Luzernerin wuchs in polyamorer Familie auf

Wie es ist, wenn die Eltern mehrere Menschen lieben

Die 18-Jährige Tia ist dann glücklich, wenn es ihre Eltern auch sind. Dass ihre Eltern polyamor leben, damit hat sie kein Problem. (Bild: ida)

Tias Eltern sind polyamor: Seit bald drei Jahrzehnten sind sie verheiratet, beide lieben aber auch andere Partner. Die 18-Jährige erzählt, wie das für sie ist – und was sich seit dem Outing der Eltern verändert hat.

Ein Haus im Grünen, mitten in Luzern: Darin lebt eine Familie, ein Paar mit drei Kindern. Moderatorin Mona Vetsch klingelt, bald schon kommt ihr ein kleiner weisser Hund der Rasse Bolonka entgegen. Eine Familie wie aus dem Bilderbuch zeigt sich im Fernsehen, als Vetsch im Rahmen einer «SRF»-Doku zu Besuch ist.

«Dem Bild einer Bilderbuchfamilie entsprechen wir – von aussen», meint Tia lachend. Ihre Eltern sind polyamor. Chris und Monica leben seit über 30 Jahren zusammen, seit 25 Jahren sind sie verheiratet. Sie haben drei Kinder – zwei Söhne und Tochter Tia. Chris und Monica lieben einander – und zugleich pflegen beide emotionale und sexuelle Beziehungen zu Dritten (zentralplus berichtete).

Für Menschen, die von monogamen Eltern grossgezogen wurden, mag das speziell klingen. Für Tia nicht. Sie kennt nichts anderes.

Die Tochter hatte ihre Vermutungen

Tias Eltern versteckten lange Zeit ihre polyamore Seite – insbesondere als die Kinder jünger waren. Zu gross war die Befürchtung, dass jemand in der Schule oder in der Verwandtschaft Gerüchte in die Welt setzen könnte. Als Tia ungefähr 16 Jahre alt war, erzählten ihre Eltern davon.

Wie ist das für Kinder, wenn Vater und Mutter mehrere Menschen zugleich lieben? Um Antworten darauf zu bekommen, treffen wir Tia an einem sonnigen Herbsttag bei einem Eistee mit Zitronenschnitz im Mardi Gras.

«Für mich war es immer klar, dass es viel mehr als nur Monogamie, Heterosexualität und Cis-Menschen gibt.»

Tia beginnt zu erzählen. Bei einer Autofahrt mit ihren Eltern entstand ein offenes und tiefsinniges Gespräch. Ihre Eltern erzählten von ihren Freunden – und dass das eben mehr als «nur» Freunde sind.

«Sie erklärten mir, dass sie polyamor sind und was das bedeutet – dabei hatte ich schon längst die Vermutung», meint Tia und lacht.

Nach «anderen» Lebensweisen gegoogelt

Schon Jahre zuvor stiess Tia beim Googeln auf den Begriff Polyamorie. «Es gibt Milliarden von Menschen auf dieser Welt. Für mich war es immer klar, dass es viel mehr gibt als nur Monogamie, Heterosexualität und Cis-Menschen.»

Es gebe eben nicht nur «das Eine». Die 18-Jährige konnte nie verstehen, weshalb Menschen etwas gegen andere haben, die nicht gleich wie sie fühlen, lieben und leben. Es ist diese Furcht vor dem Fremden, die sie nicht nachvollziehen kann.

Um möglichst viel über «andere» Lebensweisen zu lernen, googelte Tia als Jugendliche nach Themen rund um LGBT, also Homo-, Bisexualität, Transgender, aber auch alternativen Beziehungsformen. So stiess sie auch auf ein Video, in dem Menschen gezeigt wurden, die polyamor sind. «Ich dachte gleich: Das würde zu meinen Eltern passen!», sagt Tia und lacht.

Es sei die Offenheit ihrer Eltern, alle willkommen zu heissen. Nicht dass Monogame verschlossener seien. Ihre Eltern hätten immer einen grossen Freundeskreis gehabt, neue Leute seien dazugekommen. Sie hätten auch immer offen über alles gesprochen. «Meine Eltern haben sich nie irgendwelche Beleidigungen an den Kopf geworfen, sondern immer alles ausdiskutiert.»

Tia hatte nie Angst, dass sich ihre Eltern trennen würden. (Bild: ida)

Mit den Eltern offen über alles gesprochen; auch über Sex

Gab es den einen Moment, als Tia merkte, dass ihre Eltern anders leben als die Eltern ihrer Freundinnen? Tia verneint.

Bis sie ungefähr 16 Jahre alt war, wusste sie ja auch nicht, dass ihre Eltern andere Partner haben. Wenn sie diese sah, dann nur beim Abendessen. «Für mich waren es einfach Freunde meiner Eltern.»

Doch sie realisierte, dass ihre Eltern eine sehr innige und tiefe Verbindung zueinander haben. «Der Umgang meiner Eltern ist nach all den Jahren nicht weniger liebevoll. Sie halten Händchen, küssen sich, beim Fernsehschauen nehmen sie sich in den Arm.» Das realisierte Tia insbesondere, als ihre Eltern an einem Familienfest von jemanden gefragt wurden, wie lange sie schon zusammen seien. «Er reagierte ganz überrascht, als sie sagten, dass sie seit über 25 Jahren verheiratet sind.»

Und weil Tia weiss, wie innig und wie stark emotional ihre Eltern miteinander verbunden sind, habe sie auch nie Angst gehabt, dass sie sich trennen würden.

Auch in Gesprächen mit ihren Freunden habe sie gemerkt, dass in ihrer Familie vielleicht nicht alles so «typisch» sei. Sie habe immer einen offenen Umgang mit ihren Eltern gehabt – spreche mit ihnen über Sex. «Freunden war es manchmal peinlich, wenn ihre Eltern mit ihnen über Sex und Verhütung gesprochen haben. Und für mich fühlte es sich vollkommen natürlich an.»

Was das «Outing» im Familienalltag auslöste

Seit dem «Outing» ihrer Eltern hat sich für Tia einiges geändert: «Ich habe ein noch engeres Band zu meinen Eltern, seit sie mir anvertrauten, dass sie polyamor sind.»

Sie sei keine Sekunde enttäuscht oder gar wütend gewesen, weil die Eltern es vor ihr zuerst verheimlichten. Viele wüssten nicht, was Polyamorie genau sei und würden Dinge hineinprojizieren. Meinten vielleicht sogar, dass es etwas mit Betrügen zu tun habe.

«Mein Vater und seine Freundin hielten Händchen und küssten sich vor meinen Augen. Für mich war das völlig normal.»

Umso mehr schätzt es Tia, dass ihre Eltern ihr vertrauten. «Schliesslich war es für meine Eltern ein Outing. Es ist ein Teil ihrer Geschichte, die sie ihren Kindern anvertraut haben.» Niemand müsse sich outen. Man tue es, wenn man sich dem anderen gegenüber mehr öffnen und zeigen möchte, wer man sei.

Wenn der Vater Händchen hält mit einer anderen

Tia will die Partner ihrer Eltern kennenlernen – um so ein Stück mehr über ihre Eltern zu erfahren. Anfang dieses Jahres reiste sie gemeinsam mit ihrem Vater Chris und seiner Freundin und deren Tochter für ein Wochenende nach London.

«Mein Vater und seine Freundin hielten Händchen und küssten sich vor meinen Augen. Für mich war das völlig normal.» Und das überraschte sie irgendwie sogar selbst. Denn von der Gesellschaft werde quasi vorgeschrieben, dass die Monogamie das Normale sei. Und dass es ein Kind befremden müsse, wenn der Vater mit einer anderen Händchen haltend durch die Gegend spaziere.

«Klar, zu Beginn habe ich vielleicht ein zweites Mal geguckt», fügt Tia an. «Aber nicht, weil es für mich seltsam war, sondern ungewohnt. Und dann fand ich es herzig.»

«Ich will mir kein Label aufdrücken: Ob monogam oder polyamor, ich finde beides völlig in Ordnung.»

Sie weiss, dass ihre Eltern von den anderen Partnern wissen: «Wenn es für sie in Ordnung ist, warum sollte es dann mich stören?», fragt Tia. Und wenn beide damit glücklich seien, sei sie es auch.

Eifersucht sei kein schönes Gefühl – eigentlich gebe es auch keinen Anlass dazu: «Niemand kann eine Beziehung zwischen zwei Menschen – egal ob Freundschaft oder Liebesbeziehung – ersetzen.» Weil jeder Mensch einen anderen Charakter habe, sei auch keine Beziehung identisch.

Offen, was kommt

Tia selbst weiss noch nicht, ob sie monogam oder polyamor ist und wie sie lieben wird: «Ich will mir kein Label aufdrücken: Ob monogam oder polyamor, ich finde beides völlig in Ordnung und auch gut, dass es beides gibt.»

Sie finde es schade, dass viele versuchten, sich von vorgeschriebenen Definitionen leiten zu lassen. Man versuche, sich, seine Gefühle und sein Leben in Schachteln hineinzudrücken und verliere dabei die Einzigartigkeit einer Beziehung, sagt Tia. «Weshalb sollte man nicht lieben können, auf die Art und Weise, die man in dem Moment mit dieser einen Person hat?»

zentralplus schrieb vor einem Jahr ein Porträt über die Eltern von Tia: Chris und Monica. Hier liest Du, wie die beiden leben und lieben – und weshalb sie polyamor sind.

«Es hat allen gesellschaftlichen Normen widersprochen. Aber es hat sich richtig angefühlt für uns», sagten Chris und Monica. (Bild: ida)
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