Zuger Psychiatrie-Chefarzt zum Corona-Virus

«Wir können nicht so tun, als ob nichts wäre»

Und selbst Atemschutzmasken werden geklaut. Drehen wir etwa ein bisschen durch? (Symbolbild: Adobe Stock)

Schulen werden geschlossen, in Discos tanzen nur noch 50 Nasen und zu unseren Mitmenschen sollen wir einen Sicherheitsabstand halten. Was macht diese Corona-Seuche mit uns? Wir haben bei einem Zuger Psychiatrie-Chefarzt nachgefragt.

zentralplus: Josef Jenewein, die Menschen stürmen Apotheken, klauen Atemschutzmasken und kaufen Regale leer. Man könnte meinen, es seien alle gerade ein wenig verrückt.

Josef Jenewein: Verrückt würde ich es nicht nennen. Die Menschen haben Angst. Diese ist zu einem Teil berechtigt, denn es ist ein neues Virus, von dem wir wenig wissen. Immer dann, wenn wir unsicher sind, haben wir Angst.

zentralplus: Helfen uns der Respekt und die Angst vor dem Virus, weil wir penibel darauf achten, die Ausbreitung im Zaum zu halten – oder verschlimmert Angst nur alles?

Jenewein: Angst ist ein wichtiges Signal, ein sinnvoller Schutzreflex, ja sogar ein überlebenswichtiger Schutz. Angst kann aber auch irrationale Dimensionen annehmen, was man an den Hamstereinkäufen sieht. Wenn das passiert, macht sie alles schlimmer. Denn dann verlieren wir den Realitätsbezug.

zentralplus: Sie sagen, es sei ein überlebenswichtiger Schutzreflex. Weshalb?

Jenewein: Angst bedeutet immer Warnung vor einer Gefahr. Nehmen wir ein einfaches Beispiel aus der Menschheitsgeschichte, als Menschen noch von wilden Tieren bedroht waren: Vor uns steht ein grosses gefährliches Tier, das unser Leben bedroht. Wir kriegen Angst und wägen nicht lange ab, welches Verhalten nun sinnvoll ist, sondern flüchten oder machen uns zum Kampf bereit. Dasselbe passiert, wenn ein Auto auf Sie zufährt: Wenn Sie keine Angst haben und nicht reagieren, werden Sie überfahren. Das Angstgefühl ist wichtig, denn es löst eine Reaktion aus, bringt Sie aus der Gefahr. Im Zusammenhang mit dem Coronavirus führt Angst dazu, dass wir uns vorsichtiger verhalten und uns schützen.

Zur Person

Prof. Dr. Josef Jenewein ist seit 2018 Chefarzt der Klinik Zugersee, dem Zentrum für Psychiatrie und Psychotherapie. Die Klinik Zugersee ist eine Institution der Triaplus AG. Der 50-jährige Josef Jenewein arbeitete 2004 bis 2008 als Oberarzt und ab 2008 als Leitender Arzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsspitals Zürich. Jenewein ist Titularprofessor an der Universität Zürich.

zentralplus: Zu viel Angst oder Sorge um jemanden kann aber auch zu Streit führen. Wenn der Partner einer Asthmatikerin ihr beispielsweise verbieten möchte, den Zug zu benutzen, weil er sie übermässig schützen will und sie dann genervt reagiert. Wie umgehen wir solche Situationen?

Jenewein: Natürlich kann es zu Auseinandersetzungen kommen. Es braucht nun Solidarität. Es ist wichtig, dass jeder und jede von uns Verantwortung übernimmt und sich an die Schutzmassnahmen hält und damit das Risiko für Übertragungen reduziert.

zentralplus: Was macht eine solche Seuche mit der Gesellschaft?

Jenewein: Eine Pandemie bringt grosse Unsicherheit. Wir empfinden eine Grippe als weniger gefährlich, weil wir die Krankheit kennen. Wir können uns dagegen impfen. Unser Körper kann einen Immunschutz gegen Influenza aufbauen, wenn wir schon Kontakt mit ihm hatten. Beim Corona-Virus ist das anders. Das Virus ist neu, wir kennen es zu wenig. Wir wissen, dass jeder, der in Kontakt mit Infizierten kommt und sich nicht schützt, wahrscheinlich angesteckt wird.

zentralplus: Der Bundesrat empfiehlt, Kranke zu isolieren, Gesunde zu schützen – und zu unseren Mitmenschen einen Sicherheitsabstand von zwei Metern zu halten. Welche Folgen hat dieses Social Distancing auf zwischenmenschliche Beziehungen?

Jenewein: Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Es ist sehr komisch. An einem normalen Tag schüttle ich viele Hände in meiner Praxis. Diese Kontaktaufnahme gehört zu einem wichtigen Ritual. Zu Beginn ist es irritierend, Patienten nicht mehr die Hand zu geben. Aber mit der Zeit findet man Alternativen für diese Rituale.

zentralplus: Stören diese Irritationen durch das Social Distancing unser Zusammenleben nicht?

Jenewein: Nein. Wichtig ist aber zu sagen, weshalb man die Hand nicht mehr gibt. Es könnte auch eine Form der persönlichen Abneigung gegenüber jemandem sein, wenn ich die Hand nicht mehr gebe. Zuwendung gegenüber anderen kann ich aber auch anders ausdrücken wie durch Mimik und Gestik. Manchmal ergeben sich daraus humorvolle Situationen. Wenn jemand beispielsweise winkt und jemand anderes eine asiatische Begrüssungsgeste macht.

«Unser Leben wird in den nächsten Wochen noch viel mühsamer.»

zentralplus: Aber es werden auch Dutzende Veranstaltungen abgesagt, der öV soll zu Stosszeiten vermieden werden, man soll zunehmend zu Hause bleiben. Unser Leben wird derzeit ziemlich eingeschränkt.

Jenewein: Ja, das ist so. Die Massnahmen schränken uns ein. Aber sie sind sinnvoll. Wir müssen uns im Klaren sein: Unser Leben wird in den nächsten Wochen noch viel mühsamer. Es wird noch mehr Massnahmen geben, der Einkauf und vielleicht auch der Kinobesuch werden reguliert. Aber alles ist nur vorübergehend und wird sich nach einiger Zeit wieder normalisieren.

zentralplus: Wie wirkt das alles auf unsere Psyche?

Jenewein: Klar nervt es uns. Aber der Mensch ist in der Lage, sich gut an neue Situationen anzupassen. Es geht schliesslich nicht darum, dass wir eingeschränkt werden. Ziel ist es, uns Schutz zu geben. Wir sollten Vertrauen in die Behörden und schliesslich auch in unser Gesundheitssystem haben.

«Wir versuchen, potenzielle Gefahrenquellen zu identifizieren.»

zentralplus: Eine meiner Bekannten hat ein asiatisches Aussehen. Sie erzählte mir, kürzlich habe sie in einem Lebensmittelladen gehustet – und dafür kritische Blicke geerntet. Einige rundum hätten den Schal übers Gesicht gezogen. Weshalb passiert so etwas? Suchen wir zu Zeiten des Corona-Virus permanent nach Sündenböcken, weil jeder jeden anstecken kann?

Jenewein: Ich glaube nicht. Sündenböcke zu suchen heisst ja, Schuldzuweisungen zu machen. Wenn wir unsicher sind und Sicherheit schaffen wollen, versuchen wir aber potenzielle Gefahrenquellen zu identifizieren. Weil das Virus ursprünglich aus China kommt, interpretierten einige Menschen bei Ihrer Kollegin wohl, sie sei kürzlich in China gewesen. Man sollte das nicht persönlich nehmen, es ist eine normale Unsicherheitsreaktion.

«Jetzt alles zu normalisieren, entspannt und stressfrei zu sein, wäre eine Illusion.»

zentralplus: Also sehen wir derzeit jeden als Gefahr, um selbst zu überleben?

Jenewein: Das ist so. Wir können die Verunsicherung nicht ignorieren und nicht schönreden. Damit müssen wir leben. Jetzt alles zu normalisieren, entspannt und stressfrei zu sein, wäre eine Illusion. Wir können nicht so tun, als ob nichts wäre. Aber deswegen müssen wir nicht in Panik leben.

Josef Jenewein ist Chefarzt an der Klinik Zugersee, dem Zentrum für Psychiatrie und Psychotherapie. (Bild: zvg)
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2 Kommentare
  • Profilfoto von Paul Bründler
    Paul Bründler, 14.03.2020, 19:36 Uhr

    Ich finde das mit den «Hamstereinkäufen» nicht so lächerlich. Es gibt gute Gründe dafür.
    Zum Beispiel weil man sich möglichst selten potenziell gefährlichen Kontakten aussetzen möchte, kauft man alles für eine gewisse Zeit auf einmal ein.
    Auch wenn man sich in Quarantäne begeben muss, ist ein Vorrat sinnvoll.
    Ausserdem Leben wir in einer turbulenten Zeit, wo alte «Gewissheiten» in Frage gestellt werden.
    Wer garantiert mir, dass es nächste Woche noch von allem genügend zu kaufen gibt?
    Masken und Desinfektionsmittel gibt es ja schon lange nicht mehr.

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    • Profilfoto von allyourbasearebelongtous
      allyourbasearebelongtous, 14.03.2020, 23:05 Uhr

      Kann ich nur in allen Punkten komplett zustimmen. Zudem ist logischerweise der Zeitpunkt an dem von «Hamsterkäufen» abgeraten wird, ganz genau der Zeitpunkt an dem man allerspätestens umgehend einen «Hamsterkauf» tätigen sollte. Je konsequenter wir in den nächsten Tagen den physischen Kontakt zu anderen Menschen meiden, je schneller haben wir die Lage wieder im Griff, da gehört auch dazu dass man nicht 2 mal pro Tag einkaufen geht sondern so selten wie möglich.

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