Wie ein Behinderter mit YouTube-Videos für mehr Rechte kämpft
Wer mit sich dem 28-jährigen Jahn Graf unterhält, hat nicht das Gefühl, mit einem behinderten Menschen zu sprechen. Im Gegenteil. Der sympathische Chamer wirkt so aktiv und kreativ – und kämpft für die Rechte von Behinderten. Er ist überzeugt, dass sich nur so etwas in der Gesellschaft ändern kann.
Die Tür steht offen. Wer die Wohnung von Jahn Graf in Cham im Häuserblock der von ihm angegebenen Adresse sucht, muss nicht lange suchen. Von drinnen ruft eine wache Stimme: «Kommen Sie nur herein!» Der 28-Jährige kennt keine Berührungsängste und empfängt einen neugierig – im Rollstuhl.
Er leidet an Cerebralparese
Seit seiner Geburt ist Jahn Graf ein Spastiker. Er leidet an Cerebralparese. «Meine Muskeln sind unter Spannung und verhärten sich», erklärt er. Deshalb könne er nicht normal gehen. Er sei aber nicht gelähmt. «Ich spüre meine Beine.» Mit Gehhilfen wie einem Rollator könne er sich auch fortbewegen. «40 Minuten pro Tag kann ich stehen.»
Als er noch klein war, habe man zuerst geglaubt, «dass ich ein faules Kind bin, weil ich mich so wenig bewegt habe.» Später sei ihm aufgefallen, dass ihn andere Leute immer so auffällig anschauten. «Da habe ich meine Mutter gefragt, warum das so ist. Es kann doch nicht nur an meinen roten Haaren liegen», habe er sie gefragt. Sagt’s und grinst.
«Ich finde, mich hat das Schicksal nicht so schwer getroffen.»
Jahn Graf
Seine Mutter habe ihn dann getröstet. Sie habe ihm zwar eröffnet, dass er behindert sei. «Sie meinte aber, das sei nichts Schlimmes, ich sei eben nur anders», sagt Graf. Und lächelt wieder. «Ich finde, mich hat das Schicksal nicht so schwer getroffen.»
Jahn Graf ist wirklich bewundernswert. Wie er mit seiner Behinderung umgeht. Wie er sein eigenes Leben auf die Beine gestellt hat. Seit sechs Jahren wohnt er in einer Parterrewohnung in einem Chamer Quartier. Er geht selbst einkaufen im Neudorf-Center. «Nur bei Grosseinkäufen hilft mir meine Mutter.»
Pasta ist seine Leibspeise
Er kocht auch selbst – was er jetzt noch besser kann, seitdem man die Küchenzeile auf Rollstuhlhöhe angepasst hat. «Mein Vater ist gelernter Koch – das hat wohl abgefärbt», meint der junge Mann, der sich vor allem gerne Pasta macht.
Doch dieses relativ selbständige Dasein reicht Jahn Graf nicht. Er will mehr. Vor allem will er irgendwann einmal sein eigenes Geld verdienen. Momentan lebt er von IV-Rente und Hilflosenentschädigung. Seine KV-Lehre hat er aufgegeben – weil er sein Kommunikationstalent und seine Liebe zu Videos entdeckt hat.
«Jahns rollende Welt» auf Youtube
Schon längst hat er auf Youtube seinen Blog «Jahns rollende Welt» etabliert – zwischen 50 bis 70 Videofilme hat er bereits aufgenommen (siehe Video). Mit seinen Filmen will er auf die Situation von Behinderten aufmerksam machen. Auf ihre Rechte. Ihre Probleme. Aus diesem Grund hat er Interviews mit den verschiedensten Personen gedreht. Zuvor waren Filmkritiken seine grosse Leidenschaft. Er hat schon zahlreiche Follower.
Zur Illustration spielt er einige Videos auf dem Bildschirm im Wohnzimmer ab. Er hat andere Behinderte befragt. Er hat Videos mit seiner Mutter und seiner 21-jährigen Schwester Susanne gemacht. Er hat auch Polit-Promis wie Manuela Weichelt, die Zuger Frau Landammann, interviewt.
«Sie ist wirklich gut, weil sie für das Thema Behinderte sensibilisiert ist.» Überhaupt sei der Kanton Zug sehr fortschrittlich und bereit, neue Wege zu gehen – indem man demnächst Behindertenrechte während einer Veranstaltung thematisiere.
Bei diesem Event tritt Graf selbst auf dem Podium auf. Publicity hat Graf schon durch seinen Besuch bei Aeschbacher im Fernsehen sowie durch ein Porträt über ihn in der Schweizer Illustrierten erfahren (siehe Box).
«Am meisten stört mich, dass Behinderte grundsätzlich zu wenig ernst genommen oder gar nur als Bittsteller empfunden werden.»
Jahn Graf
Grafs grosses Ziel ist es, 100 Prozent Barrierefreiheit für Behinderte durchzusetzen. Das heisst für ihn nicht nur schwellenfreie Wohnungen, abgeschrägte Gehsteige und Behinderten-WCs. Er will generell unter den «Fussgängern» – wie er Nichtgehbehinderte nennt – ein Bewusstsein für die Anliegen von Behinderten wecken.
Wenn die Behindertentoilette zum «Putzkämmerchen» umfunktioniert wird
Es stört ihn nämlich, wenn er etwa sieht, dass in einem Restaurant die Behindertentoilette mangels Nachfrage zum «Putzkämmerchen» umfunktioniert wird. Am meisten stört ihn aber, «dass Behinderte grundsätzlich zu wenig ernst genommen oder gar nur als Bittsteller empfunden werden». Oder dass vor Wahlen seitens mancher Politiker behinderte Menschen als reiner Kostenfaktor eingestuft werden. Sozialdetektive findet er skandalös.
«Um solche Missstände zu ändern, müssen wir Behinderten rausgehen und für unsere Anliegen kämpfen», ist er überzeugt. Denn behindert zu sein sei nichts Schlimmes, sagt Graf.
«Behinderte Menschen sind nicht schlechter als andere Menschen – nur eben anders.» Allerdings will der 28-Jährige, der sich inzwischen als eine Art Behinderten-Influencer sieht, «nicht allein in die Schlacht der Sensibilisierung der Öffentlichkeit für Behinderte ziehen.» Er sei zwar ein Rebell, aber andere Behinderte müssten sich auch integrieren und sich einbringen.
«Da fragte mich doch mein 82-jähriger Zimmergenosse, ob es mir eigentlich nicht lieber wäre, aufgrund meiner Behinderung zu sterben.»
Jahn Graf
Wobei Jahn Graf einräumt, dass er als Behinderter im Alltag wenig von Einzelpersonen angepöbelt oder diskriminiert werde. Allerdings würden Behinderte wie er von der Generation 60plus oft wie «Schmarotzer» wahrgenommen – «weil diese Generation für dieses Thema einfach nicht sensibilisiert ist».
Sagt’s und erzählt von seinem Erlebnis in der Reha nach seiner gefährlichen Operation 2015 – als ihm eine Niere geplatzt sei und er knapp überlebt habe.
«Da fragte mich doch mein 82-jähriger Zimmergenosse, ob es mir eigentlich nicht lieber wäre, aufgrund meiner Behinderung zu sterben», schildert Graf. Zuerst sei er ob dieser Frage total schockiert gewesen. Dann habe er dem Mann seine Situation und sein Leben als Behinderter geschildert. «Am Ende waren wir beste Freunde.»
Am 10. und am 13. Juni: Zuger Thementage zu Behindertenrechten |
Seit Anfang 2017 führt das Kantonale Sozialamt im Auftrag der Regierung das Projekt InBeZug durch. Ziel ist die Verbesserung des Unterstützungssystems für Menschen mit Behinderung im Kanton Zug. Ihre Selbständigkeit, Teilhabe und Eigenverantwortung sollen gestärkt werden. Daneben sollen die Kantonsfinanzen gezielter und wirkungsvoller eingesetzt werden können. Das Projekt schafft die Grundlagen dafür, dass das momentane System der pauschalen Einrichtungsfinanzierung langfristig individueller und bedarfsabhängiger ausgestaltet werden kann. Genau dafür steht der Name InBeZug: «Individuelle und bedarfsabhängige Unterstützung für Zugerinnen und Zuger mit Behinderung». Das Projektteam analysiert insbesondere das Potenzial von subjektorientierten Finanzierungsformen. Die Thementage finden am 10. Juni um 10 Uhr im Kino Gotthard und am 13. Juni um 19 Uhr im Burgbachsaal statt. Bei der Matinee im Kino wird der bekannte Filmregisseur Rolf Lyssy («Die Schweizermacher») anwesend sein und in seinem Film «Ursula – Leben in Anderswo» die Lebensgeschichte einer taubblinden Frau erzählen. Reservationen unter [email protected]. Die Podiumsdiskussion im Burgbachsaal, an der auch Jahn Graf teilnimmt, wird Nik Hartmann moderieren. |