Seit 27 Jahren sammelt und malt die Künstlerin Cornelia Hesse-Honegger Wanzen im Umfeld von AKWs: missgebildete, verkrüppelte, geschädigte. 17’000 Wanzen stark ist ihre Sammlung, über 300 Aquarelle hat sie gemalt. Ihre Bilder wurden in Museen auf der ganzen Welt gezeigt. Die vergangenen sechs Jahre sammelte die Künstlerin im Entlebuch. Und auch hier hat sie Insekten entdeckt, die nach ihrer Meinung durch Radioaktivität missgebildet wurden.
«Ich bin verzweifelt», sagt sie am Telefon, gefolgt von einem tiefen Seufzer, «und weiss nicht wie weiter.» Seit 27 Jahren ist Cornelia Hesse-Honegger auf einer persönlichen Mission. Seit 1986, als der Reaktor des Kernkraftwerks in Tschernobyl explodierte. Sechs Jahre lang hat sie an ihrem aktuellen Projekt im Entlebuch gearbeitet – und weiss nun einfach nicht, was sie damit machen soll. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie kurz davor ist, aufzugeben.
Im Entlebuch während sechs Jahren über 1’600 Wanzen gesammelt
Cornelia Hesse-Honegger, 68 und naturwissenschaftliche Zeichnerin aus Zürich, nennt sich «Wissenskünstlerin»: An der Grenze zwischen Kunst und Wissenschaft sammelt sie seit Jahrzehnten missgebildete Wanzen, untersucht sie unter dem Mikroskop und malt sie als Aquarelle. Für ihr aktuelles Projekt im Entlebuch hat sie seit 2007 über 1’600 Wanzen gesammelt, an 25 Standorten verteilt im ganzen Tal: Von Ruswil bis zur Rothorn-Station. Diesen Sommer hat sie das Sammeln abgeschlossen. Jetzt malt sie die Bilder: Von jedem Standort jeweils eine Wanze.
Cornelia Hesse-Honegger ist als Künstlerin bekannt für ihre Bilder, die in Museen auf der ganzen Welt gezeigt wurden: Die hyperrealistischen Aquarelle sind von schauriger Anmut: Erst auf den zweiten Blick erkennt man, wie die Schönheit dieser winzigen Tiere durch Missbildungen durchbrochen wird. Die Malerin hat dafür eine eigene Technik entwickelt und perfektioniert. Für ein Bild braucht sie gut und gerne einen Monat. Eine Perfektionistin sei sie, jedes Farbpigment wird abgebildet, kein Detail ausgelassen. Dabei muss es unter dem Mikroskop durchaus schnell gehen: Die Wanzen verschrumpeln bald, ihre Farben ändern sich dabei.
AKW-Strahlung sei für Missbildungen verantwortlich
Sie ist aber noch bekannter für ihre Überzeugung, den Verdacht, den sie seit der Katastrophe von Tschernobyl hegt: Künstliche, radioaktive Strahlung sei für die Missbildungen verantwortlich. Eine These, die Genetiker und Zoologen stets ablehnen.
Hesse-Honegger hat im Sperrgebiet von Tschernobyl gesammelt, im Tessin und in Schweden, wo als Folge der Reaktorkatastrophe radioaktiver Niederschlag den Boden kontaminierte und im Umfeld von Schweizer Kernkraftwerken. Und überall fand sie das gleiche Bild: Wanzen mit Missbildungsraten von 10 bis 30 Prozent. Der Anblick der geschädigten Insekten löste in ihr einen Schock aus. Sie wollte dieses «Drama», wie sie es nennt, mit ihren Bildern offen legen.
Vor über 40 Jahren begann Cornelia Hesse-Honegger damit, Insekten zu zeichnen und zu malen. «Wenn ich diese winzigen Tiere mit Hilfe der Binokularlupe male, finde ich extremen Frieden», sagt Hesse-Honegger. Der Mikrokosmos dieser Mini-Tiere fasziniere sie und erlaube ihr eine andere Sicht auf die Welt. Eine Sicht, die mit blossem Auge sonst nicht möglich sei. Am zoologischen Institut der Universität Zürich hat sie ihr Handwerk erlernt: beim Zeichnen von Drosophila-Fliegen, die durch gentechnische Versuche oder Bestrahlung verändert waren. Das Wissen, was Bestrahlung anrichten kann, hat sie nach der Katastrophe von Tschernobyl nicht mehr losgelassen.
Heftige Kritik auf Hesse-Honeggers Verdacht
Mit ihren ersten Aquarellen missgebildeter Wanzen, die Cornelia Hesse-Honegger im Umkreis von Schweizer AKWs entdeckte, löste sie damals, 1989, einen medialen Sturm aus: Das «Magazin» des »Tagesanzeigers» publizierte sie unter dem Titel «Der Verdacht» zusammen mit einem Text, in dem Hesse-Honegger die chronische Niedrigstrahlung der AKWs für die Missbildungen verantwortlich machte. Eine heftige, nationale Diskussion folgte, in der Hesse-Honegger von erzürnten Wissenschaftlern aufs schärfste kritisiert wurde: «Panikmache» wurde ihr vorgeworfen und unhaltbare, unwissenschaftliche Methoden, die Strahlungsbelastung sei viel zu gering und sowieso hätte Hesse-Honegger keine Wanzen aus Vergleichsbiotopen untersucht.
Der heftige Widerstand, die offene Ablehnung – das motivierte Hesse-Honegger umso mehr. Sie sammelte weiter, systematischer dieses Mal, an weiteren AKW-Anlagen in Europa und den USA. An ihre These glaubte sie weiterhin, legte ein Buch nach. Das zwang sogar das Bundesamt für Gesundheit zu einer Stellungnahme: radioaktive Bestrahlung von Fliegen im Labor erhöhe die Mutationsrate in so geringer Weise, dass der Effekt in der Natur nicht nachgewiesen werden könne. Genauso gut können Herbizide oder mechanische Verletzungen die Missbildungen verursacht haben.
1993 legte Johannes Jenny, damals Doktorand an der ETH, eine Dissertation zu Hesse-Honeggers Funden vor. Sein unspektakulärer wie einfacher Befund: Hohe Missbildungsraten habe es immer schon gegeben – zumal bei den gesammelten Feuerwanzen. Und sie würden als flugunfähige Insekten auch gut damit leben können. Missbildungen an fliegenden Insekten gebe es auch, jedoch seltener. Und: Es gebe «keine Hinweise auf eine erhöhte Missbildungsrate in der Nähe von Schweizer Kernreaktoren im Vergleich zu entfernten Gebieten». Am meisten missgebildete Wanzen hat Jenny dabei in Städten entdeckt – und nicht in der Nähe der AKWs. Damit war Hesse-Honeggers These wissenschaftlich offiziell begraben.
Die Künstlerin glaubt weiterhin an ihre These
«Das kann man so doch nicht stehen lassen», sagte sich Cornelia Hesse-Honegger. Die Arbeit sei schlecht gemacht, warf sie Jenny vor, die gesammelten Wanzen seien die falschen gewesen, man hätte Forschungsdaten zurückgehalten. Und sowieso: «An der ETH wird meines Wissens eine Professur von der Atomindustrie bezahlt», sagt sie. Wissenschaftler würden sich nicht getrauen, die Gefahren der künstlichen Niedrigstrahlung zu untersuchen – aus Angst, sie könnten ihren Job verlieren. Darum würde man nicht weiter in die Richtung forschen. Immer wieder hat sie sich an Wissenschaftler gewendet, doch die winkten alle ab. Seither vermutet sie alle gegen sich: Wenn es um Atomkraft gehe, werde «generell überall gelogen», sagt sie. Sie verstehe nicht, warum in der Schweiz niemand endlich dieser Sache auf den Grund gehe mit einer breit angelegten, wissenschaftlichen und unabhängigen Forschung. «Ich kann mit meinen Bildern nur zeigen, was wirklich ist.»
Johannes Jenny arbeitet heute als Geschäftsführer bei Pro Natura Aargau – eine Organisation, die keineswegs als AKW-freundlich bekannt ist: «Ich glaube, hinter dem Desinteresse an Cornelia Hesse-Honeggers Funde steckt kein böser Wille», sagt er. «Anders als Frau Hesse interpretiere ich das nicht als Affront oder «Verschwörung» gegen sie.» Vielmehr sei mittlerweile die Gefährlichkeit der Radioaktivität und das Gefahrenpotential im Gegensatz zu damals gar nicht mehr umstritten. «Ich vermute, dass die Frage die Mehrzahl der Bevölkerung und der Wissenschaftler einfach nicht mehr so interessiert wie damals.»
Und damals hatte Jenny viel Gehör für Cornelia-Hesse, aufgrund ihrer eindrücklichen Bilder gingen seine Vermutungen gar in ihre Richtung. Doch die allgemeinen «Erwartungen eines spektakulären «Ja» oder eindeutigen «Nein» musste ich enttäuschen: Das ernüchternde, unspektakuläre Resultat liess sich in keine Richtung instrumentalisieren».
Und dann zitiert er Dr. Ludwig, Weber, der 1897 über Missbildungen bei Käfern in der «Illustrierten Wochenschrift für Entomologie» schrieb: «Für den einheimischen Sammler, welcher auch den «Krüppeln» seiner Sammlung etwas Aufmerksamkeit schenkt, dürfte es nicht schwer fallen, solche Difformitäten öfters aufzufinden». Denn schon im 19. Jahrhundert bestand mit der Teratologie ein eigener Wissenschaftszweig, der sich ganz den Ursachen von Fehlbildungen durch Umwelteinflüsse widmete – und viele Wissenschaftler beschäftigte. Damals wurden unzählige missgebildete Insekten gesammelt und beschrieben. Jenny sieht Cornelia Hesse-Honegger in der Tradition dieser Forscher. Oder anders gesagt: Wer sucht, der findet.
Es geht um ihr Lebenswerk, um 17’000 gesammelte Wanzen
Cornelia Hesse-Honegger aber wollte, ja konnte nicht aufhören. Es geht um ihr Lebenswerk: um mittlerweile 17’000 Wanzen aus verschiedenen Teilen der Erde, die sie säuberlich nummeriert und aufgespiesst in insgesamt 15 Glaskästen in ihrem Schlafzimmer lagert. «Es gibt keine vergleichbare Sammlung mit Insekten aus verschiedenen atomverseuchten Gebieten», sagt Hesse-Honegger – und klingt stolz dabei. Hartnäckig kämpft sie weiter mit ihrer «Wissenskunst» über Wanzen gegen die Atomkraft. Kann man diese ganze Arbeit einfach so wegwerfen? Oder die Argumente ignorieren und weitermachen?
Immer wieder habe sie sich hinterfragt, ihre Freunde würden sie als «gspunne» und «dure-bi-rot» bezeichnen, sagt sie. Jetzt frage sie sich nicht mehr, fühle sich endlich bestätigt: Forscher haben nach der Reaktorkatastrophe in Fukushima von 2011 Schmetterlinge mit schweren Mutationen und Missbildungen entdeckt – die radioaktive Strahlung aus dem AKW Fukushima sei eindeutig dafür verantwortlich.
Cornelia Hesse-Honegger ist derweil überzeugt, eine weitere Erklärung für Missbildungen an Insekten gefunden zu haben: Nicht die Nähe zu einem AKW ist entscheidend, sondern die Hauptwindrichtung, in die künstliche Radionuklide getragen werden, um sich dann in der Natur abzulagern. Davon ist sie durch ihre Sammlungen im Entlebuch überzeugt: Denn auch dort seien die Missbildungsraten erstaunlich hoch: zwischen 10 bis 30 Prozent. «Das Entlebuch liegt direkt in Windrichtung der Aargauer Kernkraftwerke und des Paul-Scherrer-Instituts, wo radioaktiver Müll verbrannt wird», sagt sie. Die Bise bringe die künstliche Radioaktivität somit in eine Gegend, die als intakt und nachhaltig bewirtschaftet gelte. Nicht einmal dieser Ort sei also gefeit von den negativen Auswirkungen der Atomindustrie.
Nach all den Jahren hat sich bei Hesse-Honegger etwas angestaut: «Ich bin extrem wütend», sagt sie. Auf die Atomindustrie und die Politiker, die so tun, als hätte es Tschernobyl nie gegeben. Auf die Wissenschaftler, die die Gefahren immer noch ignorieren und verneinen würden. Und sogar auf die Bevölkerung, die eigentlich wisse, wie gefährlich die Radioaktivität aus unseren Atomanlagen sei, dazu aber schweige und alles ertrage. Ihren Wutausbruch hat sie zwischen zwei Buchdeckel gepackt: Nächstes Jahr soll ein Buch von ihr erscheinen über kriminelle Machenschaften in der Atomindustrie. Es ist ihre persönliche Generalabrechnung.