiele das soziale Umfeld oder die Schule des Öfteren eine zentrale Rolle. Hänge das Störungsbild stark von dieser Umgebung ab, würden viele Familien aufgrund der Wartezeit Veränderungen in der Umgebung in Betracht ziehen. So komme es immer wieder zu Verbesserungen der Symptomatik – ganz ohne Therapie.
Therapeuten sind Mangelware
Der Chefarzt nennt den Grund hinter dem Wartelistenproblem klar beim Namen: «Im Kanton Luzern gibt es zu wenig Therapeuten und Therapeutinnen.» Im Landesvergleich befinde sich Luzern in Bezug auf Erwachsenentherapieplätze im unteren Mittelfeld. Bei den Kindern und Jugendlichen sei der Kanton ganz tief unten zu finden.
Dies, obwohl der KJPD schweizweit die 5. grösste Institution in diesem Fachbereich ist.
Aufgrund der fehlenden Fachkräfte ist das Thema immer mal wieder auf dem politischen Parkett präsent. Jüngst lancierte die Mitte Emmen einen Vorstoss zur Sicherstellung der gesundheitlichen Grundversorgung. Ein besorgniserregender Aspekt: Wartezeiten für Therapieplätze und fehlende Therapeutinnen im Kinder- und Jugendbereich. Auch das Luzerner Jugendparlament beschäftigte sich schon mit der Thematik (zentralplus berichtete).
Die Emmer Mitte-Einwohnerrätin Esther Wüest führt auf Anfrage aus, dass über die Hälfte aller in der Gemeinde praktizierenden Fachärzte der Psychiatrie sowie der Kinder- und Jugendpsychiatrie älter als 60 Jahre alt sei. Deren demnächst bevorstehende Pension dürfte die Unterversorgung also weiter zuspitzen und die Wartelisten wachsen lassen.
Zentralschweiz hat ein Strukturproblem
Um diesem Problem entgegenzuwirken, sieht Chefarzt Bilke-Hentsch drei zentrale Lösungsansätze: schnellere Früherkennung und Prävention, eine bessere Vernetzung und mehr Fachpersonal. Insbesondere Lehrpersonen sollten besser geschult werden, dass schwere Störungsbilder so früh wie möglich erkannt würden.
Zudem sollten Betroffene und das behandelnde Fachpersonal besser vernetzt werden. Aber auch die Vernetzung unter dem Fachpersonal und mit involvierten Institutionen bedürfe einer Verbesserung. Es würde bereits stark helfen, könnten behandelnde Therapeuten Aufwände für Überweisungen verrechnen.
«Die Zentralschweiz hat ein Strukturproblem», sagt Bilke-Hentsch. Dieses beginne in der Ausbildung. Bis vor Kurzem habe es in der Region keine Studienplätze für angehende Ärzte und Psychologinnen gegeben. Zudem sei die Entlöhnung für in Luzern arbeitende Therapeuten im schweizweiten Vergleich tief.
Entspannung in Sicht?
In den vergangenen Jahren habe es jedoch eine positive Entwicklung gegeben. Der Kanton betreibe einen grossen Aufwand, um die Situation zu verbessern. Mittlerweile sei in Luzern ein Medizin- sowie ein Psychologiestudium möglich. Zudem seien in den vergangenen beiden Jahren 30 neue Therapeutinnen zum Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst gestossen.
Ein Licht am Ende des Tunnels – laut dem Chefarzt dürfte eine Entspannung der Therapieplatzsituation bevorstehen. Er wagt einen Blick in die Zukunft: «Hält die positive Entwicklung an, sind wir bis 2030 einen riesigen Schritt weiter.»
ist seit Sommer 2024 als Praktikant für zentralplus tätig. Der gebürtige Luzerner schrieb in seiner Zeit als Geschichtsstudent vorwiegend über Vergangenes in fernen Ländern. Bei zentralplus findet er die zeitliche und geographische Nähe zur Heimat wieder und berichtet am liebsten über lokale Kuriositäten.