Schauspieler Rainer Litten floh vor den Nazis

Wie jüdische Flüchtlinge in Luzern die heile Welt fanden

Eine internationale Clique: Die Mitglieder des Luzerner Stadttheaters (Aufnahme von 1940). In der hintersten Reihe mit dem Kreuz über dem Kopf: Rainer Litten. (Bild: Privatarchiv)

zentralplus ist in die Archive gestiegen und auf die besondere Familiengeschichte der Schauspieler Rainer Litten und Hannelore Eisenbart gestossen. Sie flohen vor den Nazis in die Schweiz. In Luzern bauten sie sich ein neues Leben auf und wurden schnell zu Publikumslieblingen am Stadttheater.

1939 erreicht Rainer Litten die «heile Welt» in der Schweiz. Zuhause in Deutschland war es zuvor unerwartet düster geworden. Eben noch ein viel beachteter Schauspieler hatte sich der Theatervorhang vor ihm urplötzlich zugezogen, die Scheinwerfer waren erloschen. Er schien dazu verdammt, für immer von der Bühne verschwinden zu müssen.

Die Faschisten an der Macht hatten den Entschluss gefasst, ihn aus dem Rampenlicht zu drängen. Er sollte nicht nur allmählich aus den Erinnerungen seiner Zuschauerinnen und Zuschauer verschwinden; seine pure Existenz sollte geleugnet werden, dass niemand mehr sich seines Antlitzes, seines Namens oder seines Talents mehr besinnen möge.

Sein Bruder hat Hitler blossgestellt

Sie schnitten seine Auftritte aus Aufzeichnungen und strichen seinen Namen von Besetzungslisten. Rainer Litten war nicht und ist nicht mehr. Zumindest nicht in der kaputten Welt des Dritten Reichs. Grund für den vehementen Versuch, das begnadete Talent totzuschweigen: Rainer Litten ist der Bruder Hans Littens, jenes Anwalts, der 1931 Adolf Hitler vor ein Berliner Gericht geladen und mit seinen Fragen blossgestellt hatte.

Sonnenburg, Lichtenburg, Buchenwald und schliesslich Dachau – Mithäftlinge werden Hans Litten am 5. Februar 1938 erhängt in der Latrine des Konzentrationslagers auffinden. Um einem ähnlichen Schicksal zu entgehen, flieht Rainer Litten.

Litten findet die Liebe in Luzern

Tschechien, Frankreich, Algerien und schliesslich in die Schweiz. Am Luzerner Stadttheater findet er Zuflucht und teilt sich die Bühne mit der Liebe seines Lebens, Hannelore Eisenbart. Auch sie stammt aus Deutschland. Für sie ist es in der Heimat gefährlich geworden, weil ihr Vater jüdischer Abstammung war.

Zwar starb Oskar van Perlstein schon, als seine Tochter gerade mal fünf Jahre jung war, doch in ihr fliesst nichtarisches Blut. Daran hatte sich auch nichts geändert, als ihre Mutter zum zweiten Mal heiratete und Hannelore den Nachnamen ihres Stiefvaters Carl Onno Eisenbart annahm. Gleich nach ihrer Ausbildung an der Mannheimer Hochschule für Musik und Theater zieht sie deshalb 1937 nach Luzern. Zwei Jahre später begegnet sie hier ihrem Lebensgefährten.

Heil, heiler, Luzern

Virtuos verkörpern die beiden Geliebte, Schöne, Tote und Helden. Die Journalisten der damaligen Zeit ringen um Worte: «mit Anmut und löblicher Verhaltenheit» oder mit ihrer unverkennbaren «Lieblichkeit der Formgebung und Sprache» glänze Eisenbart. «Von erstaunlicher künstlerischer Kraft» oder «gar nicht hoch genug zu loben» seien Littens Darbietungen.

Beifallsdank und Blumenregen, die Sans-Papiers sind Koryphäen. Hannelore Eisenbart und Rainer Litten beeinflussen das Luzerner Stadttheater der Vierzigerjahre massgeblich. Sie vereint Können und Schönheit und die Lebenserfahrung aus einer schwierigen Vergangenheit. Wie sehr Letzteres sie prägt, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen, denn über die Zeit vor Luzern werden die beiden nie sprechen. Auch nicht mit ihren Töchtern.

Staatenlos, aber nicht heimatlos

Am 15. September 1943 wird Claudia Litten geboren. Durch sie wird die heile Welt der Hannelore Eisenbart und des Rainer Litten noch ein Stück heiler. Im Vorjahr erst hatten sie den heiligen Bund der Ehe geschlossen. Ein gemeinsames Kind könnte den Aufenthaltsstatus der Sans-Papiers weiter positiv beeinflussen.

Als Claudia Litten in der Lukaskirche getauft wird, schreibt der Pfarrer deshalb auf ihren Taufschein: «vorläufig ‹staatenlos›, aber nicht heimatlos». Eine Formulierung, welche die Tochter auch Jahrzehnte später noch berühren wird.

Claudia Littens Taufschein. Unter Heimat schreibt der Pfarrer: «vorläufig ‘staatenlos’, aber nicht heimatlos.»
Claudia Littens Taufschein. Unter Heimat schreibt der Pfarrer: «vorläufig ‹staatenlos›, aber nicht heimatlos». (Bild: Privatarchiv)

Die junge Familie lebt sorglos und frei, aber nicht hochmütig. Ausserhalb der Theatersaison suchen sich die Eltern Beschäftigungen in anderen Branchen wie der Gastronomie und Hotellerie. Rainer Litten verkauft Waschmaschinen und Brillen. Hannelore Litten hilft in Gaststätten aus.

Weil sie häufig in der Küche des Hotel Schiller arbeitet, darf sich die Familie in einem der Hotelzimmer einquartieren. Frida Leimgruber, die Besitzerin des Etablissements an der Pilatusstrasse in Luzern, ist mittlerweile eine enge Familienfreundin und deshalb auch Claudia Littens Patin geworden. So unkonventionell der Lebensstil der Luzerner Bohème auch sein mag: Er passt zum damaligen Flair der Stadt.

Den Grossteil des Sommers verbringt die Schauspielerfamilie im Lido. Hungrige Blicke junger Luzerner gleiten suchend über die Strandpromenade in der Hoffnung, einen Blick auf die bildschöne Hannelore Litten zu erhaschen. Ehrfürchtig bleiben sie an Rainer Litten hängen. Ihre Tochter ist noch zu jung, um dem Charme ihrer Eltern zu verstehen, strahlt ihn aber wohl auch selbst aus, wie Fotografien aus dem Familienalbum nahelegen. Das Lächeln auf den Bildern beweist, was Claudia Litten später über ihre Kindheit erzählen wird: «Man hätte vor Freude weinen können.»

Die junge Claudia Litten mit ihren Eltern und ihrer Grossmutter.
Die junge Claudia Litten mit ihren Eltern und ihrer Grossmutter. (Bild: Privatarchiv)

Luzerns Politik stützt die Familie Litten

Die Flüchtlinge in Luzern verdanken ihre Sorglosigkeit nicht zuletzt der damaligen Politik. Stadtpräsident Max Sigmund Wey (FDP) macht sich in den Vierzigerjahren nicht nur für den öffentlichen, sondern auch den Fremdenverkehr stark. Besondere Aufmerksamkeit schenkt er nebst der Tourismusförderung auch der Flüchtlingshilfe, was in der Anstellung vieler Geflüchteten in Kulturinstitutionen spürbar ist.

Paul Eger, der Direktor des Stadttheaters Luzern und als solcher Beauftragter des Stadtrates, ist wie die Littens Deutscher und jüdischer Abstammung. Unter seiner Intendanz stehen neben den beiden Sans-Papiers auch Österreicher, Deutsche, Italiener und Ungarn auf der Bühne. Dem Deutschen Reich missfällt Egers Beschäftigung.

Luzern lässt sich nicht von Deutschland erpressen

Das deutsche Generalkonsulat in Basel teilt dem Luzerner Stadtpräsidenten Wey mit, dass dem Stadttheater keine deutschen Künstler der Reichstheaterkammer mehr zur Verfügung stünden, solange Eger die Leitung habe. Luzern lässt sich nicht erpressen, Eger bleibt.

Auch innerhalb der Landesgrenze sorgen die vielen ausländischen Talente am Luzerner Stadttheater für Gesprächsstoff. Herr und Frau Schweizer befürchten, dass die eigene Theaterkultur zu kurz kommen könnte, obwohl unter Eger durchaus auch einheimische Kunstschaffende auftreten (von den insgesamt 31 Schauspielern sind 14 Schweizer). Man besänftigt die Gemüter mit der Vorführung einer Vielzahl an Dialektstücken.

Litten wird zum Theaterliebling

Eger pflegt das schweizerische Theaterschaffen und nimmt den Zuschauerinnen so während der Vorführungen für ein paar Stunden die Identitätsangst, die im Europa der Vorkriegszeit kursiert. Schauspieler wie Biberti, Kubitzky, Szemere und Litten müssen dabei ab und an ihre Sprachgewandtheit beweisen. Die Passagen auf Mundart liegen nicht allen gleich gut, wie eine Aussage des früheren Intendanten des Stadttheaters Gottfried Falkenhausen nahelegt.

Eine Seite aus dem Familienalbum der Littens: Fotografien, Besetzungslisten, herausragende Theaterrezensionen.
Eine Seite aus dem Familienalbum der Littens: Fotografien, Besetzungslisten, herausragende Theaterrezensionen. (Bild: Privatarchiv)

Für das Stück «Grüezi» habe man glücklicherweise viele Rollen mit Schweizer Schauspielern belegen können, weshalb während der Aufführung fast nur «echtes Schwyzerdütsch» zu hören sei. Nur für Rainer Littens Dialekt müsse man um Verständnis bitten. Dieser spräche ein «Pseudo-Schweizerdeutsch, das er sich irgendwo in Graubünden geholt» habe. Selbst mit Akzent – oder vielleicht genau deshalb – bleibt Litten ein Liebling.

Stadttheater: Kein Akt währt ewig

Idealerweise bliebe alles so, wie es ist. Und nach der offiziellen Einbürgerung der Familie Litten 1948 erscheint dieser Gedanke nicht abwegig. Doch mit dem neuen Jahrzehnt rückt unverhofft Umbruch näher – und die Vergangenheit. «Eine Kindheit wie in einem Märchen», wird Claudia Litten sie beschreiben und mit dieser Aussage ins Schwarze treffen.

Denn wie bei einer guten Geschichte üblich garnieren auch diese hier Konflikte. Sorglos im Restaurant des Hotel Schiller, entspannt im Lido, hie und da benebelt unter Freunden im Tessin erscheint das Leben von Hannelore und Rainer Litten unumstösslich perfekt. Doch die heile Welt ist flüchtig (zentralplus berichtete).

1947 verstarb der Theaterdirektor Paul Eger. Sein Nachfolger Albert Wiesner nimmt nicht nur Änderungen am Programm vor, sondern lässt auch die Verträge zweier deutscher Schauspieler jüdischer Abstammung auslaufen: Hermann Brand und Rainer Litten. Luzern tobt. Es folgt eine Interpellation im grossen Stadtrat, doch die Begründungen für die Entlassung sind unbefriedigend.

Für das Luzerner Tagblatt ein «Regiefehler»: Die deutschen Schauspieler Hermann Brand (rechts) und Rainer Litten müssen die Bühne des Luzerner Stadttheaters verlassen.
Für das «Luzerner Tagblatt» ein «Regiefehler»: Die deutschen Schauspieler Hermann Brand (rechts) und Rainer Litten müssen die Bühne des Luzerner Stadttheaters verlassen. (Bild: Privatarchiv)

Die paradiesische Fassade bröckelt

Während einer Ratssitzung äussert der Stadtrat Paul Kopp «Worte heftiger Kritik am Verhalten der beiden Schauspieler» und bringt Vorwürfe ein, die laut dem «Luzerner Tagblatt» «nicht materiell zu überprüfen wir in der Lage sind.» Sogar von Sabotage ist die Rede. Gleichzeitig spricht Kopp auch von einer «Spielerrotation im Interesse der Bühne».

Die tatsächlichen Beweggründe werden nie offengelegt werden, doch in den darauffolgenden Jahren verlassen mehr und mehr ausländische Talente das Stadttheater. Und so beginnt die heile Welt um Claudia Litten zu bröckeln.

«Exoten im Paradies» ist der erste Teil einer dreiteiligen Serie über das Leben der Familie Litten in Luzern.

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