Zahlungen sind nicht mehr sicher

Chefarzt der Psychiatrie sorgt sich um Patienten

Die Anzahl an Patienten in psychiatrischer Betreuung steigt seit Jahren. Jetzt sind mehr als 10'000 Therapieplätze in der Schweiz gefährdet. (Bild: Adobe Stock)

Einige der grössten Versicherer des Landes stoppen die Zahlungen für Therapien durch Psychologen in Weiterbildung. Über 1'000 Therapieplätze könnten wegfallen. Oliver Bilke, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Luzern, ordnet ein.

«Entschuldigung, alle unsere Mitarbeiter sind besetzt. Im Moment erreichen uns unfassbar viele Anfragen.» Dann ein Piepton. So in etwa beginnt fast jede Psychotherapie in der Schweiz. Denn psychiatrische Einrichtungen sind chronisch überlastet (zentralplus berichtete). Mitarbeiter der Zuger Psychiatrien klagten gar von prekären Zuständen (zentralplus berichtete).

Dass Therapien zukünftig von der Grundversicherung gedeckt werden, sorgte im Sommer für Freudentaumel. Der Schritt schien die passende Massnahme in Zeiten von Überbelastung und Fachkräftemangel. Doch jetzt Ernüchterung. Santésuisse, einer der grössten Versicherungsverbände der Schweiz, stoppt die Zahlungen für viele Therapien.

«Seit Sommer kann jeder Arzt zehn Stunden Psychotherapie anordnen.»

Oliver Bilke, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Luzern

Therapeutinnen in Weiterbildung sind seit Sommer nicht mehr abrechenbar, die «gesetzliche Grundlage» fehle, argumentiert der Verband. Über 10'000 Therapieplätze stehen auf dem Spiel, titelt der «Tagesanzeiger» am Dienstagmorgen. Auch in Luzern und Zug?

Systemwechsel mit Folgen

Der 1. Juli 2022 war für Therapeutinnen eine Zeitenwende. Künftig würde eine Therapie von der Grundversicherung übernommen, sofern sie von einem Arzt angeordnet würde (Anordnungsmodell). Zuvor zahlten Krankenkassen nur, wenn die Psychotherapeuten bei einem Arzt angestellt waren (Delegationsmodell).

«Seit Sommer kann jeder Arzt zehn Stunden Psychotherapie anordnen. Wie das auch für Physiotherapie oder Massagen gilt», erklärt Oliver Bilke, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienste der Luzerner Psychiatrie (Lups). Durch die Umstellung können Versorgungsengpässe in Krisen- und Notfallsituationen reduziert werden, erklärte der Bundesrat jüngst.

Oliver Bilke-Hentsch übernahm am 1. November 2019 die Leitung der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienste der Luzerner Psychiatrie. (Bild: zvg)

Noch kein halbes Jahr eingeführt, schon weigert sich der Verband Santésuisse, Therapien von Psychologinnen in Weiterbildung zu zahlen. Fast die Hälfte aller Schweizer sind bei dem Verband versichert. Die Weiterbildung ist die Ausbildung eines Therapeuten im Anschluss an ein Universitätsstudium. Während dieser Zeit sammelt der Therapeut klinische Erfahrung.

Oliver Bilke hat kein Verständnis für Santésuisse: «Die Psychologen in Weiterbildung sind keine Lehrlinge. Sie sind meist um die 30 und machen seit zwölf Jahren Psychologie.» Der Verband Santésuisse argumentiert, dass bisher der behandelnde Arzt als Leistungserbringer galt. Mit der Umstellung auf das neue Modell fehle jetzt eine gesetzliche Grundlage.

Andere Versicherungen zahlen weiter

«In der Klinik ist die psychologische oder ärztliche Leitung für die Psychologen in Weiterbildung verantwortlich», führt Bilke aus. So sieht es auch die Föderation Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP). Auf Anfrage von «Tamedia» verweist sie auf ein Schreiben des Bundesamts für Gesundheit (BAG). Dort heisst es, die Aufsichtsperson für einen Therapeuten in Weiterbildung sei der Leistungserbringer.

«In meinen Augen ist das eine weitere aktuelle Verhandlungsposition, welche die Santésuisse jetzt einnimmt.»

Oliver Bilke, Chefarzt Lups

Auch andere Versicherungen zahlen weiter. Helsana, KPT und Sanitas haben mit den Verbänden der psychologischen Psychotherapie und dem Spitalverband H+ einen Tarifvertrag abgeschlossen. Auch die CSS zahlt, trotz «rechtlicher Unklarheiten», wie es heisst. Der Branchenverband Santésuisse weigert sich.

«Seit zwei Jahren wird zwischen den Beteiligten verhandelt. In meinen Augen ist das eine weitere aktuelle Verhandlungsposition, welche die Santésuisse jetzt einnimmt», findet Oliver Bilke. Sorgen bereiten ihm die Patienten. Sie seien jetzt «sehr verunsichert», was für Menschen mit psychischen Belastungen umso schlimmer sei.

Die Luzerner Psychiatrie streicht keine Therapieplätze

Glücklicherweise ist die Luzerner Psychiatrie von Therapieabbrüchen nicht betroffen. «In unserer Klinik ist die Finanzierung der Therapeuten in Weiterbildung bis jetzt kein Problem», so Bilke. Dazu komme, dass zwei Drittel der Therapeuten der Lups ausgebildet seien und nur ein Drittel in Weiterbildung sei.

Auch die «Klinik Zugersee» gibt Entwarnung. Von dem Schritt seien vorwiegend Ambulatorien betroffen. Die Klinik mit ihrer stationären Ausrichtung sei daher nicht von Finanzierungsproblemen gefährdet. Doch andere Probleme grassieren.

«10'000 Patienten und 1'500 Psychologinnen in Weiterbildung sind betroffen.»

Föderation Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP)

Besonders im Herbst sind die Stationen ziemlich ausgelastet und das Personal ist seit der Pandemie sehr belastet, meint Bilke. «Der Anteil an Menschen, die in psychologische Behandlung kommen, steigt schon seit vielen Jahren. Corona hat diesem Trend nur den letzten Kick gegeben.» Besonders junge Frauen seien davon betroffen, 90 Prozent auf der Akutstation sind Mädchen.

Die Föderation Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP) schätzt, dass von dem Schritt der Santésuisse schweizweit über 10'000 Patienten betroffen sind. Sie befinden sich bei 1'500 Psychologinnen, die in Weiterbildung sind, in Behandlung.

Verwendete Quellen
  • Artikel im «Tagesanzeiger»
  • Website der Luzerner Psychiatrie
  • Telefonat mit Oliver Bilke, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienste der Luzerner Psychiatrie
  • Schriftlicher Austausch mit der Klinik Zugersee
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