«Leichentücher»-Aktion in Luzern

Wichtig, witzig oder widerlich?

Die Luzerner Passanten reagieren mit Entrüstung oder Respekt auf die Aktion. (Bild: jav)

Bereits das dritte Mal lagen diesen Dienstag in Luzern Menschen unter weissen Leintüchern auf der Strasse. Die Aktion «just one minute» einer Luzerner Künstlerin wird aber auch in anderen Städten durchgeführt. Aufmerksamkeit für die Flüchtlinge ist das Ziel – die Passanten reagieren teilweise extrem.

An der Seepromenade eine Glace geniessen, oder einen kurzen Spaziergang in der Mittagspause – und plötzlich liegen dort Menschen unter weissen Tüchern – als wären Leichen aufgereiht.

«just one minute» heisst die Aktion der international tätigen Sempacher Performance-Künstlerin Beatrice Fleischlin (zentral+ berichtete). Untestützt wird die Künstlerin für dieses Projekt von Theaterhäusern und Freiwilligen. In Luzern begonnen, fand die Aktion nun bereits auch in Basel, Bern, Zürich und Berlin statt.

An diesem Dienstag, beim dritten Mal «just one minute» in Luzern, hat zentral+ vor allem den Passanten zugehört. Und diese reagierten äusserst unterschiedlich.

Grosser Ärger

Kaum haben sich die Eingehüllten in Position gebracht, bleiben zwei junge Mütter mit den Kinderwagen stehen. Sie sind entsetzt.

«Wir Schweizer machen schon so viel für die Ausländer.»
Passantin

«Das ist unter aller Sau. Makaber ist das», regt sich die eine Mutter auf. Ihre Kollegin stimmt zu und findet: «Gerade hier bei uns ist das eine Sauerei. Wir Schweizer machen schon so viel für die Ausländer. Und die dealen mit Drogen auf den Schulhausplätzen.» Eine hitzige Diskussion entbrennt, über kriminelle Ausländer, Sozialschmarotzer, Sicherheit und darüber, was man man als Schweizer tun müsse.

Auch zwei Herren schalten sich ein. Besonders für die Kinder sei das eine Zumutung, wenn nicht sogar traumatisch. Was denn das Ziel sei. Provozieren? Schockieren? «Helfen muss man ja, aber das hier hilft niemandem», ärgert sich der eine Mann.

Begeisterung

Eine ältere Dame liest derweil das Plakat aufmerksam durch. Sie zeigt sich begeistert und stellt sich eine Weile ruhig neben die Liegenden. «Es ist gut, wenn Leute aktiv etwas tun, um aufzurütteln», betont sie.

«Es ist wichtig, dass wir uns daran erinnern, wie gut es uns geht.»
Tourist

Auch ein älteres Touristenpaar aus Deutschland ist begeistert. «Die haben schon recht. Es ist wichtig, dass wir uns daran erinnern, wie gut es uns geht und wie viele nicht dieses Glück haben.»

Die Bank gleich neben der Aktion ist noch leer. Zwei junge Männer nähern sich. «Wollen wir hier essen? Es liegen einfach ein paar Leichen daneben», witzelt der eine. Doch nach ein paar Minuten suchen sich die beiden doch einen neuen Sitzplatz. «Ist irgendwie seltsam», sagen sie beim Weggehen. Doch die Bank ist schnell wieder besetzt.

Sprücheklopfer

Viele Passanten riskieren nur einen Blick. Erst mit einer gewissen Entfernung beginnen sie zu kommentieren. Einige rufen den Liegenden zu: «Machen die Linken mal wieder ein Demo?», oder «Die sollen besser helfen, statt uns hier zu belästigen. Uns den Tag zu verderben.»

«Warum tun die sowas? Das ist nicht lustig», sagt eine junge Frau entsetzt im Vorbeigehen zu ihren Kolleginnen. Andere scheinen es hingegen lustig zu finden. Ein Velofahrer bekreuzigt sich sarkastisch im Vorbeifahren und ruft den Liegenden «In nomine Patris et Fillii et Spiritus Sancti» zu. Ein anderer: «Das nenn ich Kunst.»

«Was kann ich dafür?»

Andere beginnen zu diskutieren: «Da kann ich doch nichts dafür. Da muss die Regierung etwas machen, Europa.» Oder: «Natürlich läuft vieles falsch, aber was soll ich denn machen? Warum machen die diese Aktion nicht da, wo die es sehen, die es betrifft?»

Viele Passanten weichen von Weitem schon aus und machen einen grossen Bogen. Einzelne schütteln den Kopf oder verdrehen die Augen. Andere gehen nochmals zurück und lesen  die Plakate durch. Viele fotografieren.

Einige Passanten beginnen einander die Plakate in andere Sprachen zu übersetzen. Von der vorhandenen englischen und der deutschen Variante ins Italienische, Spanische, Indische und so weiter. Viele fragen sich auch im Vorbeigehen, ob da tatsächlich echte Menschen drunterliegen. Einige erschrecken auch, wenn sie, ins Gespräch vertieft, die Liegenden erst spät entdecken.

Aufmerksamkeit

Andere Passanten bringen die Aktion mit einer anderen, kürzlich in Luzern gestarteten, in Verbindung: «Es wurden ja auch solche Gräber aufgestellt, um der Flüchtlinge zu gedenken», erklärt eine ältere Passantin ihrer jungen Begleiterin.

Beatrice Fleischlin

Beatrice Fleischlin

Auch die Polizei schaut kurz vorbei, hält sich aber in einiger Entfernung auf und verlässt den Platz nach einigen Minuten wieder. Eine Bewilligung wurde im Vornherein eingeholt, Probleme bei der Aktion gibt es keine. Nur eine Person traut sich tatsächlich, der einem Liegenden in die Zehen zu kneifen.

Nach einer Stunde ist die Aktion vorbei, die drei Personen tauchen verstrubelt und mitteilungsbedürftig von unter den Laken auf. Es sei wirklich nicht einfach, auf die Reaktionen der Leute nicht antworten zu können.

Das nächste Mal will sie wieder mehr Leute für die Aktion in Luzern anfragen, so die Künstlerin Fleischlin zum Schluss, während sie auf dem Handy checkt, wie die Aktion in Basel gelaufen ist. An beiden Orten ist alles ohne Zwischenfälle verlaufen, die Künstlerin ist zufrieden. So soll es weitergehen. Denn Fleischlin will noch viel mehr Menschen mit ihrer Aktion erreichen und sie daran erinnern, wie viele Menschen ihr Leben verlieren – auf der Suche nach einer glücklicheren Zukunft. 

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